Bis zur Jahrtausendwende dominierte eine bipolare Erzählweise der Geschichte des Kalten Krieges. Seit einiger Zeit jedoch schenkt die historische Forschung den polyzentrischen Verflechtungen des Kalten Krieges eine höhere Beachtung. In „Cold War Germany, the Third World, and the Global Humanitarian Regime“ spricht die New Yorker Deutschland-Historikerin Young-sun Hong der humanitären Hilfe für die „Dritte Welt“ eine besonders wichtige Position in diesem Gefüge zu: Die Hilfe sei als Unterstützung für notleidende de-kolonisierte Völker gedacht gewesen und habe sich zugleich häufig mit der Absicht verbunden, einen Einfluss auf Staatsbildungsprozesse zu nehmen (S. 3). Dabei hätten ost- und westdeutsche Akteure die indirekte Rolle jener Völker für die historischen Entwicklungen in Deutschland oftmals unterschätzt (S. 4). Ein aufschlussreicher, wenn auch nicht völlig neuer Zugang der Autorin ist es, das Thema der Entwicklungshilfe und der Nord-Süd-Beziehungen mit dem deutsch-deutschen Verhältnis im Kalten Krieg zu kombinieren.1
Die Monografie untersucht schwerpunktmäßig die 1950er- und 1960er-Jahre und versteht unter ost- und westdeutschem Auslandsengagement staatliche Entwicklungspolitik. Daher beschränkt sie sich auf staatlich organisierte Hilfsprogramme in (Süd-)Ostasien und Afrika, die vor dem Hintergrund der Hallstein-Doktrin beleuchtet und erklärt werden. Das humanitäre Regime steht dabei im Mittelpunkt – als Regelwerk aus Programmen, Diskursen, Strukturen und Herrschaftssystemen, mit dem der globale Norden seine Beziehung zum globalen Süden definierte und seine eigene globale Politik legitimierte (S. 3). Hong thematisiert die durchgehend festzustellenden hegemonialen Ansprüche sowie rassistische Denkweisen, die die humanitäre Hilfe beeinflussten.
Das Buch startet im ersten Teil mit einer kurzen Einführung zur Formierung des internationalen humanitären Regimes nach 1945. Daran anschließend widmet sich der zweite Teil in vier Kapiteln beispielhaft ausgesuchten deutschen Hilfsprogrammen in asiatischen und afrikanischen Ländern. Kapitel und Abschnitte zu Projekten, die von der DDR und der Bundesrepublik betrieben wurden, wechseln sich darin ab. Besonders gründlich bearbeitet die Autorin die Zusammenhänge der politischen Ziele von Hilfsaktionen mit ihrer Einbettung in den jeweiligen Machtblock des Kalten Krieges. Dies nimmt quantitativ einen Großteil jedes Kapitels ein. Betrachtete die Bundesrepublik ihr Auslandsengagement erwartungsgemäß als Beitrag zur US-amerikanischen Containment Policy (S. 83), so versuchte die DDR, durch Entwicklungshilfe internationale Anerkennung zu erlangen (S. 36).
Mittels einer erfreulich hohen Quellendichte rekonstruiert die Autorin flüssig lesbar und zugleich detailliert die organisatorischen Abläufe der deutschen Entwicklungshilfe in Nord- und Südkorea sowie die Kontakte zwischen Deutschen und der lokalen Bevölkerung (Kapitel 2 und 3). Dabei stellt sich heraus, dass weder ost- noch westdeutsche Entwicklungshelfer/innen sich im Ausland konform zum eigentlichen Auftrag und zu den Interessen ihrer Regierungen verhielten. DDR-Mitarbeiter eines Stadtplanungs- und Bauprogramms in Nordkorea nutzten ihre Zeit für touristische Reisen (S. 51, 67, 80), und westdeutsches Personal im Krankenhaus des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) – dem Vorzeigeprojekt der Adenauer-Regierung in Pusan (Südkorea) – verging sich gar in rassistisch und sexuell motivierten Übergriffen an Patient/innen. Das Programm scheiterte schließlich an der Häufung derartiger Vorfälle (S. 93–101). Kapitel 2 führt eindrucksvoll aus, wie das Großprojekt der DDR in Nordkorea, die Rekonstruktion der Stadt Hamhung mit ihrer industriellen Infrastruktur, von den fragilen Planwirtschaften beider Länder abhing (S. 59–82). In Kapitel 3 greift die Autorin dankenswerterweise auch sensible Themen wie die NS-Vergangenheit des DRK auf und führt das Scheitern des Krankenhauses in Pusan auf eine rassistische Denkweise zurück, wonach der „weiße Mann“ auf feindlichem Gebiet gefangen sei und sich verteidigen müsse (S. 91ff.).
In den folgenden zwei Kapiteln zeigt Hong das Zusammenspiel verschiedener Staaten beider Machtblöcke (insbesondere China, USA, Sowjetunion, Bundesrepublik Deutschland und DDR) in ihrer gemeinsamen oder von gegenläufigen Interessen geprägten Entwicklungspolitik. In Kapitel 4 wird deutlich, wie die USA der Bundesrepublik nach dem Fiasko in Südkorea neue Hilfsprojekte in Vietnam zuteilten. Auch Entwicklungshilfe aus vielen anderen Ländern wird dargestellt. In Kapitel 5 geht es eher um die Positionierungen verschiedener Staaten des globalen Nordens im Algerien-Konflikt und in der Kongo-Krise, weniger um tatsächliche Hilfsprogramme in diesen frisch unabhängigen Ländern. Humanitäre Hilfsaktionen wie die Aufnahme von Waisenkindern in der DDR oder das Verschicken von Hilfsgütern werden nur angerissen (S. 152–160, 165–168). Leider ist ein roter Faden in den beiden Kapiteln nur schwer erkennbar.
Der dritte Teil mit weiteren vier Kapiteln nimmt Arbeitsmigration und kulturellen Austausch in den Blick. Betrachtet werden dabei die hinter den Hilfen liegenden Diskurse in den beiden deutschen Staaten sowie deren Differenz zur Realität in den unterstützten Ländern. Kapitel 6 thematisiert die Macht des ostdeutschen Hygienenarrativs im Ausland. In ihrer Entwicklungspolitik war die DDR bestrebt, eigene Hygienestandards wie das häufige Händewaschen oder das Sterilisieren medizinischer Instrumente in der „Dritten Welt“ umzusetzen. Ostdeutsche Entwicklungshelfer/innen bestanden sehr auf der Überlegenheit solcher Standards, weil sie sich davon indirekt auch die internationale Anerkennung ihres Staates erhofften (S. 178, 199). Am Beispiel der Gesundheitsausstellungen zeigt Hong manche Fehlschläge dieses versuchten Kulturtransfers auf, etwa die fehlende kulturelle Sensibilität der Ostdeutschen bei einer Ausstellung der präparierten „durchsichtigen Kuh Heidi“ im hinduistischen Indien (S. 191ff.). Kapitel 7 beleuchtet den westdeutschen Anspruch, in afrikanischen Ländern Entwicklungspolitik betreiben zu müssen, ebenfalls als Gegenstand politischer Identität. Denn der Stolz auf fortschrittliche Medizintechnik verlangte bald, die technologische Modernisierung mit missionarischem Eifer zu exportieren (S. 218f.). Am Beispiel der humanitären Unterstützung für einige afrikanische Staaten stellt Hong überzeugend die Linien kolonialen Denkens bis in die westdeutschen Nachkriegsjahre dar. Kapitel 8 beschäftigt sich mit der Anwerbung asiatischer Frauen für den westdeutschen Pflegesektor, wo die Krankenschwestern weit unter ihrer Qualifikation arbeiteten und – anders als versprochen – keine nutzbare Ausbildung für die spätere Arbeit in ihren Heimatländern erhielten. In Kapitel 9 schließlich legt Hong die Konkurrenz beider deutscher Staaten in Sansibar und Tansania dar. Dieses spannende Kapitel handelt sowohl von direkten politischen Einflussversuchen durch Geschenke und Trainings als auch vom Scheitern vieler humanitärer Projekte. Die Autorin erarbeitet im dritten Buchteil stichhaltige Argumente dafür, dass die Narrative, die in beiden deutschen Staaten mittels Abgrenzung (teil)nationale Identitäten begründeten, die „Dritte Welt“ zum Objekt machten. Dabei hätten die deutschen Akteure schnell herausgefunden, dass sich diese Erzählungen nicht immer mit ihren humanitären Hilfsprogrammen und deren Ergebnissen deckten (S. 7).
Die Monografie hat einen gut lesbaren, narrativen Schreibstil. Während Hong kulturgeschichtliche Ansätze wie das Beschreiben von fiktionalen und nicht-fiktionalen Medien jener Zeit nutzt, um die Atmosphäre einzufangen (S. 77f., 81), und sogar unkonventionelle Ideen und Gedankenspiele ausführt (S. 1f.), ist ihre Sprache gleichzeitig sehr präzise. Einige editorische Entscheidungen schmälern allerdings den Leseeindruck: Das Inhaltsverzeichnis ist mit Einträgen wie „Through a Glass Darkly“ oder „Things Fall Apart“ nicht nutzungsfreundlich. Aufschlussreiche Kapitel- und Teilüberschriften sowie Einführungen zu Beginn der Kapitel hätten dem stark verwobenen Text eine besser erkennbare Struktur verschafft. Auch das Fehlen eines Literatur- und Quellenverzeichnisses wiegt schwer. Allein die Endnoten verweisen auf die gründliche Arbeit, die Hong im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, dem Bundesarchiv, Archiven des Rotes Kreuzes und in Publikationen von Zeitzeug/innen unternommen hat.
Schon in der Einleitung schlägt Hong einen großen Bogen, der weit über die transnationale Gesundheitspolitik der beiden deutschen Staaten hinausführt. Sie erreicht damit eine Spannung, die sie schließlich in einem vierseitigen Epilog über „Doing Transnational History in a Global Age“ wieder einzufangen versucht. Die Thematik, der sich Hong angenommen hat, ist komplex, und ihr facettenreicher Zugang verdient großen Respekt. Wünschenswert wäre es gewesen, dass sie abschließend den Versuch unternommen hätte, die diversen Stränge und Verflechtungen zu bilanzieren und auf Thesen zuzuspitzen. Young-sun Hong arbeitet aktuell an einem neuen Projekt „Human Rights and Refugee Crises in the Era of Neoliberalism“, das aus dem besprochenen Buch entstand. Das hier vorgestellte Werk legt als Pionierstudie noch viele weitere Arbeitsfelder frei. Ungeklärt bleibt etwa die Frage, welche Rollen nichtstaatliche deutsche Entwicklungsorganisationen in der „Dritten Welt“ einnahmen. Wo mag sich hier das Narrativ der Solidarität einordnen? Im Hinblick auf den starken Verflechtungsfokus dieser Arbeit wäre auch interessant, welche Konsequenzen die Machtinteressen der Supermächte für die konkrete Gestaltung von Hilfsprojekten hatten. Zudem ist die Beziehung der beiden Hauptsujets – der humanitären Entwicklungspolitiken von Bundesrepublik und DDR – nicht immer klar. Aber vielleicht ist genau dies ein Kennzeichen ihrer Verflechtung.
Anmerkung:
1 Siehe etwa Hubertus Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975, Frankfurt am Main 2014.