In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts veränderten die Vereinten Nationen ihr Gesicht und ihren Charakter. Mit fortschreitender Dekolonisierung wuchs die Mitgliederzahl binnen weniger Jahre von ursprünglich 51 Staaten fast um das Dreifache. Damit verlagerte sich das Kräfteverhältnis – zumindest galt dies für die Generalversammlung, nicht jedoch für den fünfköpfigen Sicherheitsrat – von den früheren Kolonialmächten auf die ehemals Kolonisierten. Nach dem tödlichen Flugunfall Dag Hammarskjölds im Herbst 1961 übernahm außerdem mit dem Burmesen Sithu U Thant erstmals ein antikolonialer Freiheitskämpfer und Vertreter des postkolonialen Südens das Amt des Generalsekretärs. Dieser Wandlungsprozess, der von Zeitgenossen als Entstehung einer „Third World UN“ wahrgenommen wurde1, hatte auch Auswirkungen auf die menschenrechtspolitische Arbeit der Weltorganisation, die nun einen im Ganzen deutlich höheren, sichtbareren Stellenwert erhielt.
Steven L. B. Jensens 2016 erschienene Studie zur UN-Menschenrechtsarbeit versteht sich als Beitrag zu einer jüngeren historiografischen Debatte, in der es um Periodisierungsfragen und den wachsenden Einfluss postkolonialer Akteure auf die Menschenrechtsentwicklung geht. Der Autor hält die Sechziger für eine „vergessene Dekade“ der Menschenrechtsgeschichtsschreibung (S. 6), die zu Unrecht im Schatten der Vierziger und Siebziger stehe. Zum anderen geht er davon aus, dass es in erster Linie die postkolonialen Staaten gewesen seien, die dem Projekt durch ihr mehr oder weniger konzertiertes Vorgehen neues Leben eingehaucht hätten. Dadurch, dass sie die Menschenrechte in einen größeren Prozess der Rechtsfortentwicklung und Normsetzung auf dem Gebiet des internationalen Rechts eingebettet hätten, seien in diesem Brückenjahrzehnt entscheidende Grundlagen gelegt worden, an die Mitte der siebziger Jahre im Zusammenhang mit der KSZE-Schlussakte wieder angeknüpft werden konnte. Vor diesem Hintergrund lägen die Ursprünge Helsinkis weniger im KSZE-Prozess selbst als in den menschenrechtspolitischen Offensiven der neuen UN-Mitgliedsstaaten, die sich mit dem Recht auf politische Selbstbestimmung, mit der weltweiten Ächtung von Apartheid und Rassismus sowie mit den Problemen rassistischer und religiöser Diskriminierung durch die Einzelstaaten befasst hätten. Mit diesen Ausgangsthesen wendet sich Jensen ausdrücklich gegen eine Form der Geschichtsschreibung, die er als „Big Bang historiography“ kritisiert (S. 11). Statt von einem „Durchbruch der Menschenrechte“ zu sprechen, wie es etwa Samuel Moyn in seinem vielbeachteten Buch „The Last Utopia“ tut2, komme es laut Jensen darauf an, die Fülle an unterschiedlichen Bezugspunkten herauszuarbeiten und den eher prozesshaften Aushandlungscharakter der Menschenrechtsentwicklung in den Vordergrund zu rücken (S. 14).
Nach zwei einleitenden Kapitel, die die UN-Menschenrechtsentwicklung seit den vierziger Jahre nachzeichnen und eine nuanciertere, menschenrechtlich gefärbte Lesart der Resolution 1514 über die „Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“ vom Dezember 1960 bieten, widmet sich der Autor den Schwerpunkten der postkolonialen Menschenrechtsarbeit. Gemäß einer an E.P. Thompson angelehnten Grundannahme, der zufolge neben den strukturellen Bedingungen auch die Akteure als Motoren historischer Entwicklung ernst zu nehmen sind, widmet er sich zunächst der Frage, wie die kleine Karibikinsel Jamaica zu einem Aushängeschild der internationalen Menschenrechtspolitik werden konnte. Ausschlaggebend dafür sei unter anderem gewesen, dass die ehemalige britische Kolonie bereits vor der Entlassung in die Unabhängigkeit Handelssanktionen gegen Südafrika verhängt habe, was ihr nicht nur innerhalb des Commonwealth den moralischen Nimbus eines Vorkämpfers gegen Apartheid und Rassismus eintrug. Hinzu kam, dass der erste Regierungschef Norman Manley bereits seit den frühen Fünfzigern mit der International League for the Rights of Man verbunden war. Mit Egerton Richardson verfügte Jamaica zudem über einen UN-Botschafter, der das Vertrauen vieler afrikanischer Staaten, der US-Regierung und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) genoss. Dies erlaubte es, so unterschiedliche Agenden wie die Friedenssicherung, die Reformierung der internationalen Handelsbeziehungen oder eben die Menschenrechte mit gleicher Intensität zu verfolgen. Zu den wichtigsten Ergebnissen des jamaikanischen Menschenrechtsengagements zählte der Vorschlag, anlässlich des 20. Jahrestags der UN-Menschenrechtserklärung eine internationale Konferenz durchzuführen, die neben einer Bestandsaufnahme auch Zielvorgaben für die Zukunft erarbeiten sollte. Dies war laut Jensen Teil einer übergreifenden Strategie, die Menschenrechte und das Völkerrecht in eine Weltrechtsordnung zu überführen, die maßgeblich von den Vereinten Nationen repräsentiert werden sollte.
In zwei weiteren Kapiteln schildert der Autor sodann die Bemühungen der afrikanisch-arabisch-asiatischen Gruppe, das eigene antikoloniale Profil zu schärfen, indem man die Problematik der rassistischen und religiösen Diskriminierung in den Mittelpunkt der UN-Menschenrechtsarbeit stellte. Rechtliche Anknüpfungspunkte für die Verabschiedung einer Konvention gegen Rassendiskriminierung ergaben sich aus der Resolution 1514, während die antisemitischen Ausschreitungen von 1959/60 einen aktuellen Anlass boten. Letztere waren nicht nur ausschlaggebend dafür, dass sich die UN-Unterkommission gegen Diskriminierung dem Rassenhass annahm, sondern erklärt auch, warum die Vereinigten Staaten überwiegend wohlwollend reagierten, als neun franko-afrikanische Staaten eine entsprechenden Initiative in der UN-Generalversammlung einbrachten.
Der Verfasser vertritt die Auffassung, die Konvention sei eine entscheidende Etappe auf dem Weg zu fortschreitender Verrechtlichung und Institutionalisierung der Menschenrechte gewesen. Diese Interpretation stützt sich in erster Linie auf die rechtsimmanenten Logiken und Semantiken des Präzedenzfalls, auf den sich in der Tat viele Delegierte bezogen. Jedoch sagt dies noch wenig über die dem Antrag zugrunde liegenden Absichten aus. Während Jensen die positiven Wirkungen der antikolonialen Initiative unter anderem darin sieht, dass sie die zunehmend verletzlicheren USA zu einem selbstkritischeren Umgang mit der nationalen Segregationspolitik angehalten hätten, verkennt er die exkludierenden und hierarchisierenden Aspekte der Konvention. So zielte diese nicht nur darauf, im Zeitalter des erwachenden Holocaust-Bewusstseins eine Rangfolge zwischen kolonialem und antisemitischem Rassismus einzuführen, sondern sie wollte damit auch einen Keil zwischen die USA und ihren Verbündeten Israel treiben. Wie zuletzt Jan Eckel gezeigt hat, kulminierte diese in den sechziger Jahren einsetzende Politik einer „Aussonderung Israels“ später in der berüchtigten, 1975 verabschiedeten Zionismus-Resolution des UN-Wirtschafts- und Sozialrats.3
Die Tendenz, die postkoloniale Menschenrechtsarbeit der Vereinten Nationen vor allem unter dem relativ eng gefassten Aspekt der Normenfortbildung zu betrachten, weiterreichende Fragen nach Legitimität, Repräsentativität und Geltungskraft von Menschenrechten aber auszusparen, setzt sich auch in den folgenden Kapiteln fort. So beschreibt Jensen die Teheraner Menschenrechtskonferenz von 1968 als „strategischen Markstein“ und „Kulminationspunkt“ der UN-Menschenrechtspolitik (S. 176), der eine entscheidende Brücke zur KSZE-Schlussakte und zu dem Aufkommen von transnationalen Menschenrechts-NGOs gebildet habe. Argumentativ stützt er sich dabei vor allem auf eine von Egerton Richardson eingebrachte Resolution, deren innovative Bedeutung darin lag, dass sie die Menschenrechte und das humanitäre Kriegsvölkerrecht miteinander verknüpfte. Ungeachtet dieses Erfolges wird Teheran aber nicht nur in der Forschung als Rückschlag eingestuft, sondern auch die Zeitgenossen selbst bemerkten die sich ständig vergrößernde Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Wie der Autor selbst einräumen muss, mehrten sich gegen Ende des Jahrzehnts die Anzeichen dafür, dass sich die postkolonialen Staaten verstärkt vor den unerwünschten Rückwirkungen der Menschenrechtspolitik abzuschirmen suchten. So lehnte es beispielsweise die jamaikanische Regierung unter Hugh Shearer 1968 ab, die ausufernde Polizeigewalt im Lande durch eine nationale Menschenrechtskommission untersuchen zu lassen.
Die Stärken von Jensens Studie treten immer dort zu Tage, wo es ihm – wie im Falle Jamaikas – gelingt, die menschenrechtspolitischen UN-Initiativen einzelner postkolonialer Akteure an nationale und internationale Politikfelder und Diskussionen zurückzubinden. Ein Manko ist hingegen, dass die Studie deutlich weitergehende Ansprüche verfolgt, die sie aufgrund des gewählten legalistischen Rahmens nicht einzulösen vermag. In dem Bemühen, eine ebenso positive wie kraftvolle Gegenerzählung zu einer vermeintlich westzentrierten Meistererzählung vorzulegen, gerät dem Autor sein eigentlicher Forschungsgegenstand mehr als einmal aus dem Blick. Oftmals zeichnet er ein stark vereinfachendes Bild der tatsächlichen Forschungsdiskussionen, so dass viele seiner Ausgangsthesen überpointiert und reduktionistisch wirken. Dadurch werden immer wieder künstliche Antagonismen und Dichotomien konstruiert, die auf Kosten der historischen Komplexität und Vielschichtigkeit gehen. Solche Verzerrungen wirken sich besonders dort aus, wo es um die Einordnung und Bewertung einzelner Akteure geht. Grundsätzlich hat Jensen seine Sympathien dabei klar verteilt, es überwiegt die Tendenz, die Bedeutung einzelner Protagonisten in ein Schwarz-Weiß-Schema von Menschenrechtsvorkämpfern und -gegnern zu pressen. Zu Ersteren zählen neben den postkolonialen Newcomern auch die Vereinigten Staaten und einzelne westeuropäische Länder. In die Gruppe der Blockierer und Verhinderer ordnet Jensen hingegen in erster Linie die Sowjetunion, deren Verbündete sowie Südafrika, Israel und Portugal ein. Damit reproduziert er nicht nur unbeabsichtigt ein eingeschliffenes Wahrnehmungsmuster des Ost-West-Konflikts, sondern er übernimmt auch die affirmative Sichtweise der südlichen UN-Mitglieder, die sich in ihrer menschenrechtspolitischen Arbeit zunehmend von der Wirklichkeit abkoppelten.
Anmerkungen:
1 Glenda Sluga, Internationalism in the Age of Nationalism, Philadelphia 2013.
2 Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2012.
3 Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der Internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2014, S. 299.