Die Diskussionen um die Stasi-Akten der „Aktion Rosenholz“ haben einmal mehr bewiesen, welche Brisanz das Thema der Aktenbeute sowie ihrer Auswertung und Edierung in zivilgesellschaftlicher sowie politischer Perspektive hat. Die Debatte zeigt, dass den Akten der jeweils jüngsten Vergangenheit immer auch eine immense Bedeutung innerhalb der gesellschaftlichen Deutung und Erinnerung der Zeitgeschichte zugesprochen wird. Zu diesem Ergebnis kommen – trotz unterschiedlicher Fragestellung – auch die beiden vorliegenden Studien: Astrid M. Eckert bezüglich des Schicksals der deutschen Akten in den Händen der Westalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg und Sacha Zala mit einem international vergleichenden Blick auf staatliche Akteneditionen. Eine gemeinsame Lektüre der Werke vermag den Zugang zum Zusammenhang von Quellenmaterial, Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert enorm zu steigern und zu bereichern. So legen beide die Wechselbeziehungen zwischen staatlich-administrativen Entscheidungen und Geschichtswissenschaft im westlichen Raum offen, und beide betten das Thema der Quellen- und Archivzugänglichkeit in die politischen Auseinandersetzungen um die Deutungsmacht von Geschichte ein.
Astrid M. Eckert ist im Moment am Deutschen Historischen Institut in Washington tätig, ihre Studie, die mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde, ist 2003 von der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen worden. Sie widmet sich dem Thema der Rückgabe deutschen Archivguts, das den Westalliierten bei der Eroberung Deutschlands im Frühjahr 1945 in die Hände fiel und das sie in den 50er Jahren Schritt für Schritt und nach langwierigen Verhandlungen zurückgegeben haben. Dabei fokussiert die Autorin auf die Zeit zwischen 1944 und 1958. Sie beginnt also mit der Beschlagnahmung der Akten und dem anschließenden Transfer – ein Vorgang, der zwar sehr geplant war, aber nicht immer zielgerichtet vonstatten ging, da hier offenbar unterschiedliche Interessen (Alliierte Feindaufklärung, Nachrichtendienst, historisch-wissenschaftliche Interessen und Industriespionage) miteinander kollidierten. Sie konzentriert sich auf die westalliierten Interessen an den Akten und fängt den Zusammenhang zwischen politischer Machtentfaltung und Geschichtswissenschaft bei der Rekonstruktion der Herausgabeumstände der „Documents on German Foreign Policy“ ein. Anschließend schildert sie die deutschen Rückgabeforderungen und die ersten Verhandlungen zwischen Besatzern und Besetzten und beschreibt die Verzögerung der Rückgabe des Archivguts entlang der zunehmenden Souveränität der Bundesrepublik. Während tagespolitisch der Deutschlandvertrag und ein Sitz Deutschlands im Verteidigungsrat zur Debatte standen, verzögerte sich die Rückgabe erster größerer Lieferungen von Archivgut bis 1956. Die Gründe für die Verzögerung sieht Astrid M. Eckert zum einen in der komplizierten Interessenlage der Briten, insbesondere dem Starrsinn britischer Historiker sowie dem britischen Interesse an der so genannten Windsor-Akte. Diese deutsche Akte enthält Geheimdienstmaterial über den Herzog von Windsor und dessen Kontakte zum ›Dritten Reich‹, nachdem er als König Edward VIII. 1936 abgedankt hatte. Einen anderen entscheidenden Punkt für die lange Verhandlungsführung über die Rückgabe der Akten macht die Autorin in der Haltung der bundesdeutschen Regierung fest. Diese habe durch ihre »kategorische Maximalforderung« (S. 181, passim), also der Forderung nach der sofortigen Rückgabe des gesamten beschlagnahmten Archivguts, die Verhandlungsmöglichkeiten der Alliierten zu sehr eingeschränkt. Die Akten waren in verschiedene Ministerialbehörden sowie Bibliotheken und Museen der Alliierten eingliedert worden, zudem waren die Alliierten durch ein Abkommen vom Mai 1945, auf deren Einhaltung insbesondere die Briten pochten, bei Entscheidungen aneinander gebunden. Diese beiden Faktoren behinderten die Verhandlung der Aktenrückgabe als Gesamtheit. Hätten die Deutschen, so Astrid M. Eckert, nach und nach jeweils konkrete Aktenbestände zur Rückgabe angesprochen und v. a. die Akten des Auswärtigen Amtes sowie die militärischen Akten einzeln verhandelt, wie es letztlich Ende der 50er Jahre auch geschehen ist, wäre womöglich früher Bewegung in den rückwärtigen Transfer gekommen (S. 167-316).
Viel gewichtiger jedoch als das Verfechten dieser These erscheint erstens das konsequent und brillant geführte Aufdecken der Vernetzung von Archivaren und Historikern der NS-Zeit in die Geschichtswissenschaft der frühen Bundesrepublik. Über personelle Kontinuitäten hinweg vermag sie die Verankerung von nationalem Geschichtsdenken bezüglich des Anspruchs auf die Deutungsmacht von Geschichte aufzuzeigen. Sie skizziert zweitens die Diskussion um eine richtige oder falsche Nationalgeschichtsschreibung anhand der Positionen deutscher sowie ausländischer (westlicher) Historiker zur jüngsten deutschen Vergangenheit. Sie problematisiert zugleich, dass der ab den 50er und 60er Jahren international mögliche Zugang zu deutschen Archivmaterialien alsbald vom Kalten Krieg gezeichnet war – je nachdem, von welcher Seite des Eisernen Vorhangs Einsichtnahme in die Akten beantragt wurde. Drittens ist hervorzuheben, dass Astrid M. Eckert überzeugend die moralische und symbolische Bedeutung herausarbeitet, die den Akten im Zuge der erfolgreichen deutsch-alliierten Verhandlungen und der politischen Emanzipation der Bundesrepublik zugesprochen wurde. Für die Bundesregierung seien die Verhandlungen ein Bestandteil ihrer Politik der Abgrenzung von der Zeit alliierter Fremdherrschaft gewesen, der „hohe Symbolcharakter gerade der Akten des Auswärtigen Amtes machte die Rückgabeforderung zu einer Frage des nationalen Prestiges“ (S. 457).
Von der Symbolträchtigkeit staatlichen Aktenmaterials handelt auch die Studie von Sacha Zala (jetzt im Istituto Svizzero di Roma), dessen Dissertation 1999 von der Universität Bern angenommen wurde. Mit einem großen, internationalen Fokus geht er amtlichen Akteneditionen auf die Spur. Sacha Zala richtet den Blick auf das Spannungsverhältnis von Geschichtsforschung und Politik, indem er die Editionen amtlicher Quellen zur Außenpolitik anschaut. Es gelingt ihm so, die Beziehungen zwischen den Prinzipien des Historikers als Wissenschaftler und den Interessen der politisch Opportunen, der Staatsräson, einzufangen. Er rekonstruiert jene Editionsprojekte, bei denen der Staat auf die Arbeit der Historiker als Herausgeber von amtlichen Akteneditionen Einfluss genommen hat. Diese Konfliktfälle arbeitet er chronologisch für die Zeitspanne zwischen 1800 und 1960 heraus. Eckpunkte sind dabei zunächst die Publikationen von Farbbüchern, dann die klassischen Akteneditionen der Großen Mächte, die im Zuge der Kriegsschuldkontroverse nach dem Ersten Weltkrieg produziert wurden, und abschließend das internationale Publikationsunternehmen der „Documents on German Fereign Policy“, das auch für die Arbeit von Astrid M. Eckert von zentraler Bedeutung ist. Astrid M. Eckert geht jedoch bei ihrer Lesart der Quellen zu den Editionsbedingungen der „Documents on German Foreign Policy“ nicht über die Forschungen von Sacha Zala hinaus, was eine ähnliche Bearbeitung der Bereiche zum Loesch-Film, zur Windsor-Akte und zu der Überprüfung der deutschen Aktenedition „Die Große Politik der Europäischen Kabinette“ bedeutet. Sie konzentriert sich, so lassen sich die beiden Arbeiten voneinander abgrenzen, auf ein spezifisch deutsches Thema, das Sacha Zala durch den internationalen Vergleich in einen breiten Kontext zu stellen vermag. Sacha Zala zeigt, dass die Entscheidungsprozesse für das Verlegen großer Akteneditionen nach dem Ersten Weltkrieg, immer von politischen Überlegungen bestimmt waren und die Herausgabe der „Documents on German Foreign Policy“ von westalliierter Seite mit dem gleichen, nun politisch etablierten, propagandistischen Szenario herausgegeben wurden.
Denn trotz des ungleichen Zusammenspiels zwischen professionellen Historikern und staatlichen Interessen konnten die Akteure nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Herausgabe der „Documents on German Foreign Policy“ einen hohen Objektivitätsstandard erreichen, der vorangegangenen Editionsprojekten noch nicht gegeben war. Um diesen historischen Verlauf zu zeigen, arbeitet Sacha Zala zunächst die Funktion der europäischen Farbbücher im 19. Jahrhundert heraus, die innenpolitischen Interessen dienten und jeweils nicht den heute üblichen wissenschaftlichen Editionsstandards entsprachen. Die in den Farbbüchern enthaltene Aktenauswahl wurde auf Grund unterschiedlicher tagespolitischer Interessen bereinigt und gefälscht, und die Editionen wurden zumeist nicht von professionellen Historikern besorgt. Eine Abkehr von diesen Gepflogenheiten setzte im Zuge der Kriegsschuldkontroverse mit der Herausgabe der „Großen Politik der Europäischen Kabinette“ ein, die trotz der eindeutigen zensurellen Einflussnahme durch den Staat eine Professionalisierung des Historikerberufs einerseits und eine Verwissenschaftlichung editorischer Praktiken andererseits bewirkte. Sacha Zala arbeitet diese Erkenntnis auch für die französischen, US-amerikanischen, britischen Akteneditionen heraus, indem er die innen- und außenpolitischen Einflüsse bei ihrer Edition nachzeichnet. Er fokussiert auf den Umgang der Staatsräson mit den Editoren, indem er das jeweils unterschiedliche Angestelltenverhältnis in Form von Beamten oder Historikern problematisiert und die dann resultierenden Spannungen zwischen den deontologischen Prinzipien des Wissenschaftlers und den politischen Interessen des Staates herausarbeitet.
Bei den „Documents on German Foreign Policy“ schließlich habe die einzigartige Konstellation eines internationalen Editionsprojektes die Objektivitätsfragen zugunsten unabhängiger Historiker befördert. Auch wenn diese Edition keineswegs ohne politisch inszenierte Interessen gelesen werden kann, so sorgte „die Professionalisierung der Arbeit der Historiker als (amtliche) Herausgeber [...] für eine weitgehende Emanzipation der Herausgeber von ihrer jeweiligen auftraggebenden Regierung und ermöglichte somit einen höheren Objektivitätsstandard.“ (S. 333) Zwar haben sowohl westalliierte Interessen (wie im Falle der Briten mit der Windsor-Akte) die Veröffentlichung von Dokumententeilen zu verhindern gesucht, doch konnten sich die Historiker – wenn auch mit Verzögerung – bei ihrer Veröffentlichung jeweils durchsetzen. Anders verhielt es sich jedoch bezüglich der Interessen neutraler Staaten, wie der Schweiz, die eine Veröffentlichung von den ihre Neutralität belastenden Dokumenten zu verhindern suchten, und denen die Diplomaten der beteiligten Staaten im Zuge des Kalten Krieges nachzugeben gewillt waren.
Beide Dissertationen problematisieren also das schwierige Verhältnis von amtlich angestellten Historikern und Archivaren zu ihren auftraggebenden Staaten. Sie reflektieren über die Rolle der Geschichtswissenschaft als Legitimationsbasis einer Gesellschaft und analysieren die Aspekte, die eine Deutungsmacht über eine national orientierte, politische Geschichte ausüben. Gleichzeitig zeigen sie, dass wir gut daran tun, die methodische Vielfalt des Faches aufrecht zu erhalten, um solche Zusammenhänge von mehreren Seiten hinterfragen zu können.