P. Judson u.a. (Hgg.): Constructing Nationalities in East Central Europe

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Title
Constructing Nationalities in East Central Europe.


Editor(s)
Judson, Pieter M.; Rozenblit, Marsha L.
Series
Austrian and Habsburg Studies 6
Published
Oxford 2005: Berghahn Books
Extent
293 S.
Price
$75.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Markus Krzoska, Mainz

Der vorliegende Band mit 15 Beiträgen geht auf eine Tagung mit dem Titel „Dilemmas of East Central Europe: Nationalism, Dictatorship and the Search for Identity“ zurück, die im März 2000 an der Columbia University stattfand und die vom dortigen Harriman Institut, dem Departement of History dieser Universität sowie dem Center for Austrian Studies an der University of Minnesota veranstaltet wurde.

Tagung und Band sind dem Doyen der amerikanischen Ostmittel- und Südosteuropaforschung István Deák gewidmet, der wie kein Zweiter die diesbezügliche Wissenschaftslandschaft der USA in den letzten Jahrzehnten geprägt hat. Seine These aus dem Jahre 1967, dass es keine dominanten Nationalitäten in der Habsburgermonarchie gegeben habe, sondern nur dominante Klassen, Stände, Institutionen, Interessengruppen und Berufe, hat einem ganzen Forschungszweig eine neue Richtung gegeben und im Laufe der Zeit dazu geführt, die allumfassende Rolle des Nationalismus vor allem für das 19. und das frühe 20. Jahrhundert immer stärker zu hinterfragen.

Dem österreichisch-ungarischen Staat widmen sich insgesamt neun Beiträge. Diese sowie zwei weitere zum Ungarn der Zwischenkriegszeit und je einer zu den deutschen Ländern vor 1871 und zur Tschechoslowakei nach 1945 werden durch den im Titel vorgegebenen Begriff der Konstruktion von Nationalitäten sehr gut zusammengehalten. Die beiden übrigen Texte zur ungarischen wissenschaftlichen Kollaboration bzw. zur deutschen Besatzungspolitik im Generalgouvernement passen thematisch eher nicht in das Buch und werden deshalb in dieser Rezension auch nicht behandelt.

In seiner Einleitung gibt Pieter M. Judson Schwerpunkte vor. An erster Stelle nennt er die Prämisse, Nationalismus nicht als etwas Selbstverständliches zu begreifen, sondern ihn neben weiterhin existierenden traditionellen Formen von Selbstidentifikation zu betrachten, die vor allem aus dem sozialen Bereich stammen. Die besondere Rolle der Habsburgermonarchie steht hier außer Frage, denn besonders in der zisleithanischen Reichshälfte zog sich die Auseinandersetzung zwischen den „modernen“ Kräften, die für eine Nationalisierung aller Lebensbereiche plädierten, und den beharrenden Kräften in der Staatsführung lange hin. Letztlich war es aber doch der Staat selber, der quasi wider Willen dem nationalen Prinzip zum Sieg verhalf, indem er z.B. sprachliche und nationale Kategorien gleichsetzte, etwa in den verschiedenen Sprachenverordnungen für Böhmen oder im „Mährischen Ausgleich“ von 1905. Judson fragt danach, wie es möglich war, dass die Nationalisten die Meinungsführerschaft in bestimmten Regionen erlangten, was an ihren Konzepten so besonders attraktiv war und weshalb so viele Wissenschaftler bis zum heutigen Tag den Konstruktionscharakter von Nation nicht erkennen. Als vorläufige Antworten verweist er auf die die Verbindung nationaler mit sozialen und regionalen Elementen sowie die „harte Arbeit“ der Nationalisierer vor Ort, die nichtsdestotrotz zunächst bei weitem nicht so erfolgreich war, wie diese es sich ausgemalt hatten.

Die meisten der in dem Band versammelten Artikel behandeln ein Forschungsfeld ein, das für die Habsburg- und die Ostmitteleuropaforschung insgesamt von großer Bedeutung ist. Einige der Autoren haben ihre Thesen mittlerweile in größeren Arbeiten dargelegt, leider tauchen diese aber in den Fußnoten nicht auf. Den Anfang macht der äußerst informative Beitrag von Michael K. Silber über den jüdischen Militärdienst in der Ära Josephs II. Er zeigt darin die Zusammenhänge zwischen den innerjüdischen Auseinandersetzungen (Haskala versus Orthodoxe) und den vom Kaiser und seinen Beratern auch gegen die Widerstände im eigenen Staatsapparat vorangetriebene Gleichberechtigungsbestrebungen, die freilich auch einen konkreten verteidigungspolitischen Hintergrund hatten. Das Versprechen, die Juden im Ausgleich für ihre Bereitschaft zum Militärdienst zu gleichwertigen Staatsbürgern zu machen, erfüllten die Nachfolger Josephs freilich unter ganz anderen Umständen erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung nationaler Symbolik während der ungarischen Revolution von 1848/49 skizziert Robert Nemes. Dabei schildert er zwar die revolutionären Ereignisse und insbesondere die symbolischen Maßnahmen in Pest und Buda genau, vermag sich dabei jedoch leider nicht vom nationalungarischen Geschichtsbild zu lösen und verweist nur in einigen wenigen Zeilen auf „unnationales Verhalten“ einiger ungarischer Frauen, die ausländische gegenüber einheimischer Literatur bevorzugt hätten, weswegen sie scharf angegriffen worden seien.

Daniel McMillan referiert die Geschichte der Turnerbewegung in den deutschen Staaten vor 1871, die er in einen Zusammenhang mit der leicht angegilbten „Sonderwegs“-Theorie bringt. Auch seine Vermutung, der zunehmende Biologismus dieser Bewegung bei gleichzeitiger politischer Abstinenz habe massiv zur Veränderung des deutschen Nationalismus beigetragen, ist nicht ganz neu, in ihrem Grundbefund, aber zuletzt auch in der Arbeit von Christian Geulen bestätigt worden.1

Wieder näher an das eigentliche Thema heran führt der Text von Eagle Glassheim über das Verhalten des böhmischen Adels „zwischen Kaiser und Nation“. Er knüpft dabei nicht nur an den seit einigen Jahren verstärkt geführten Diskurs über die Gründe des adligen „Oben-Bleibens“ im nachrevolutionären Zeitalter an, sondern untersucht zugleich nuanciert die Verhaltensweisen der Adligen im deutsch-tschechischen „Nationalitätenkampf“. Am Beispiel der Schwarzenbergs und anderer Familien zeigt Glassheim die verschiedenen Optionen der Einflussnahme auf die Politik, die letztlich in erster Linie alle dem Ziel der Bewahrung der wirtschaftlichen Grundlagen der Familie dienten.

Pieter M. Judsons Mikrostudie über die Entwicklung der Passionsspiele von Höritz im Böhmerwald illustriert anknüpfend an andere Arbeiten von ihm die wachsende Bedeutung des Tourismus bei den Versuchen zur „Nationalisierung der Landschaft“, besonders in den reizvollen, gleichwohl abgelegenen Regionen der Habsburgermonarchie. Die Versuche zur „Stärkung des Deutschtums“ trugen jedoch nicht die erwarteten Früchte, vielmehr stärkte der Publikumserfolg der Theateraufführungen eher das Selbstwertgefühl der sozial benachteiligten Landbevölkerung.2

Cynthia Paces und Nancy M. Wingfield untersuchen in ihrem Beitrag über Regionalismus und Nationalismus in den böhmischen Ländern zwischen 1880 und 1920 den Kampf um die Deutungshoheit über die Vergangenheit in der Form von Denkmälern in erster Linie anhand der Kulte um Kaiser Joseph II. und Jan Hus. Interessant ist hierbei nicht nur die Schwerpunktverschiebung beim Kaiser vom Bauernbefreier zum „Deutschen“, sondern auch die Ausgrenzung der katholischen Tschechen beim Hus-Kult, die mit einer Zerstörung vieler „habsburgischer“ Marien- und Nepomuk-Statuen nach 1918 einherging.3

Claire E. Nolte und Daniel Unowsky schildern in Anknüpfung an ihre wichtigen Arbeiten zur tschechischen Sokol-Bewegung bzw. zu den Franz-Josephs-Feiern zwischen 1848 und 1916 das Scheitern des Neoslavismus an den internen nationalen Gegensätzen und der Bewertung der Rolle Russlands sowie die offiziellen Pläne für die Jubiläumsveranstaltung zur 50-jährigen Thronbesteigung des Kaisers 1898, die vor allem der Erzeugung eines supranationalen habsburgischen Gemeinschaftsgefühls dienen sollten.4 Alon Rachamimov geht der Frage nach, welche Rolle die k.u.k.-Zensur während des Ersten Weltkriegs spielte und wie sich insbesondere die revolutionären Veränderungen in Russland auf die zahlreichen dortigen Kriegsgefangenen der Habsburgermonarchie auswirkte.5 Marsha L. Rozenblit beschreibt die österreichischen Juden als einzig wahre Kämpfer für den existierenden Staat während des Ersten Weltkriegs. Die Beiträge von Paul Hanebrink und David Frey zur ungarischen Identitätssuche nach Trianon beziehen sich auf Fragen der Rolle der Konfessionen im „christlich-nationalen“ ungarischen Staat und die Veränderungen in der ungarischen Filmindustrie, die immer stärker nationale Projekte verwirklichen sollte, dies aber erst nach der Verdrängung der dominierenden jüdischen Künstler und Unternehmer in Angriff nahm, ohne nachweisbare Ergebnisse zu produzieren.

Benjamin Frommers abschließender Beitrag über die neu erfundene Kategorie der „nationalen Ehre“ in der Tschechoslowakei nach 1945 und der Rolle des „Kleinen Dekrets“ (malý dekret) zur Disziplinierung der tschechischen Bevölkerung verbunden mit einer Ausgrenzung der nationalen Minderheiten, die die ethnische Säuberung des Landes erleichterte, zeigt, dass sich die Bedingungen für die Konstruktion nationaler Elemente durch den Zweiten Weltkrieg zwar verändert hatten, im Kern aber weiterhin zumindest zeitweise funktionierten, bis sie durch die offizielle marxistisch-leninistische Terminologie für etwa 40 Jahre überformt wurden, ohne jedoch gänzlich zu verschwinden, wie die Entwicklung auch in Tschechien nach 1989 bewiesen hat.6

Insgesamt gesehen ist ein Sammelband entstanden, der eindrucksvoll das Profil einer neuen Generation von Habsburg-Forschern in den USA deutlich macht, die eng mit verschiedenen Theorieansätzen der Nationalismusforschung verzahnt ist. Ob es ihr gelingt, die in der deutschen Geschichtswissenschaft traditionell kaum vorhandene Wahrnehmung des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn zu verbessern, wird auch vom persönlichen Einsatz dieser Wissenschaftler für eine stärkere Präsenz Habsburgs in der scientific community abhängen.

Anmerkungen:
1 Geulen, Christian, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004; siehe dazu auch die Rezension von Patrice G. Poutrus auf H-Soz-u-Kult (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-219).
2 Judson, Pieter M., Exclusive Revolutionaries. Liberal Politics, Social Experience, and German Nationalism in the Austrian Empire, 1848-1914, Ann Arbor 1996; Ders., Nationalizing Rural Landscapes in Cisleithania, 1880-1914, in: Wingfield, Nancy M. (Hg.), Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in the Habsburg Central Europe, New York 2003, S. 127-148. Der Autor bereitet zudem eine Arbeit über die Idee der Sprachgrenze in Österreich-Ungarn nach 1880 vor.
3 Leider fehlt im Text der Hinweis auf Nancy Wingfields weiterführenden Artikel zur Geschichte der Kaiser-Joseph-Denkmäler: Wingfield, Nancy, Statues of Emperor Joseph II as Sites of German Identity, in: Dies., Bucur, Maria (Hgg.), Staging the Past. The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe, 1848 to the Present, West Lafayette 2001, S. 178-205.
4 Vgl. hierzu Nolte, Claire E., The Sokol in the Czech Lands to 1914. Training for the Nation, New York 2002; Unowsky, Daniel, The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg, Austria (1848-1916), West Lafayette (erscheint im September 2005). Leider erwähnt Unowsky einen Aufsatz nicht, der den seinen wunderbar ergänzt: Beller, Steven, Kraus’ Firework. State Consciousness Raising in the 1908 Jubilee Parade in Vienna and the Problem of Austrian Identity, in: Staging the Past (wie Anm. 2), S. 46-71;
5 Siehe auch Rachamimov, Alon, POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front, Oxford 2002.
6 Zu den Folgen für die tschechische Gesellschaft siehe auch Frommer, Benjamin, National Cleansing. Retribution against Nazi Collaborators in Postwar Czechoslovakia, Cambridge 2005, sowie Abrams, Bradley F., The Struggle for the Soul of the Nation. Czech Culture and the Rise of Communism, Lanham 2004.

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14.10.2005
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