Aus der Perspektive eines Osteuropa-Historikers mit speziellem Interesse an den baltischen Staaten legt man dieses Buch etwas ratlos aus der Hand: Einerseits hat man nicht viel Neues durch die Lektüre erfahren. Andererseits ist all das, was man immer schon irgendwie – sei es durch die eigene Arbeit, sei es schlicht aufgrund der Zeitgenossenschaft – gewusst zu haben glaubte, hier endlich einmal „zitierfähig“ in ein respektables wissenschaftliches Werk geflossen: Das „baltische Problem“ war im Rahmen der Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den 1990er Jahren zweitrangig. Ihr ging es zunächst um die deutsche Einheit, dann um den Abzug der Westgruppe der Roten Armee sowie schließlich um die Sicherung der eigenen Grenzen durch die Aufnahme der unmittelbaren östlichen Nachbarstaaten in die NATO. Da all diese Fragen ohne Moskaus Einverständnis nicht zu lösen waren, hat sich Helmut Kohl zeit seiner Kanzlerschaft hauptsächlich um seine „Männerfreundschaften“ im Kreml gekümmert und das Baltikum ignoriert. Es blieb vor allem Außenminister Hans-Dietrich Genscher überlassen, den „moralischen“ Part zu geben und an die historischen Verpflichtungen Deutschlands aufgrund des 23. August 1939 gerade im Baltikum zu erinnern. Sein Nachfolger Klaus Kinkel wiederum war ein zu schwaches Gegengewicht zum Kanzler, um auf dem Gebiet der Ostpolitik eigene Akzente zu setzen. Immerhin jedoch war es Kinkel, der den Erweiterungsprozess der EU unter Einschluss Estlands, Lettlands und Litauens vorantrieb.
Hiermit sind die groben Leitlinien der Studie vorgegeben. Spohr Readman beschreibt die „große Politik“, d.h. die internationale Diplomatie der 1990er Jahre aus historischer Perspektive. Sie tut dies auf einer beeindruckenden Quellenbasis, zu der neben den üblichen publizierten Arbeiten und Erinnerungen eine Reihe nicht näher beschriebener „classified documents“ gehört. Intime Kenntnisse der internen Abläufe verdankt sie zudem zahlreichen Gesprächen mit hochrangigen Vertretern der deutschen Politik, die aus verständlichen Gründen leider nicht immer exakt belegt werden. Sie schreibt einen flüssigen Stil, der sich nicht in Details verrennt, auch wenn ihre allgemeinen Wertungen zuweilen einen Hang zur überspitzten Formulierung zeigen, wenn sie z.B. behauptet, dass sich die deutsche Außenpolitik von Versailles bis zur Wiedervereinigung durch einen „quest for territorial revision“ ausgezeichnet habe (S. 67). Dass hier wider besseres Wissen v. Ribbentrop und Genscher zumindest verbal in eine Schublade gesteckt werden, ficht sie offenbar nicht an.
Der Titel ihres Buches führt allerdings in die Irre. Es geht Spohr Readman nicht um Deutschland und das postsowjetische „baltische Problem“, ihr Anspruch zielt auf ein in der Tat gewichtigeres Konzept der europäischen Diplomatie: die Entwicklung der mehr als hundertjährigen „deutschen Frage“ im Kontext der Positionierung der deutschen Außenpolitik nach dem Kalten Krieg. Das Baltikum stellt im Rahmen dieser Konzeption lediglich eine Art Fallstudie dar um zu zeigen, wie sehr Kohls „Moscow first“ Politik im Widerspruch zum ja auch vom „Kanzler der Einheit“ vehement für sich in Anspruch genommenen Selbstbestimmungsrecht der Völker stand. Estland, Lettland und Litauen sind sozusagen der Lackmustest – dieses Mal jedoch nicht für Moskaus Verständnis von Demokratie und Pluralität der Geschichtsauffassungen (man denke an die Auseinandersetzungen um den 9. Mai 2005), sondern für die deutsche Außenpolitik, die sich gerade in der Perspektive der baltischen Staaten mehr als ein Mal seit 1989 im Dickicht zwischen beschworenem Ideal und verfolgter Realpolitik verheddert hat.
Die Konzentration auf Deutschlands veränderte Rolle als mitteleuropäische Großmacht wird schon durch den Aufbau der Studie deutlich. Das „baltische Problem“ ist Gegenstand nur des letzten der fünf Kapitel. Das Buch beginnt mit einer knappen, aber konzisen Einführung in das „endgame“ des Kalten Krieges, in der die mit Hilfe von „Deutsche Marks and talks“ erreichte deutsche Einheit sowie das Auseinanderbrechen der UdSSR im Baltikum im Mittelpunkt stehen. Anschließend präsentiert Spohr Readman eine Analyse der „German Questions“ in Vergangenheit und Gegenwart, in der sie die begrifflichen Werkzeuge einführt, die uns durch die Lektüre begleiten: „unity“, „identity“, „civic culture“, „place“ und „power“. Freilich hat das Durchdeklinieren dieser fünf Konzepte in Hinblick auf Deutschlands Situation 1871, 1919, 1945, 1990 und 2000 etwas Gebetsmühlenhaftes, doch verleiht es ihrer Argumentation Struktur. Mit der Wiedervereinigung unter Beibehaltung der Westorientierung seien die ersten drei Probleme, die die „historische“ (bis 1945) und die „politische“ (bis 1990) deutsche Frage dominiert hätten, gelöst worden. Die „neue“ deutsche Frage sei nur mehr eine Frage von „place“ und „power“. Wie das vereinte Deutschland in der ersten Dekade seiner Existenz mit diesen Problemen umgegangen ist, versucht Spohr Readman in den drei folgenden Kapiteln, die jeweils Bonns bzw. Berlins Westeuropa-, Russland und Baltikumpolitik behandeln, zu analysieren.
Zwar konstatiert sie in Bezug auf die deutsche Ostpolitik eine Rückkehr der Geopolitik insofern als Deutschland seit 1990 danach gestrebt habe seine „great power role as Europs’s central power“ zu spielen und sich als Europas wichtigster Partner für Russland zu positionieren. Ihr abschließendes Urteil bleibt jedoch vage, „the questions of place and power remain unresolved“ (S. 213). Immerhin konzediert sie dem „neuen Deutschland“, sich im Vergleich zum Zweiten und Dritten Reich zivilisierter zu verhalten, so dass eine „Lösung“ der beiden genannten problematischen Konzepte im aggressiven Sinne, also nach dem sattsam bekannten Muster der deutschen Geschichte, unrealistisch erscheint. Es bleibt zu fragen, wie sich Spohr Readman überhaupt eine „Lösung“ vorstellt. Das Problem der „Lage“ sollte durch den europäischen Integrationsprozess der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Relevanz verlieren. Und die „Machtfrage“? Sie stellt sich nicht allein in Berlin, sondern in jeder Hauptstadt. Ihre „Lösung“ käme wohl einem „Ende der Geschichte“ gleich, das, wie sich auch Spohr Readman gelegentlich erinnert, einst durchaus folgenlos schon einmal ausgerufen wurde.
Kommen wir noch einmal auf die „neue Ostpolitik“ zurück. Bezeichnend für die Studie ist der Umstand, dass Spohr Readmans Ausführungen über die auf Moskau und das Überleben der jeweils Mächtigen im Kreml konzentrierte deutsche Ostpolitik sehr gut ohne die Erwähnung des baltischen Themas auskommen. Das Kapitel über die diplomatischen Anstrengungen hingegen, die Genscher und Kinkel aufbieten mussten, um dem hehren Anspruch gerecht zu werden, „Anwalt“ der baltischen Staaten zu sein, verweist notgedrungen ständig auf des Kanzlers Ceterum censeo, dass ja Gorbatschow und später Jelzin ungleich wichtiger für Bonn/Berlin waren als die Repräsentanten der kleinen Republiken. Wie bekannt, ließ sich Kohl erst 1998 in Riga blicken, doch auch dies letzten Endes nur, um mit dem russischen Premier Tschernomyrdin zu konferieren. Diese Symbolik blieb im Baltikum natürlich nicht unbeachtet, daher wurde Schröders Besuch gleich zu Beginn seiner Amtszeit durchaus von hohen Erwartungen begleitet, die dieser aber auch nicht erfüllen konnte oder wollte. Der von Spohr Readman für die Jahre 1989-1991 festgestellte überraschend große Einfluss, den Gorbatschows Umgang mit dem Unabhängigkeitsstreben der baltischen Sowjetrepubliken auf die internationale Diplomatie hatte, verflüchtigte sich ohnehin merklich nach dem Beitritt der drei jungen Republiken noch 1991 zur UNO.
Spohr Readman verhehlt ihre Sympathie für die Ansprüche der baltischen Staaten auf ihre viel zitierte „Rückkehr nach Europa“ nicht. Sie bleiben aber Objekte der Studie, ohne dass ihre aktive Politik berücksichtigt wird. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse hat Spohr Readmann immerhin auch estnische Materialien eingesehen, worunter ihre Aufmerksamkeit für die anderen beiden Länder freilich etwas leidet. Immer wieder bezieht sie zudem deutlich Position, wenn es darum geht, Moskauer Ansprüche auf das so genannte „nahe Ausland“ zurückzuweisen, wie sie beispielsweise unter Außenminister Kozyrev oder Premier Primakov immer wieder geäußert wurden. Daneben wird auch Kohls Ignoranz in baltischen Anliegen vehement kritisiert, ohne dass deutlich wird, wie eine differenziertere Politik des Kanzlers hätte aussehen können. Wenn, wie Spohr Readman nicht zu unrecht konstatiert, die Regierung Kohl ihre nationalen Interessen als Europas „Zwischenmacht“ habe durchsetzen wollen (S. 161), verfügte sie dafür nur im Osten des Kontinents über nennenswerten Spielraum. Allerdings ist ihre Arbeit auch keine Studie der Moskauer Deutschlandpolitik, die deutlichen Differenzen zwischen Präsident, Außenministerium und Duma kommen kaum einmal zur Sprache. Auf den Wandel der offiziellen russischen Westpolitik, der schließlich dazu führte, dass die drei ehemaligen Sowjetrepubliken gar in die NATO eintreten konnten, ohne dass dies von nennenswerten Moskauer Drohungen begleitet worden wäre, kann Spohr Readman aufgrund ihrer Zäsur im Jahre 2000 nicht mehr eingehen. Allerdings dürfte für diese Wende ohnehin eher die US-Diplomatie verantwortlich gewesen sein als die Berliner Kollegen.
Trotz aller Kritik fällt die abschließende Wertung der Arbeit positiv aus. Die Arbeit hat zweifellos die Qualität eines Referenzwerks für die Ostpolitik der Bundesrepublik in den 1990er Jahren, schon aufgrund der imponierenden Materialfülle und der stringenten Komposition des Stoffes. Hans-Dietrich Genschers Vorwort (!) wird nach der Lektüre zum Quellentext sui generis, kommen doch die in einem leicht patriarchalischen Ton gehaltenen Worte des ehemaligen Außenministers über Bonns bzw. Berlins Verhältnis zum Baltikum glatt ohne den Hinweis aus, dass Kohls Realpolitik dem deutsch-baltischen Honeymoon entgegenarbeitete. Hieran schließen sich eine grundsätzliche Frage an, die wahrscheinlich jedoch erst nach Ablauf der üblichen Sperrfristen gelöst werden kann: Gab es überhaupt eine Abstimmung der Politik zwischen Kanzleramt und Außenministerium in Bezug auf die baltischen Staaten? Oder blieb Genscher und Kinkel nur die Reaktion auf des Kanzlers Aktionen?
Spohr Readmans Analyse der ersten zwei Jahre Rot-grüner Ostpolitik schließlich kommt über vage Andeutungen nicht hinaus. Heute wissen wir, dass auch Kanzler Schröder die Beziehungen mit Moskau als Chefsache ansah und seinem Außenminister den Platz auf Putins Datscha streitig machte. Markus Wehner schrieb aus Anlass des im September 2005 unterzeichneten deutsch-russischen Vertrages über die Ostsee-Gaspipeline: „Schröder hat mit seiner unkritischen Haltung zu Putin das aus historischer Erfahrung gespeiste Mißtrauen der Polen und Balten gestärkt. Daß die Ängste vor einer Achse Berlin-Moskau bei diesen Nachbarn nicht vergehen, ist auch ein Ergebnis seiner Kanzlerschaft.“ 1. Auch in Bezug auf Schröders Beziehung zu Putin wird oft von einer „Männerfreundschaft“ gesprochen; ein außenpolitisches Konzept, das auch von Spohr Readman oft erwähnt, aber keiner Analyse unterzogen wird. Die Wissenschaft darf wohl kaum bei der Konstatierung dieses Fakts als der Grundlage der deutsch-russischen Beziehungen stehen bleiben. Russlandpolitik als des deutschen Bundeskanzlers Privatangelegenheit? Zumindest in diesem Punkt ist die Kontinuität deutscher Ostpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges bestechend.
1 Markus Wehner, Putin, Öl und polnische Ängste, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.9.2005, S. 14.