Es gibt wohl kaum einen Begriff aus der politischen Sprache der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der gegenwärtig als so altmodisch gilt wie der des Multikulturalismus. Das damit verbundene politische Projekt einer ethnischen Pluralität der Gesellschaft wurde in Deutschland bereits vor seiner Umsetzung für gescheitert erklärt. Trotz oder vielleicht gerade wegen der allgemeinen Rede von Globalisierung und Wirtschaftsliberalismus feiern auch in anderen Staaten die Forderungen nach Anpassung und Assimilation von MigrantInnen fröhlich Auferstehung.
Mit Blick auf diesen aktuellen Hintergrund präsentiert Christiane Harzig eine historisch vergleichende Habilitationsschrift, in der sie danach fragt, wie es in Kanada, den Niederlanden und Schweden dazu kommen konnte, dass die von der Entwicklung der transnationalen Migration herausgeforderte Politik dieser drei Nationalstaaten in den 1970er und 1980er-Jahren dazu überging, vom Idealbild einer ethnisch homogenisierten Gesellschaft Abstand zu nehmen und einen realpolitischen Multikulturalismus zu entfalten. Das ehemalige Auswanderungsland Schweden und die vormalige Kolonialmacht Niederlande fungieren in dieser Analyse durchaus bewusst als Referenz zum zentralen Beispiel Kanada, einem klassischen Einwanderungsland. Implizit steht dabei aber auch die Frage im Raum, warum es in der Bundesrepublik nicht zu einer solchen Entwicklung kam.
In ihrer Untersuchung stützt sich Harzig auf das Konzept der politischen Kultur, das sie plausibel aus der politikwissenschaftlichen Forschung herleitet und für die vergleichende Untersuchung der ausgewählten Nationalstaaten in Anwendung bringt. Dabei unterscheidet sie anknüpfend an Karl Rohe politische Sozial- und Deutungskultur. Die Sozialkultur sieht sie als undiskutierbare Selbstverständlichkeit in der Gesellschaft, die auf den historischen Erfahrungen und Deutungsangeboten von Mobilität, interkulturellen Kontakten und kultureller Differenz in der Entstehung und Entwicklung der jeweiligen Gesellschaften und Staaten basiere. Dabei geht Harzig der spezifischen Prägewirkung dieser Pfade vom 16./17. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nach. Diesen zumindest kurzfristig statischen Teil der politischen Kultur sieht sie in Interaktion mit dem prozessualen Teil, der Deutungskultur. Im Prozess der politischen Gestaltung von Migration würden dabei die Handelnden auf die Sozialkultur in politischen wie intellektuellen Diskursen Bezug nehmen – teils bestätigend, teils in Frage stellend.
Ihrem Konzept folgend schildert Harzig in einer Art Tour d’Horizon (Kapitel 2-4), wie in den Niederlanden, in Schweden und vor allem in Kanada die verschiedenen Erfahrungen mit Migration und kultureller Differenz einhergingen mit einer sich entwickelnden Kultur des politischen Ausgleichs. Keinesfalls wurde damit in diesen Staaten die dominierende Vorstellung von einer nach innen ethnisch homogenen Nation vermieden. Allerdings wurde durch die sich ausweitende Partizipation von verschiedensten gesellschaftlichen Interessengruppen im parlamentarischen System auf lange Sicht ein Pfad gelegt, der in diesen Ländern die Möglichkeit schuf, die permanente Spannung zwischen nationalem Ideal und gesellschaftlicher Wirklichkeit jenseits eines „clash of cultures“ zu verhandeln.
Die jeweiligen Anlässe für die politische Wende zum politischen Multikulturalismus waren in den drei Ländern höchstverschieden und sind in Harzigs Darstellung der eigentliche Kern der Untersuchung (Kapitel 5-7). In den Niederlanden war die Jugendrevolte molukkischer Migranten Mitte der 1970er-Jahre der Ausgangspunkt für einen Perspektivwandel in der Integrationspolitik. In Schweden führten Veränderungen am Arbeitsmarkt und eine sich verstetigende Arbeitsmigration, insbesondere aus Finnland, zu einer allmählichen Abkehr vom handlungsleitenden Ideal der ethnisch homogenen Gesellschaft. Schließlich führte in Kanada der sich in den 1960er-Jahren zuspitzende Konflikt um die Selbstbehauptungsansprüche der frankophonen Minderheit gegenüber der anglophonen Mehrheit auf lange Sicht zu einer universalisierten Politik des Multikulturalismus. Gemeinsam war den drei Fällen, dass dieser politische Prozess von einer erleichterten Integration in die Ankunftsgesellschaft zu einer aktiven Anerkennung von ethnischer und kultureller Differenz führte. Im achten Kapitel verlässt Harzig dann die strikte Gliederung ihrer Untersuchung nach Ländern und weist die Bedeutung des Differenzierungsmerkmals Geschlecht auf dem Feld der Migrationspolitik nach.
Insgesamt beruht der Erklärungsansatz auf dem Primat der Innenpolitik, geht aber über die reine Politikfeldanalyse hinaus. Es geht Harzig somit nicht allein um die Darstellung von Einwanderungsbewegungen und den daraus folgenden Entscheidungen in den drei Staaten, sondern auch um die Einbindung der handelnden Akteure in die politischen und institutionellen Strukturen. Mit dem Bezug auf die politische Kultur der untersuchten Staaten gibt Harzig nicht nur eine komplexe Erklärung von migrationspolitischen Entscheidungsprozessen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Vielmehr wird auf der Grundlage eines beeindruckenden Wissens um die Geschichte dieser drei Staaten die Ausprägung der jeweiligen nationalen politischen Kultur anhand des Themas Migrationspolitik deutlich. Gerade wegen dieser wissenschaftlichen Leistung ist es umso ärgerlicher, dass Harzig die geschichtswissenschaftliche Literatur zum Vergleich nicht zur Kenntnis genommen hat bzw. glaubt, dass sie mit ihrer Arbeit tatsächlich methodisches Neuland für die Zeitgeschichte betrete. Hier fehlte es offensichtlich an einer transdisziplinären Perspektive, die vielleicht auch zu einer pointierten Synthese verholfen hätte. Davon bleibt das zentrale Verdienst dieses Buches aber unberührt: Christiane Harzig hat gezeigt, dass Migration nicht nur als Untersuchungsfeld für Spezialisten von Bedeutung sein kann, sondern Erklärungen für zentrale Aspekte der Zeitgeschichte liefert.