T. Nunan: Humanitarian Invasion

Cover
Title
Humanitarian Invasion. Global Development in Cold War Afghanistan


Author(s)
Nunan, Timothy
Series
Global and International History
Published
Extent
332 S.
Price
€ 94,58
Reviewed for H-Soz-Kult by
Philipp Casula, Historisches Seminar, Universität Zürich

Viele Bücher über Afghanistan beginnen mit der Beschreibung einer Reise nach Kabul, einer langen Autofahrt durch den Hindukusch oder einer halsbrecherischen Landung in Bagram. Auch Timothy Nunan beginnt sein Buch mit einer solchen Reiseschilderung und bringt so die ganze Externalität seiner Protagonisten zum Ausdruck. Aus dem Flugzeug blickend, erfassen sie Afghanistan aus der Vogelperspektive, ohne je wirklich dazuzugehören. Es ist aber auch eine allgemeine Externalität des Großteils der Geschichtsschreibung über Afghanistan, die sich in einem solchen Einstieg widerspiegelt.1 Obwohl auch Nunans Buch die Agency während der sowjetischen Besatzung (1979–1989) ganz externen Akteuren zuspricht, gelingt ihm ein Perspektivenwechsel. „Humanitarian Invasion“ will keine neue politische Geschichte Afghanistans sein, sondern am Beispiel Afghanistans eine Geschichte von Entwicklungskonzepten (international development) sowie von Humanitarismus und humanitärer Hilfe (humanitarianism) entfalten. „Humanitarismus“ meint hier das Ideengerüst westlicher Entwicklungshilfe, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach zwischenmenschlicher Solidarität steht.

Nunans Kernargument ist, dass in Afghanistan ein Kampf zwischen zwei globalen Projekten – Sozialismus und Humanitarismus – ausgefochten wurde (S. 120). Dies sei ein Kampf zwischen einer territorialen Ordnung einerseits, und einer transnationalen Ordnung post-staatlicher und grenzüberschreitender humanitärer Hilfe andererseits gewesen (S. 5). An Afghanistan ließe sich ein Übergang von „staatlicher Politik“ zu „globaler Moral“ ablesen (S. 120). Dabei standen sich die Sowjetunion als Staat und eine Reihe westlicher Nichtregierungsorganisationen gegenüber, darunter Médecins sans frontières und das Schwedische Afghanistan-Komitee. Afghanistan sei daher nicht Grab der Imperien, sondern „Grab des Dritte-Welt Nationalstaats“ (S. 5), weil dessen Souveränität ausgehöhlt worden sei.

Nunan hat sein Buch in sieben Kapitel gegliedert. Kapitel 1 widmet sich der sowjetischen Afghanistan-Expertise. Der lange zweite Abschnitt des Buches diskutiert chronologisch die Geschichte Afghanistans zwischen 1930 und 1960. Kapitel 3 zeigt auf, dass auch während der sowjetischen Besatzung, westliche NGOs in Afghanistan aktiv waren. Dabei formulierten sie zunehmend „ein humanitäres Projekt transnationaler Moral“ (S. 148), das im Widerspruch zur sowjetischen Operationsweise in Afghanistan stand. Der vierte Teil des Buches porträtiert Komsomol-Berater bei ihrem Einsatz in Afghanistan. Sie seien einer „territorialen Mentalität“ verhaftet geblieben, obwohl sie in einem „post-territorialen Kontext“ gearbeitet hätten (S. 164). Kapitel 5 widmet sich der „Frauenfrage“ in Afghanistan und wie sie von staatlich-sowjetischer Seite einerseits und von nicht-staatlich westlicher Seite andererseits angegangen wurde. Hier zieht Nunan auch Parallelen zur westlichen Intervention nach 2001 und es wäre reizvoll gewesen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen altem und „neuem Humanitarismus“ zu identifizieren, wie ihn zum Beispiel Volha Piotukh diskutiert.2

Erst in den beiden letzten Kapiteln kommt es zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit jenen Begrifflichkeiten, mit denen Nunan seine Untersuchung eröffnet und die seine Analyse hätten durchgehend-konsequenter leiten können. Es sei „verlockend, die Konfrontation zwischen der UdSSR und humanitären NGOs als einen Zusammenprall zwischen einem territorialen Imperium und einer deterritorialisierten ‚nicht-Gouvernenmentalität‘ zu betrachten, in der sich Macht entweder durch einen in Grenzen eingefassten Raum oder durch dessen Desintegration manifestiert“ (S. 209). Diese Betrachtungsweise laufe jedoch Gefahr, schränkt Nunan sogleich ein, alternative Lesarten von Territorium zu übersehen. Diese ambivalenten Passagen des Buches spiegeln einen Teil des begrifflichen Dickichts wieder, in denen sich das Buch bisweilen zu verzetteln droht, wann immer es die selbst aufgeworfenen begrifflichen Fragen frontal angeht. Während den empirischen Passagen eine klare begriffliche Anleitung teils fehlt und sie sich daher oft konventionell, wie viele der auf sowjetische Memoiren gestützten Afghanistan-Bücher lesen, erscheinen die theoretischen Überlegungen teils unvermittelt oder isoliert. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn NGOs die „sowjetischen borderscapes herausfordern“ und Afghanistans innere Grenzen in eine „moralische und institutionelle Geographie“ verwandeln? Was ist gemeint, wenn dem sowjetischen Projekt „medikalisierte Netzwerke imperialer Intimität“ entgegenstellt werden (S. 210f.)? Offensichtlich geht es Nunan u.a. um die Diskussion von Afghanistans fehlender oder schwindender Souveränität. Doch eine systematische Diskussion dessen, was Souveränität in einer globalisierten Welt bzw. durch die Linse der Globalgeschichte bedeutet, findet weitgehend nicht statt. Auch die Gegenüberstellung „Sowjetunion vs. NGOs“ ist zumindest überraschend. Gerade aus einer Perspektive der Gouvernementalität verschwimmt die rigide Trennung zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre. Genauso verschwimmt die Gegenüberstellung von nationalstaatlicher Politik und globaler Moral – hier hätte vielmehr das Ineinandergreifen beider Ebenen betont werden können. Kann erstere nicht letztere beinhalten? Inwieweit schließt „Sozialismus“ automatisch „Humanitarismus“ ein? Wie mobilisieren sich „Nationalstaat“ und „Humanitarismus“ gegenseitig?

Mit seinem breiten Ansatz eröffnet Nunans Buch dennoch überraschende Perspektiven. So erinnern die akademischen Debatten in der Sowjetunion über die Rolle des Politischen und Ökonomischen in der Zusammenarbeit mit der Dritten Welt frappierend an westliche Diskussionen, wie sie von Seymour Martin Lipset und Dankwart Rustow über die Vorbedingungen für Demokratie geführt wurden – Debatten, die ebenfalls zugunsten eines Primates der Politik entschieden wurden.3 Die Gegenüberstellung von Souveränität und deterritorialisierender Aktivitäten humanitärer NGOs erinnert stark an Michel Foucaults Überlegungen zu den Verschiebungen zwischen Souveränität und Bio-Macht.4 Für Foucault verlagert sich der Fokus der Machtausübung weg von „Souveränität“ und „Territorium“ hin zu „Bevölkerung“ und „Leben“. Allerdings hat auch Bio-Macht eine räumliche Dimension. Foucault betont wiederholt Gleichzeitigkeit und Zusammenwirken mehrerer Machtformen. So ist es auch ganz stimmig wenn Nunan zumindest andeutet, dass sowohl die Sowjetunion als auch die humanitären NGOs auf verschiedenen Macht-Klaviaturen spielten und weder das „Humanitäre“ noch das „Territorial-Souveräne“ ganz außer Acht haben lassen können. Es wäre lohnend gewesen, die deterritorialen bzw. humanitären Elemente der sowjetischen Besatzung – zum Beispiel die Interaktionen zwischen dem sowjetischen Zentralasien und Afghanistan bzw. die kostenlose Ausgabe von Saatgut und Dünger 5 – sowie die territorialen, nationalstaatlichen Bezugspunkte der NGOs stärker herauszuarbeiten – inwiefern mussten die NGOs zum Beispiel mit dem pakistanischen National-Staat zusammenarbeiten, um in Afghanistan zu operieren? Darüber hinaus finden sich auch Anknüpfungsmöglichkeiten an Border studies und an Debatten über Geographien der Besatzung.6 Schließlich befindet sich „Humanitarian Invasion“ in einem stillen Dialog mit zwei Büchern. Zum einen mit „Afghan Modern“ von Robert Crews.7 Auf dessen Thema – einer Globalgeschichte Afghanistans – spielt Nunan explizit an (S. 7). Zum anderen „Aiding Afghanistan“ von Paul Robinson und Jay Dixon, das explizit die sowjetische humanitäre Hilfe eingeht8, welche ähnlich jener der USA nach 2001, über das Militär geleistet wurde (S. 283).

Timothy Nunan hat für sein Buch eine wirklich beeindruckende Materialfülle verarbeitet, unzählige Archivbestände genutzt und viele Interviews in verschiedenen Ländern geführt. Damit hat er eines der umfassendsten Werke zur humanitären Hilfe in Afghanistan vorgelegt, das mit einer engagierten, weit über das Thema des Buches hinausgehenden Reflexion über die Krise der Entwicklungszusammenarbeit abschließt (S. 284). Das Buch ist zugleich ein Appell, die Geschichte Afghanistans mit neuen Begriffen zu interpretieren, andere Quellen zu verwenden und diese mit neuen Methoden zu analysieren, um so neue Erkenntnisse und neue Perspektiven zu gewinnen. „Humanitarian Invasion“ nutzt solche alternativen Zugänge. Besonders lesenswert sind die Passagen über die westlichen NGOs. Nunan gelingt der Perspektivenwechsel, auch wenn Afghanistan ganz als passiver Spielball externer Akteure erscheint, und die Erlebnisse sowjetischer Veteranen wieder eine prominente Rolle spielen: Die Deutungshoheit über die Geschichte Afghanistans zwischen 1979 und 1989 scheint sehr oft in der Hand dieser Veteranen zu liegen, auf die sich auch westliche Texte oft zu sehr verlassen. Wie Nunan selbst bemerkt, bleiben Afghanen dagegen von ihrer eigenen Geschichte ausgeschlossen (S. 15) und es wäre wünschenswert, wenn deren Stimmen in der westlichen und russischen Literatur mehr Gehör finden könnten.

Anmerkungen:
1 Zeynab Tuba Sungur, Acts of Mistranslation in the Cold War: Afghanistan under Occupation, in Frank Jacob (Hg.), Peripheries of the Cold War, Würzburg 2015, S. 169.
2 Volha Piotukh, Biopolitics, Governmentality and Humanitarianism: ‘Caring’ for the Population in Afghanistan and Belarus, London 2015.
3 Dankwart A. Rustow, Transitions to Democracy, in: Comparative Politics 2 (1970), S. 337–363; Seymour M. Lipset, Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy, in: The American Political Science Review 1 (1959), S. 69–105.
4 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, S. 294.
5 Paul Robinson / Jay Dixon, Aiding Afghanistan, London 2013, S. 147.
6 Eyal Weizman, Hollow Land: Israel’s Architecture of Occupation, London 2012, und Eyal Weizman et al., A Civilian Occupation: The Politics of Israeli Architecture, London 2003.
7 Robert D. Crews, Afghan Modern, Cambridge 2015. Vgl. die Rezension von Philipp Casula in: H-Soz-Kult, 25.02.2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25244 (07.02.2017).
8 Paul Robinson / Jay Dixon, Aiding Afghanistan, London 2013, S. 148–152.