Unter dem Begriff der Transnationalisierungsforschung werden in der neueren Historiografie seit einiger Zeit verschiedene Forschungs- und Interpretationsstrategien verhandelt.1 Die Diskussion ist dabei recht heterogen; der begriffliche Gehalt und die damit verknüpften Methoden sind noch nicht konsensfähig. Im Kern zielt Transnationalisierung auf die Erfassung der gleichzeitigen und interdependenten Prozesse von Nationalisierung und Globalisierung. Transnationalisierungsforschung fokussiert auf die zunehmenden Vernetzungsstrategien nationaler Akteure in einem sich globalisierenden Kontext.
Vor diesem Hintergrund kann ein Blick in die Diskussionen der Nachbardisziplinen lohnen, um eigene disziplinäre Argumente überprüfen und schärfen zu können. In der politikwissenschaftlichen Teildisziplin Internationale Beziehungen gibt es seit den 1970er-Jahren eine Transnationalisierungsforschung, in deren Rahmen ein theoretisches Konzept und die dazugehörigen Begriffe und Methoden entwickelt wurden. In diesem Forschungskontext ist die Dissertation von Klemens Büscher (2002) angesiedelt, die die Rolle der russischen Diaspora in Moldova und der Ukraine für ihre jeweiligen Residenzstaaten und Russland für den Zeitraum 1992 bis 1998 untersucht.
Die Studie gliedert sich in zwei große Teile. Im ersten Drittel werden die theoretischen Überlegungen zu Transnationalisierung, Globalisierung, Nationalismus- und Diasporaforschung in der Politikwissenschaft rekapituliert und ein Analyseschema für die folgende Untersuchung entwickelt. Der zweite Teil ist den eigentlichen Länderstudien gewidmet und schließt mit einem kurzen vergleichenden Resümee ab.
Der innerhalb der Politikwissenschaft entwickelte Begriff transnationaler Beziehungen, beschreibt all jene Beziehungen auf verschiedenen Politikfeldern wie Wirtschafts-, Sicherheits- oder Kulturpolitik, bei denen ein grenzüberschreitender Austausch stattfindet, als transnational, bei denen mindestens ein nicht-staatlicher bzw. gesellschaftlicher Akteur beteiligt ist (S. 18). Diese Begriffsfassung bewegt sich im Rahmen der staatszentrierten, neorealistischen Schule und begreift die gesellschaftlichen Akteure weiterhin im Kontext des nationalstaatlichen Handlungsrahmens „im Grundsatz als subordinierte Einheiten“ (S. 23).
Mit dem damit verbundenen Konzept der außenpolitischen Verbindungsgruppe (linkage group), das auf Karl W. Deutsch zurückgeht, sollen die Zusammenhänge zwischen trans- und intranationalen Prozessen erfasst werden. Als eine solche Gruppe werden jene kollektiven Akteure erfasst, die in einem innenpolitischen Kontext A verankert sind und spezifische Verbindungen zu einem weiteren Staat B aufweisen. Über diese Verflechtungen kann eine solche Gruppe in ihren Heimatkontext hinein Außeneinflüsse vermitteln. In der handlungstheoretischen Weiterentwicklung des Modells durch Werner Link wird ein komplexes Beziehungsgeflecht entworfen, das sich um die Akteurskategorien „gesellschaftliche Gruppe im Staat A“, „Regierung des Staates A“ und „externe Umwelt“ gruppiert.
Die Forschungslücke, die die vorliegende Arbeit nun zu füllen versucht, besteht in der bisher vernachlässigten Anwendung dieses Konzepts auf ethnische Minderheiten. Es wird daher die Verbindung dieser theoretischen Überlegungen mit den Ergebnissen der Diasporaforschung vorgeschlagen. Der in der Studie verwendete Diasporabegriff fokussiert auf nicht-dominante ethnische Gruppen in einem oder mehreren Staaten „migratorischen oder vergleichbaren Ursprungs“ (S. 45). Diese Konstellation - Residenzstaat, Minderheit im Residenzstaat und Referenzstaat der Minderheit - kann paradigmatisch als transnationales Netzwerk eingeordnet werden. Es wird für die Untersuchung ein Analyserahmen entworfen, der sich auf vier Ebenen bezieht:
1. die Struktur und Eigenschaften der Grundeinheiten der triadischen Konfiguration, also Fragen nach der identitätspolitischen und außenorientierten Dimension der Diasporagruppe und der inneren Verfasstheit (Institutionengefüge, Grad der gesellschaftlichen Fragmentierung und Stabilität, Elemente des politischen Netzwerks wie Parteien und politische Kultur) von Referenz- und Residenzstaat,
2. die nationalstaatliche Ebene, d.h. die Beziehungen zwischen Diaspora und der Regierung des Residenzstaats,
3. die transnationale Ebene, d.h. die Beziehungen zwischen Diaspora und Referenzstaat und
4. die zwischenstaatliche (bilaterale) Ebene, die die Beziehungen zwischen den Regierungen des Referenz- und Residenzstaates in den Blick nimmt.
An diese umfängliche theoretische Auseinandersetzung schließen die Länderstudien an. Allerdings räumt der Autor ein, dass „[v]on den theoretisch hergeleiteten Fragestellungen und Forschungshypothesen [...] nicht alle für die untersuchten Fälle von Relevanz“ sind (S. 89). Dies scheint gerechtfertigt, wenn man die theoretische Ambition der Arbeit berücksichtigt, befriedigt aber vor dem Hintergrund der nur bedingt eingelösten theoretischen Vorüberlegungen wenig.
Den Teilstudien zu Moldova und der Ukraine ist die Darstellung der Lage der neuen russischen Diaspora nach der politischen Wende der späten 1980er-Jahre und der innenpolitischen Diskussion und außenpolitischen Strategien in Russland im Umgang mit dieser Diaspora vorgeschaltet. Die russische Diasporapolitik deutet der Autor vor dem Hintergrund innenpolitischer Diskurse als Instrument hegemonialer Bestrebungen (S. 125, 140) und kennzeichnet das Unbehagen russischer Vertreter über die Lage ihrer Minderheiten im Ausland als „inszenierte Rolle einer Märtyrernation“ (S. 118), bei der die „legitime Abwehr [beispielsweise] diskriminierender Inhalte im Bildungswesen der Residenzstaaten nur schwer von einem Streben Russlands nach Dominanz im GUS-Raum [zu] trennen“ sei (S. 140). Genau diese Differenzierung ist aber notwendig.
Die beiden Länderstudien folgen dem anfangs entwickelten Analyserahmen und rekonstruieren detailreich die politische Entwicklung der beiden Länder aus der Diasporaperspektive. Allerdings verbleibt die Darstellung zu großen Teilen auf der deskriptiven Ebene. Die eigentliche analytische und interpretatorische Leistung schlägt sich erst im abschließenden zehnseitigen Resümee nieder, das auch die vergleichende Perspektive einnimmt.
Büscher kommt zu dem Ergebnis, dass die jeweiligen Diasporagruppen bis auf minimale kulturpolitische und wahltaktische Aspekte „in der Zeit von 1992 bis zum Frühjahr 1998 keinen adäquaten politischen Einfluss auf die Politik ihrer Residenzstaaten“ (S. 344) gewannen. „Von der ‚fünften Kolonne’ Russlands kann daher keine Rede sein.“ (S. 344). Auch die umgekehrte Einflussrichtung residenzstaatlicher Prozesse nach Russland erlangte keine nennenswerte Bedeutung. Ursachen dafür seien u.a. in der schwachen kollektiven Identität der Russen in der Diaspora und die damit verknüpfte geringe ethnopolitische Mobilisierung zu suchen. Darüber hinaus hätten die zivilgesellschaftliche und institutionelle Fragmentierung und Schwäche der Residenzstaaten die politische Partizipation der Diasporagruppen erschwert. Auch das Fehlen einer konsistenten Minderheitenpolitik Moldovas und der Ukraine und die geringe Geschlossenheit der politischen Eliten in diesen Ländern hätten die politische Einflussnahme der Diaspora auf institutionellem Wege unmöglich gemacht. Daneben seien auch die referenzstaatlichen Impulse aus Russland zu heterogen und widersprüchlich gewesen, als dass sie einen tragfähigen Boden für Diasporaaktivitäten in den Residenzstaaten hätten bilden können.
Im Vergleich der beiden Länder können signifikante Unterschiede festgestellt werden. So lasse sich die russische Diaspora in Moldova deutlicher von der nationalstaatlichen Mehrheit unterscheiden als in der Ukraine, in der die Grenzen zwischen ethnischen Ukrainern, russischsprachigen Ukrainer und ukrainifizierten ethnischen Russen fließend seien. Auch habe das moldavische politische System, insbesondere sein Wahlrecht, der russischen Minderheit eine bessere politische Partizipation ermöglicht als das ukrainische.
Der Ertrag der Arbeit für die theoretische Diskussion des politikwissenschaftlichen Transnationalisierungskonzepts stellt sich in der Zusammenfassung zwiespältig dar. Einerseits räumt der Autor ein, dass die Ergebnisse der Fallstudien nur bedingt auf triadische Diasporakonstellationen übertragbar sind, „dessen ungeachtet können sie als Grundlage für allgemeine theoretische Schlussfolgerungen dienen.“ (S. 351). Vor dem Hintergrund der Fallstudien werde deutlich, dass gleichgerichtete Interessen zwischen Residenzstaat und Diaspora, geschlossene Diasporaeliten und ein Machtgefälle zwischen Referenz- und Residenzstaat zuungunsten des letzteren das Einflusspotential von Diasporagruppen im Residenzstaat erhöhen. Das überrascht wenig. Eine Spezifizierung von Einflussrichtungen und Wirkzusammenhängen wird allerdings nur vage vorgenommen.
In der Interpretation der Ergebnisse und ihrer theoretischen Verwertung werden die Schwierigkeiten in der Anlage des Analyserahmen deutlich. Die Fokussierung auf staatliche Akteure im Rahmen des politikwissenschaftlichen Konzepts transnationaler Beziehungen ist auch in neueren Studien der Disziplin problematisiert worden.2 Für die vorliegende Untersuchung können aufgrund dieser Schwerpunktsetzung einige Fragen nicht beantwortet werden. Die Konzentration der Untersuchung auf politische Institutionen verschenkt möglicherweise die Chance, der Komplexität transnationaler Einflussgefüge näher zu kommen. Zwar spricht der Autor selbst wiederholt von „informelle[n] transnationale[n] Netzwerkbeziehungen“ (S. 181, 266) und bestätigt auch in der Zusammenfassung, dass sich „Entscheidungsprozesse in der Innen- und Außenpolitik [...] teilweise außerhalb des formalen Institutionengefüges“ vollzogen (S. 346) und eine „eindeutige Abgrenzung zwischen kulturellen und politischen Aktivitäten der verschiedenen russischen Gruppierung [...] kaum möglich“ sei (S. 252), verfolgt die damit ausgelegte Spur allerdings nicht weiter. Auch im Rahmen einer politikwissenschaftlichen Untersuchung ist eine Sensibilität für informelle, außerhalb institutioneller Muster stattfindende Prozesse wünschbar und angemessen.
Eine weitere Selbstbeschränkung der Studie besteht in der Fokussierung auf ethnopolitische Fragen im engeren Sinne und der bewusste Verzicht auf soziale, wirtschafts- oder sicherheitspolitische Dimensionen der transnationalen Diasporabeziehungen. Auf das Problem der Verflechtung und Wechselwirkung sozioökonomischer und ethnopolitischer Konfliktmuster kommt die Studie immer wieder zurück (u.a. S. 172f., 192f., 221, 303), es finden sich sogar Paradebeispiele für die Interferenz dieser Felder (S. 199). Aber auch hier findet die Untersuchung nicht den Weg aus der selbst auferlegten Perspektivbeschränkung und lässt die Erkenntnisse ungenutzt für eine weitergehende Deutung.
Allerdings zeichnet sich die Studie insgesamt durch eine transparente Argumentation aus, die reichhaltig durch Quellen gestützt wird. Büscher gelingt es, ein mehrere Nationalkulturen und Sprachen berührendes Thema sprach- und landeskompetent zu bewältigen und kann sich auf Originalquellen der jeweiligen Länder stützen - eine Verfahrensweise, die im Rahmen der Transnationalisierungsforschung grundsätzlich notwendig ist, den einzelnen Forscher aber mitunter vor größere Probleme stellt. Insofern ist diese Studie ein prägnanter und begrüßenswerter Beitrag zur Transnationalisierungsforschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften, der nicht nur aufgrund seiner disziplinären Verortung streitbar bleibt.
Anmerkungen:
1 Für die deutsche Diskussion vermittelt die Diskussion in diesem Fachforum Geschichte Transnational wohl die aktuellsten Einblicke.
2 Nölke, Andreas, Transnationale Politiknetzwerke. Eine Analyse grenzüberschreitender politischer Prozesse jenseits des regierungszentrischen Modells, Leipzig 2004.