Eine histoire croisée, die sich als Fluchtpunkt aller methodologischer Entwicklungen der letzten zehn bis fünfzehn Jahre versteht, umreißt ein außerordentlich ambitioniertes Programm.
Die Vertreter der neuen Richtung treten auf das Schlachtfeld, auf dem Komparatistik und Kulturtransfer-Forschung sich seit mehr als einer Dekade ritterlich duellierten, sie informieren die müden Kämpfer über den Anachronismus ihres Treibens, geben den Kontrahenten den Gnadenstoß und errichten die glückliche Zukunft des ewigen Friedens, in die alle Vorzüge früherer Konzepte, nicht aber deren Begrenzungen eingehen.
Natürlich ist das eine Karikatur, aber sie folgt dem Aufbau der Einleitung zu diesem Themenheft der Zeitschrift „Genre humain“, die auf Artikel zurückgeht, die bereits in den „Annales“ und in „Geschichte und Gesellschaft“ veröffentlicht wurden. Um das vorgeschlagene Label entsprechend strahlen zu lassen, bedarf es offenkundig einer Stilisierung der historischen Komparatistik und der Untersuchungen zu den transferts culturels, die Michael Werner einst selbst mit angestoßen hatte. Gegen diese Stilisierungen und gegen die scharfe Entgegensetzung von Vergleich und Transfer ließen sich viele Argumente, vor allem aber viele Beispiele aus der Forschungspraxis anführen, die zeigen, dass ganz so tumbe Schläger längst nicht mehr auf dem Turnierplatz herumtaumeln. Es wäre auch verwunderlich, wenn die Kritik an der für einige Zeit dominierenden kontrastiven Komparatistik (und die Gegenwehr, die aus deren Reihen zur genaueren Unterscheidung, aber auch im Bemühen um eine Komplementarität der Verfahren erschallte) nicht auch intellektuelle Resultate der Verfeinerung gezeitigt hätte. Dies alles macht die Argumente der Herausgeber dieses Bandes nicht wertlos, aber es mahnt zur pragmatischen Vorsicht gegenüber allzu weittragenden Verheißungen.
Michael Werner und Bénédicte Zimmermann resümieren zunächst das Programm der histoire croisée. Sie unterstreichen eingangs noch einmal die Grundannahme der Kulturtransferforschung, dass es letztlich kein Objekt der Geschichte gibt, das als isolierte Einheit existiert und nicht Phänomene der Verflechtung (des croisement) aufweist, die es angesichts ihrer langfristigen und systematischen Verdrängung in der Geschichtswissenschaft mit besonderer Dringlichkeit aufzuarbeiten gelte. Dass es sich dabei um einen Prozess handelt, bei dem es zu immer neuen Verflechtungen zwischen bereits verflochtenen Objekten kommt, leuchtet unmittelbar ein, macht die Sache aber in der praktischen Untersuchung und vor allem in der Darstellung natürlich nicht gerade einfach. Schließlich verändern sich die Objekte während und durch die Verflechtung, die in der Regel in asymmetrischen Konstellationen stattfindet. Demzufolge sei zwischen Verflechtungen der Objekte selbst, Verflechtungen zwischen den verschiedenen Perspektiven, die den Blick auf diese verflochtenen Objekte steuern, sowie Verflechtungen der Analysepraxen der wissenschaftlichen Beobachter zu unterscheiden (S. 23).
Insbesondere die Verflechtung der verschiedenen Raum-Zeitstrukturen, in denen sich die Objekte definieren lassen, ergibt einen lange Zeit in der Forschung nur unzureichend beachteten Analyserahmen, dessen systematische Ausarbeitung zu den Stärken der histoire croisée gehört, denn sie verweist uns entschieden darauf, dass die Annahme, Objekte hätten per se die gleiche Raumstruktur (etwa nationalisierte Flächenstaaten) oder bewegten sich im gleichen historischen Rhythmus, eine enorme Verkürzung darstellt.
Zwischen diesem idealtypischen Programm und der immer wieder kritisch als Hintergrundfolie herangezogenen Praxis von Komparatisten und Transferforschern klafft notwendigerweise eine erhebliche Lücke, wie sie eben zwischen Ambition und Realisierung immer wieder aufzureißen droht. Oder um es in Paraphrasierung von Jürgen Osterhammels Diktum zu sagen: Während der Vergleich Komplexität durch das mehr oder minder bewusste Ausblenden von Kontexten reduziert, um Einsichten zu gewinnen, und die Kulturtransferforschung diese Komplexität wieder steigert, indem sie auf bestimmte Kontexte fokussiert, die für ein Objekt (oder eine Beobachterperspektive) besonders interessant und viel versprechend erscheinen, versucht sich die Programmatik der histoire croisée an der Hereinnahme faktisch aller nur denkbarer Kontexte, resp. Verflechtungen. Die Komplexität wächst damit offenkundig exponentiell, und die notwendige Volte ist ein Ruf nach pragmatischen Lösungen, der ab S. 29 den Ton der Einleitung erheblich verändert. Deutlicher als im ersten Teil wird hier, dass die histoire croisée weder ein fertiges Programm ist, das anschließend „nur noch“ angewandt werden muss, noch eine Theorie darstellt, die immer weiter zu raffinieren wäre. Vielmehr handelt es sich eine Ansammlung von heuristischen Instrumenten, die für eine Erfahrung sensibilisieren, die tatsächlich mit den diversen Phänomenen der Globalisierung immer stärker wird und uns das Verflochtensein aller uns umgebenden Objekte vor Augen führt. Ob die Art, einen solchen Kasten heuristischer Instrumente zu präsentieren, dem Transfer in andere Wissenschaftskulturen zuträglich ist, bleibt abzuwarten.
Schauen wir dagegen auf die nachfolgenden Beiträge, die gewissermaßen Beispielfälle der Verflechtungsgeschichte präsentieren und wohl in der Mehrzahl auf Vorträge im Forschungsseminar des Deutschland-Zentrums an der Ecole des Hautes Etudes in Paris zurückgehen – also nicht die Frucht einer kollektiven Forschung, sondern eher Beiträge aus aller Welt sind. Sebastian Conrad interpretiert die histoire croisée als einen Ansatz vor allem der transnationalen Geschichte, in deren Verlauf sich überhaupt erst jene nationalen Entitäten, die später der Geschichtswissenschaft als selbstverständliche Basis dienten, herausgebildet haben – und zwar im Zuge von Verflechtungen. Dies zeigt er an der Herausbildung einer japanischen Historiografie der japanischen (National-)Geschichte, die nicht ohne die Auseinandersetzung mit verschiedenen europäischen Modellen der Konstruktion einer nationalen Vergangenheit zu erklären wäre. Wir befinden uns hier auf weitgehend vertrautem Terrain, denn der japanisch-europäische Verflechtungszusammenhang im Bereich der Wissenschaftsgeschichte unterscheidet sich in analytischer Hinsicht nur wenig von jenem deutsch-französischen, der in einer der ersten Publikationen zum Transfert culturel analysiert wurde. Offenkundig sind Verflechtungen oder Transfers im Milieu der Humanwissenschaften besonders gut nachzuvollziehen – ihre Organisationsstrukturen sind wenig komplex, wir verfügen über zahlreiche Quellen, die den Vorgang explizit machen, und die Paradigmatisierung erlaubt eine relative klare Abgrenzung. Der Wettbewerb der Wissenschaftler macht den Rückgriff (und sei es auch nur rhetorisch) auf auswärtige Vorbilder besonders plausibel, wo Konkurrenten aus dem Feld geschlagen und Politiker zur Ressourcenzuweisung animiert werden sollen.
Kapil Raj führt uns dagegen in die Welt der Karten und der mit ihnen ausgedrückten Vorstellungen von verflochtenen Räumen ein. Er zieht das Beispiele des britisch-indischen Zusammenhangs in einem weltumspannenden Kolonialreich heran und betont einerseits die Kartografierung Indiens als ein Herrschaftsinstrument zur Kontrolle des Raumes und der Bewegung im Raum, aber zugleich die „mise en circulation“ von Ideen und Menschen, die durch diese Praxis verbunden waren. Er scheint sich mit den zwei Ebenen der Dominanz und der Begegnung zu begnügen, wie dies genau mit dem Konzept der Verflechtung zusammen geht, bleibt etwas undeutlich.
Christine Lebeau kommt anhand französischer, österreichischer und sächsischer Quellen auf die Verbindungen zurück, die zwischen den Finanzexperten der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in West- und Zentraleuropa bei der Fixierung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und Gesellschaftsgestaltung bestanden und interpretiert sie als Verflechtung durch einen negativen (d.h. verweigerten oder jedenfalls nicht unternommenen) Kulturtransfer.
Im zweiten Teil des Bandes sind eher methodologische Erwägungen versammelt, wobei Heidrun Friese anhand des Mittelmeerbuches von Braudel auf die Konstruktion eines kohärenten Raumes (auch in Polemik gegen zuvor anders – von der Diplomatiegeschichte – vorgestellte Räume) eingeht und Alexandre Escudier die Schwierigkeiten (oder sogar Unmöglichkeit) der Passage theoretischer Referenzen für die Historiografieentwickelung aus Deutschland nach Frankreich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellt. Gerade die Selektivität der Aneignungsprozesse (Escudier verweist auf Henri Berr und Alexandru Dimitrie Xénopol sowie deren Interesse an Lamprecht und Helmolt, während sie mit Droysen und Rickert weniger anfangen konnten) spielt für die Prioritäten der Kulturtransferforschung eine große Rolle, denn sie folgt den Schwerpunktsetzungen der historischen Akteure. Für die histoire croisée bleibt nach der Lektüre des Textes von Escudier ein wenig offen, ob sie sich mit der Rekonstruktion der tatsächlich statthabenden Verflechtungen begnügt oder auch einen normativen Maßstab entwickeln will, welche Verflechtungen eigentlich nötig oder wenigstens wünschenswert gewesen wären. Dass letzteres in eine Reihe von Schwierigkeiten führt, veranlasst den Autor wohl zu einem offenen Ende seines Aufsatzes.
Der dritte Teil des Bandes fasst schließlich zwei Beiträge zusammen, die die Dimension der Reflexität des Forschers auf die unabweisliche Verflechtung seiner Untersuchungsdesigns unterstreichen sollen. Nicolas Mariot und Jay Rowell argumentieren am Vergleich der Kaiservisite in Leipzig anlässlich der Einweihung des monströsen Völkerschlachtdenkmals 1913 und der Reisen des französischen Präsidenten Poincaré im gleichen Jahr in verschiedene Provinzstädte, dass die Gefahr besteht, die Unterschätzung des Regionalen in Frankreich und seine reziproke Überschätzung für die deutsche Geschichte in entsprechende komparatistische Designs einzuschmuggeln und zeigen auf, wie in beiden Ländern das croisement von Nationalem und Regionalem von den Staatsoberhäuptern selbst in zahlreichen symbolischen Akten gesteuert wurde. Da die beiden Vergleichsfälle strukturell ähnlich sind (und ähnlicher als es ihre Stilisierung zu Gegensätzen im Rahmen zahlreicher europäischer Typologien nahe legt), kann das Beispiel gut überzeugen. Allerdings bleibt ein epistemologisches Problem, wenn die Vergleichsfälle weniger nahe beieinander liegen, denn dann würde dieses Verfahren sehr schnell unter den Vorwurf einer Universalisierung von Kategorien aus einem bestimmten Kontext geraten.
Der abschließende Aufsatz von Valérie Amiraux, der auf einer 2001 erschienenen politikwissenschaftlichen Dissertation beruht, geht den Aktivisten türkisch-islamischer Gemeinschaften und Vereine in Deutschland und den diversen Diskursebenen nach, auf denen sich ihre Interessen und Weltbilder artikulieren. Zweifellos eine Verflechtungsgeschichte par excellence, mit der sich die wenig befriedigenden Darstellungen, die allein Differenz oder Vielfalt konstatieren, überwinden lassen. Allerdings bleibt das Versprechen einer Erläuterung des Prozesshaften hier weitgehend auf der Strecke, da bereits die systematischen Hinweise auf die großen Zahl zu beachtender croisements allen Raum beanspruchen, der zur Verfügung stand.
So zeigen die Aufsätze jeweils einzelne Stärken des Konzepts, dem der Band gewidmet ist, aber sie werden von ihren AutorInnen eher als Illustrationen der Tatsache verstanden, dass Verflechtungen einen lange unterschätzten und deshalb jetzt intensiver zu untersuchenden Teil der historischen Realität ausmachen, denn als Einlösung des Ansatzes der histoire croisée insgesamt. Dies unterstreicht noch einmal den offenen Charakter dieses zu heuristischen Zwecken einzusetzenden Handwerkszeugs. Die Grenzen des Ansatzes zu bestimmen, fällt in der Praxis offenkundig leichter als in der programmatischen Formulierung, da das Paradigma der (jedenfalls in der Neuzeit) zunehmenden Konnektivität unbestreitbar heute immer mehr auf dem Vormarsch ist. Der Band lohnt deshalb eine gründliche Lektüre in allen seinen Teilen und steigert zugleich die Erwartung auf weitere Beispiele einer gelungenen histoire croisée.