Seit Ende des 19. Jahrhunderts ersannen Einwanderungsländer Definitionen, mit deren Hilfe sie zwischen erwünschten und unerwünschten Migranten unterschieden, um so „die Spreu vom Weizen“ zu trennen, wie der sprechende Obertitel der von Philippe Rygiel herausgegebenen elektronischen und gedruckten Publikation lautet. Definitionen, Auswahl, Steuerung und Verwaltung verschiedener Einwanderergruppen im Frankreich der Dritten Republik werden darin analysiert, mit einem Seitenblick auf Deutschland und Brasilien. Die Aufsätze gehen auf Vorträge zurück, die in den Jahren 1997 bis 1999 in einem sozialgeschichtlichen Seminar über Einwanderung an der Pariser École normale supérieure gehalten wurden.
Im ersten Teil der Veröffentlichung wird in drei Aufsätzen „Die Definition der Unerwünschten“ nachgezeichnet. Einleitend stellt Philippe Rygiel Gesetzgebung und Praxis der großen Einwanderungsländer in der Auswahl ihrer Migranten gegenüber. Demnach ergriffen die USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Frankreich ähnliche Maßnahmen zur Kontrolle von Anzahl und Zusammensetzung der Einwanderergruppen. Ziel war es nicht nur, bestimmte Einwanderer gar nicht erst ins Land zu lassen, sondern auch bereits legal eingewanderte Personen wieder auszuweisen, und zwar ohne dass diese sich etwas zu Schulden hatten kommen lassen. Die Debatten in den einzelnen Ländern verliefen ähnlich: Durch die Einwandererströme sah man das nationale Gleichgewicht, die Sitten und die Demokratie bedroht, und so glichen sich auch – allerdings außerhalb rassischer und ethnischer Überlegungen – die Kriterien, die die Einwanderer erfüllen mussten: Gesundheit, intakte Moral und keine Berührung mit sozialen Bewegungen, um auszuschließen, dass sich Migranten an politischen und gewerkschaftlichen Kämpfen beteiligten (S. 13).
Die Entstehung der Nationalstaaten mit ihren dazugehörigen Staatsbürgern, die Ausbildung der Lohngesellschaften und die Notwendigkeit, auf äußere Arbeitskräfte zurückgreifen zu müssen, führten zu jenen immer komplexer werdenden Einwanderungspolitiken, die gleichzeitig Wirtschaftspolitik, Maßnahmen zum Schutz der nationalen Arbeit sowie in einigen Fällen auch Kolonialpolitik waren. Trotz frappierender Gemeinsamkeiten variierten die Motive und die von den einzelnen Staaten errichteten Barrieren, je nach historischem, ideologischem und politisch nationalem Kontext.
Das zeigt sich anschaulich in den beiden Artikeln über Deutschland und Brasilien. Zunächst folgt der Überblick über die Entwicklung des Einbürgerungs- und Aufenthaltsrechts in Deutschland von 1870 bis 1944 (und nicht 1914, wie es im Titel und im Inhaltsverzeichnis heißt). Michael Esch stellt sich dieser anspruchsvollen Aufgabe. Publikationen neueren Datums 1 mussten unberücksichtigt bleiben, wie er selbst anmerkt, und so erweist sich die lange Produktionszeit der Publikation (immerhin fünf Jahre) als nachteilig. Einen Schwerpunkt legt Esch auf die restriktive preußische Politik gegenüber den polnischen und osteuropäischen Einwanderern, denen damals eine kulturelle Unterlegenheit zugeschrieben wurde. Darin sieht er die Vorgeschichte für die ab 1933 ausschließlich biologische Definition der deutschen Nationalität. Interessant ist die spezifische Sprache und ihre Begriffe, die teilweise nur in Deutschland Anwendung fanden, und im vorliegenden Aufsatz – da oftmals unübersetzbar – zu recht im Original gelassen wurden.
Jair da Souza Ramos untersucht die Politik der Auswahl von Migranten, wie sie in der Zeit von 1850 bis 1934 in Brasilien praktiziert wurde. Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tauchten Kategorien auf, die den erwünschten Einwanderer (weiß, Landwirt, untertänig) und den unerwünschten Einwanderer (zurückgebliebener Rasse, nicht zivilisiert und minderwertig) beschrieben (S. 47). Diese Kriterien wurden im Laufe der Zeit verfeinert, wobei besonders der rassischen Klassifizierung eine besondere Bedeutung zukam. Interessant ist die große Angst der konservativen Eliten vor dem ansteckenden Virus „Revolution“, die dazu führte, dass man eine Masseneinwanderung von Arbeitern verhindern wollte.
Der zweite Teil der Publikation – überschrieben mit „Les étrangers dans la société française – versammelt Fallstudien zur Einwanderungspolitik der Dritten Republik. Die ersten drei Artikel widmen sich verschiedenen Einwanderungsgruppen: Amerikanern (Nicole Fouché), Algeriern (Geneviève Massard-Guilbaud) und Polen (Yves Frey). In der Gegenüberstellung zeigen sich unterschiedliche Wahrnehmung und Behandlung der Migranten durch die französische Politik und Verwaltung. Die drei letzten Artikel sind Lokalstudien über die Departements Cher (Philippe Rygiel), Ardennen (Claudine Pierre) und Rhône (Mary Lewis) und die dortige Anwendung der auf nationaler Ebene beschlossenen Maßnahmen zur Einwanderung. Hier liegt eine Stärke der Publikation, die sich nicht mit einer Analyse von Gesetzestexten und Parlamentsdebatten begnügt, sondern die konkrete Umsetzung der Regelungen nachvollziehbar werden lässt. Jüngst hat dies auch Alexis Spire eindrucksvoll für den Zeitraum von 1945-1975 getan 2.
In den Studien zeigt sich, wie Regierung und Verwaltung in der Zeit der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre versucht haben, die Anzahl der in der nationalen Industrie überzähligen Arbeiter zu verringern und zwischen gewünschten und unerwünschten Einwanderern zu unterscheiden. Handlungsleitend waren dabei wirtschaftliche Motive, gegenüber der ethnischen Herkunft der Einwanderer herrschte im französischen Fall eine gewisse Indifferenz. Dadurch, so die Schlussfolgerung von Rygiel, unterschied sich Frankreich auch von den übrigen Einwanderungsländern: Während dort rassische und ethnische Kategorien bei der Auswahl der Migranten im Vordergrund standen, spielten in Frankreich der gesundheitliche und moralische Zustand der Einwanderer, ihre politische Unbedarftheit sowie ihre wirtschaftliche Nützlichkeit die entscheidende Rolle. Gleichwohl heißt das nicht, die französische Verwaltung habe sich nicht für die Nationalität der Migranten interessiert und auch versucht, Einwanderung aus den Kolonien zu erschweren bzw. ganz zu verhindern. Auch waren einige Nationalitäten – wie z.B. Polen und Portugiesen – stärker von den ausschließenden Maßnahmen betroffen als andere.
Dass die einzelnen Beiträge nicht einfach lose nebeneinander stehen, dafür sorgen Einleitung und Schlussbetrachtung von Philippe Rygiel, die diese Aufsatzsammlung zusammenhalten, gemeinsame Fragestellungen und mögliche Antworten referieren. Bedauernswert ist einzig, dass die Herausgabe der Vorträge so lange gedauert hat. Gerade bei elektronischen Publikationen sind Schnelligkeit der Veröffentlichung und damit ihre Aktualität ein großes Plus. Dieser Vorteil wurde hier verschenkt.
Anmerkungen:
1 Spire, Alexis, Étrangers à la carte. L’administration de l’immigration en France (1945-1975), Paris 2005.
2 Gosewinkel, Dieter, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001.