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Title
Flucht. Eine Menschheitsgeschichte


Author(s)
Kossert, Andreas
Published
München 2020: Siedler Verlag
Extent
432 S., 55 SW-Abb.
Price
€ 25,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Stephan Scholz, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Wie kaum ein anderer hat Andreas Kossert mit seinem Sachbuch-Bestseller „Kalte Heimat“ (2008) ein empathisches Narrativ über die deutschen Vertriebenen als Opfer nicht nur des Zweiten Weltkrieges, sondern auch einer kaltherzigen Aufnahme durch die deutsche Nachkriegsgesellschaft breit etabliert. Und wie kaum ein anderer hat Kossert während der Flüchtlingsdebatte um 2015 in zahlreichen Artikeln und Interviews mit Analogien zwischen deutschen Vertriebenen und Geflüchteten der Gegenwart für Empathie mit den letzteren geworben. Für seine manchmal öffentlichkeitswirksam zugespitzten, grundsätzlich aber durchaus legitimen Vergleiche ist er von manchen Historikerkolleg/innen ungewöhnlich scharf kritisiert worden.1 Nun legt er nach und fundiert seine Position mit einem neuen Buch über „Flucht“ als „Menschheitsgeschichte“.

Wie schon mit „Kalte Heimat“ erhebt Kossert auch mit seinem aktuellen Buch nicht den Anspruch einer Forschungsarbeit, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse liefern würde. Er legt vielmehr ein publikumswirksam erzähltes Sachbuch vor, mit dem er nichts weniger als die gesellschaftliche Perspektive auf Flüchtlinge allgemein verändern möchte. Er tut dies, indem er den Fokus auf die Gemeinsamkeiten der Fluchterfahrung jenseits verschiedener Ursachen, Kontexte und Epochen legt. Durch die Heranziehung und ausführliche Wiedergabe von Selbstzeugnissen und literarischen Verarbeitungen in fünf thematischen Blöcken, die überschrieben sind mit „Weggehen“, „Ankommen“, „Weiterleben“, „Erinnern“ und der Frage „Wann ist man angekommen?“, will er den Leser/innen die Einfühlung in das Erleben von Flüchtlingen ermöglichen.

Den ersten Reaktionen nach zu urteilen, ist Kossert mit diesem Verfahren erneut erfolgreich. „Durch dieses großartige Buch habe ich endlich eine Ahnung, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein“, lautet ein nicht untypischer Leserkommentar bei Amazon, und auch in den Feuilletons wird das Buch begeistert aufgenommen, weil es die Leser/innen die Perspektive der Flüchtlinge besser verstehen lasse.2 Wer wollte das nicht begrüßen?

Und doch ist das Buch in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend. Bereits der Titel „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ ist in doppelter Weise irreführend. Denn es geht Kossert gleichzeitig um mehr und um weniger. Korrekterweise müsste der Obertitel „Zwangsmigration“ lauten, denn Kossert beschäftigt sich nicht nur mit der Erfahrung von Flucht, sondern mindestens genauso sehr (wenn nicht sogar noch mehr) von Vertreibung sowie auch von Verschleppung, Umsiedlung und Evakuierung – letztlich des gesamten umfangreichen Komplexes erzwungener Migration. Er räumt zwar ein, dass es grundsätzliche Unterschiede in den jeweiligen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen gebe, da Vertriebene „gegen ihren Willen gezwungen [werden], ihre Heimat zu verlassen“, während Flüchtlinge „eine freie Entscheidung [...] aufgrund bedrohlicher äußerer Umstände“ träfen (S. 149). Trotzdem betrachtet Kossert insbesondere Vertriebene und Flüchtlinge als eine einzige Gruppe und verwendet die Begriffe oft synonym. Die Frage, ob und wie unterschiedliche Handlungsspielräume und Lebensperspektiven die jeweiligen Erfahrungen und Deutungen der Betroffenen beeinflussen, stellt er nicht. Dabei ist es naheliegend, dass Menschen, die sich durch ihre Entscheidung zur Flucht einer unerträglich gewordenen Lebenssituation zu entziehen und in die Freiheit zu retten versuchen, anders auf ihren Migrationsvorgang, auf die zurückgelassene Heimat und ihr Leben in einer neuen Umgebung blicken als gegen ihren Willen Vertriebene, in Arbeitslager Verbannte oder in die Sklaverei Deportierte.

Derartige Differenzierungen fallen jedoch dem Konzept eines „Jahrhunderts der Vertreibungen“ bzw. der „ethnischen Säuberungen“ zum Opfer, das offensichtlich den theoretischen Unterbau des Buches bildet. Dieses nicht explizit ausgeführte, durch die Hinweise in den Anmerkungen aber deutlich erkennbare Konzept in der Nachfolge von Norman Naimark und Michael Schwartz scheint auch dafür verantwortlich zu sein, dass die Ankündigung einer „Menschheitsgeschichte“ im Untertitel irreführend ist. Denn nach einer vorangestellten kurzen tour d’horizon durch „die endlose Geschichte der Flucht“ (S. 41) von Adam und Eva (!) bis zur Gegenwart beziehen sich nahezu alle angeführten Beispiele und Selbstzeugnisse im Hauptteil auf das 20. und frühe 21. Jahrhundert.

Der erzwungene Charakter der Migration ist für Kossert dabei zentral und lässt ihn systematisch darüber hinwegsehen, dass viele der von ihm beschriebenen und durch zahlreiche Selbstzeugnisse belegten Erfahrungen, die für Flüchtlinge spezifisch sein sollen, tatsächlich typisch migrantische Erfahrungen sind. Anpassungsdruck, Ausgrenzung und Diskriminierung sowie Heimweh und erst langsames Hineinwachsen in eine neue Lebensumgebung erleben nicht nur Flüchtlinge, sondern Migrant/innen insgesamt. Solche Erfahrungen haben mit dem Zwangscharakter von Migration weniger zu tun als mit den generellen Einstellungen, Bedingungen und Politiken der Aufnahmegesellschaften gegenüber Zuwandernden.

Kossert besteht dagegen unnötig scharf darauf, dass es sich hier um „ganz unterschiedliche Erfahrungsebenen“ handele und eine Abgrenzung zwischen Flüchtlingen und sonstigen Migrant/innen „unerlässlich“ sei“ (S. 39). Erstere flüchteten „vor Gewalt, Krieg und Terror, um ihr Leben zu retten“ (S. 29), was Kossert aber nicht davon abhält, auch Erfahrungen von russlanddeutschen Spätaussiedler/innen oder deutschen Abwandernden aus Polen nach dem Ersten Weltkrieg einzubeziehen, für die dies sicher nicht zutrifft. Dass die Grenzen zwischen Flucht vor unerträglichen Lebensverhältnissen und vor fehlenden Perspektiven fließend sind, sieht Kossert dennoch nicht.3

Die Absurdität dieser strikten Trennung zwischen den Erlebnissen und Wahrnehmungen von Flüchtlingen und anderen Migrant/innen zeigt sich unter anderem daran, dass die Erfahrungen des in einer türkischen „Gastarbeiter“-Familie aufgewachsenen Cem Özdemir hier nur im Hinblick darauf erwähnt werden, dass sein Vater einer tscherkessischen Familie entstammt, die ein Jahrhundert zuvor aus dem Kaukasus ins Osmanische Reich vertrieben worden war. Ijoma Mangolds Suche nach seiner familiären Identität wiederum ist für Kossert nur im Hinblick auf die Familie der aus Schlesien stammenden Mutter von Interesse, während die mindestens ebenso bedeutsame Existenz eines nigerianischen Vaters (den Mangold erst als Erwachsener kennenlernte) nicht einmal erwähnt wird, weil dieser eben kein Flüchtling oder Vertriebener war. Ein solcher selektiver Blick ist typisch für Kosserts Umgang mit seinem Quellenmaterial von Selbstzeugnissen und literarischen Verarbeitungen, das ihm als ein schier unerschöpfliches Reservoir dazu dient, durch Auswahl und Arrangement ein ausgesprochen stereotypes und eindimensionales, durch seine Redundanz auch ermüdendes Bild vom vermeintlich überzeitlichen „Flüchtlingsschicksal“ zu entwerfen.

Flucht erscheint demnach als ein „ungeheuerlicher Vorgang“ (S. 149), der die Betroffenen „für ihr Leben zeichnet“ (S. 154). Sie werden als unwillkommene Eindringlinge behandelt, müssen sich unterordnen, bis zur Selbstverleugnung anpassen und werden doch immer wieder „auf ihr Fremdsein zurückgeworfen und als Fremde in die Rolle von Bittstellern gezwungen“ (S. 331). Selbst wenn sie freundlich aufgenommen werden, ist der Heimatverlust für sie nicht zu verwinden. Sie unterliegen einem lebenslangen Heimweh, das sogar zum Tod führen kann und an nachfolgende Generationen als unbestimmtes Gefühl von Heimatlosigkeit weitervererbt wird. „Die Flucht ist ein Fluch, der Flüchtlinge nicht loslässt“ (S. 342), lautet das düstere Fazit.

Wie bereits in „Kalte Heimat“ entfaltet Kossert auch hier ein reines Opfernarrativ. Ganz ähnlich wie die deutschen Vertriebenen erscheinen jetzt auch Flüchtlinge insgesamt ausschließlich als ohnmächtige Objekte von Zwang und Gewalt, Ablehnung und Ausgrenzung, vor allem aber als Opfer eines Heimatverlustes, unter dem sie ein Leben lang zu leiden haben. Vertreibungen, wie sie die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten, bilden hier unverkennbar die idealtypische Folie für die Darstellung eines Gesamtphänomens erzwungener Migration in der Geschichte.

Vollkommen ausgeblendet bleiben dabei die Möglichkeiten aktiven Handelns und Entscheidens in all ihren Abstufungen bei Vorgängen von Fluchtmigration sowie ein differenzierender Blick auf deren Bedeutung für das Erleben, Wahrnehmen und Deuten von Flucht, Ankunft und Neubeginn durch die Akteur/innen. Wohl nicht zufällig kommen bei Kossert zum Beispiel DDR-Flüchtlinge nicht vor, für die immerhin nach dem Bundesvertriebenengesetz der Flüchtlingsbegriff lange Zeit reserviert war. Ihre Aufnahme gilt bis heute als heroische Erfolgsgeschichte. Das positive Motiv der Rettung und des Aufbaus einer neuen Zukunft im Aufnahmeland spielt auch bei anderen Flüchtlingsgruppen eine wichtige Rolle, etwa bei Hugenotten oder jüdischen Flüchtlingen, die vor Pogromen in die Vereinigten Staaten oder nach Israel ausgewandert sind.

Die von Andreas Kossert beabsichtigte Empathiebildung für Flüchtlinge in Vergangenheit und Gegenwart erfolgt somit auf Kosten einer zu weitgehenden Komplexitätsreduktion. Damit bestätigen sich leider Warnungen aus der neueren Fluchtforschung vor der Gefahr selektiver und anekdotischer Argumentationen angesichts der simplen Tatsache, dass es Flucht immer schon gegeben hat.4 Die Arbeiten der jüngeren, interdisziplinär ausgerichteten Flucht- und Flüchtlingsforschung berücksichtigt Kossert allerdings grundsätzlich nicht.5 Nahezu komplett fehlt ein vergleichender Blick auf die Bedeutung unterschiedlicher Flucht- und Migrationsregime in Geschichte und Gegenwart. Mit diesem hätte man sich über die bloße Anmahnung von Empathie und einer Ächtung von „Flucht und Vertreibung als Geißel der Menschheit“ (S. 355) hinaus der Frage nach den politischen und sozialen Bedingungen annähern können, die eine positive Haltung gegenüber Flüchtlingen sowie ihrer Aufnahme und Neubeheimatung erleichtern.

Anmerkungen:
1 Am vehementesten von Mathias Beer, Die „Flüchtlingsfrage“ in Deutschland nach 1945 und heute. Ein Vergleich, in: Zeitgeschichte-online, April 2016, http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/die-fluechtlingsfrage-deutschland-nach-1945-und-heute (03.02.2021): „Der in der Öffentlichkeit, in der politischen Auseinandersetzung, in den Medien und auch in der Wissenschaft bemühte Vergleich führt daher nicht nur in die Irre, er ist auch falsch. Die gedeuteten, vermuteten oder angenommenen Gemeinsamkeiten der beiden Flüchtlingsfragen liegen nicht vor.“ Ähnlich Carmen Winkel, The German Refugee Crisis. Narratives of Empathy and the Politics of Memory, in: Journal of Arts and Humanities 8/7 (2019), S. 16–27, https://doi.org/10.18533/journal.v8i7.1683 (03.02.2021).
2 Vgl. die Hinweise unter https://www.perlentaucher.de/buch/andreas-kossert/flucht.html (03.02.2021).
3 In der Flucht- und Flüchtlingsforschung herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die „Unterscheidung von Flucht und anderen Formen der Migration wissenschaftlich nicht zwingend begründet werden kann“. Albert Scherr, Probleme und Perspektiven der Flucht- und Flüchtlingsforschung, in: Zeitschrift für Migrationsforschung 1/2 (2021), https://doi.org/10.48439/zmf.v1i2.111, Online First, 02.02.2021, S. 1–25, hier S. 20 (03.02.2021).
4 J. Olaf Kleist, The History of Refugee Protection. Conceptual and Methodological Challenges, in: Journal of Refugee Studies 30 (2017), S. 161–169, hier S. 161.
5 Vgl. als Überblick: J. Olaf Kleist u. a., Abschlussbericht: Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Osnabrück 2019, https://flucht-forschung-transfer.de/wp-content/uploads/2015/06/FFT-Abschlussbericht-WEB.pdf (03.02.2021).

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18.03.2021
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