Bei einer Arbeit über die Herausbildung moderner jüdischer Kultur aus den ost-westjüdischen Kontakten heraus vom Ende des 19 Jarhunderts bis zu den 1920er Jahren mag die Hoffnung auf neue Erkenntnisse zunächst einmal gering sein - da die gegenseitigen Wahrnehmungs- und Selbstdarstellungsprozesse zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Welt sowie innerhalb des Judentums selbst im Zeitalter von Assimilation, Antisemitismus und Dissimilation zu den eher dicht erforschten Fragen gehören. Auch schien die Bedeutung einzelner Orte und Kulturlandschaften wie Berlin, Warschau, Vilnius, Galizien und der Bukowina für die « Wiedergeburt » einer modernen jüdischen Kultur um 1900 wissenschaftlich inzwischen weitgehend erschlossen zu sein. Dank imponierender Sach- und Literaturkenntnis (in Sachen deutsch-jüdischer, aber auch ostmittel- bzw. osteuropäisch-jüdischer Kulturkontakte) und dank großer interpretativer Sensibilität gelingt es der Verfasserin jedoch, die spezifischen Forschungsdefizite treffend aufzudecken und überzeugende Deutungsangebote zu entwickeln.
Besonders wichtig waren bislang die Einsichten, daß die deutsch-jüdische Welt ohne die demographische Immigration ostmitteleuropäischer und russischer Juden überhaupt nicht zu verstehen sei, weiter, daß es die deutschen Juden um 1900 waren, die wesentlich zur « Neuentdeckung » der « Ostjuden » beigetragen hatten, und schließlich, daß gerade die Perzeption des « fremden Bruders » aus dem Osten den kollektiv-psychologischen Rahmen für kulturelle Identitätsentwürfe innerhalb des deutschen Judentums abgesteckt hat. Delphine Bechtel würdigt die Ergebnisse dieser Forschungsentwicklung, für die die Namen Salomon Adler-Rudels, Sander L. Gilmans und Steven Aschheims stellvertretend genannt werden können. Zugleich bemängelt sie aber mit Recht, daß die « Ostjuden nicht unmittelbar zu Worte kamen. Sie blieben das passive Objekt einer ‘Rezeption’ durch Andere. Wie immer sprach die jiddische Kultur nicht von selbst, sondern nur mittelbar über das recht verzerrte Bild, das man von ihr hatte » (12).
Dem hält Bechtel ihre These entgegen, daß die deutsch-jüdische Kultur und die jüdische Kultur Ostmitteleuropas keine Gegensätze bildeten und schon gar nicht getrennte Wege gingen, sondern daß sie sich begegneten und sich gegenseitig befruchteten, um dann zusammen diese weite « Renaissance »-Bewegung im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts zu erzeugen. Dies ist Bechtels Agenda: Ein breites Panorama zu entwerfen von der jüdischen Kultur in einem weit gefassten Mitteleuropa von der Jahrhundertwende bis zum Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland.
Bechtel analysiert auf der einen Seite die Bemühungen verschiedener Akteure, die Grenze zwischen Ost und West zu umgehen bzw. aufzuheben, andererseits die manchmal scharfen Auseinandersetzungen zwischen beiden Polen. Die « Ostjuden » kommen so als Akteure eines durchaus eigenständigen Beitrags nicht nur an der eigenen, sondern an der gesamtjüdischen Identitätsbildung in den Blick. Gegenseitige Wahrnehmungen und Selbstdarstellungen in Ost und West, sowie die daraus entspringenden gesamtjüdischen Identitätsangebote erschließen sich als Antworten auf die Herausforderungen, denen die Juden in den Staaten, in denen sie lebten, ausgesetzt waren.
Bechtel gliedert ihre Untersuchung in vier Teile. In den Teilen 1 und 2 werden die Motive der philologischen Selbstfindung und Fremdbestimmung der Juden im Verhältnis zu einem mitunter noch virtuellen Sprachangebot (Jiddisch und/oder Hebräisch einerseits, Sprache der dominierenden Staatsnationen und Deutsch als mitteleuropäische « lingua franca » andererseits) skizziert. Im ersten Kapitel analysiert die Verfasserin die Etappen und Themenkomplexe, die von der bzw. den Sprache(n) zur Entdeckung der Nation führten: das Sprachdilemma der Haskalah in Deutschland und im Osten, die Stigmatisierung des Jiddischen « als jüdischer Jargon » in den Berliner Salons, der Kampf um Anerkennung der jüdischen Sprachen und Kulturen in Ost(mittel)europa. Das zweite Kapitel ist dem Verhältnis der deutschsprachigen Juden zu den jüdischen Sprachen gewidmet und gibt einen Einblick in die Widerprüchlichkeit und Labilität kultureller Identifizierungen: Der Aneignung und Germanisierung des Jiddischen durch das Komitee für den Osten während des Ersten Weltkrieges stehen die Wahl der « Zukunftssprache » Hebräisch gegen die « Exilsprache » Jiddisch oder umgekehrt die bewußte Erhebung des Jiddischen zum Ausdruck einer « radikalen Andersartigkeit » gegenüber. Zu den besten Seiten in Bechtels Studie gehören Analysen der Übersetzungen und Überarbeitungen literarischer Texte, etwa Martin Bubers chassidische Märchenadaptationen, wo sie mit großem methodologischen Spürsinn den Ansatz der Kulturtransferforschung für die Literaturwissenschaft anwendet.
Die letzten beiden Teile beschäftigen sich, aufgrund umfassender Quellenauswertung, mit den praktischen Erfahrungen der « innerjüdischen Fremde » zuerst im deutschsprachigen, dann im ost(mittel)europäischen Raum. Die Ausgangsfrage ist hier, mit welchen Deutungsmustern die verschiedenen Angehörigen einer jüdischen Intelligenz im deutschsprachigen und ostmitteleuropäischen Raum die Frage nach ihrer gemeinsamen oder auseinanderdriftenden Identität unteraneinander verhandelten. Untersuchungsfelder sind dabei (westjüdische) literarische Kontroversen, Reiseberichte von Westautoren in der ostjüdischen Welt, aber auch « Bildungsreisen » bzw. deutsches Exil ostjüdischer Autoren in Berlin und anderen deutschen Städten, sowie die Entwicklung und die Rezeption des Theaters in jiddischer und hebräischer Sprache auf deutschen Bühnen.
Bechtel führt ihren Leser gekonnt durch die Werke einiger « Ikonen » der jüdischen Moderne. Aus dem Moment der Fremdwahrnehmung von Heine bis Alfred Döblin über Theodor Lessing, Karl Emil Franzos und Arnold Zweig entwickelt sich der literarisch unheimlich dynamisierende Versuch zur Selbstverortung. Dies findet seinen Niederschlag in der Schaffung eines « privaten Orients » in der Lyrik Else Lasker-Schülers, im « Versteckspiel » mit dem eigenen Judentum in Kafkas Romanen und Novellen, in der Mischung zwischen Realismus und Mythos bei Joseph Roth, im Zittern um den unaufhaltsamen Gedächtnisschwund bei Stefan Zweig, in dem Schwanken zwischen Wissensdrang, politischem Militantismus und gesellschaftlicher Desillusionierung bei den ostgalizischen (ukrainischen), russischen und litauischen Juden Leyb Kvitko, Dovid Bergelson, Moyshe Kulbak.
Während man bisher glauben konnte, schon « fast alles » über die ost-westlichen Kulturkontakte im europäischen Judentum im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu wissen, setzt Bechtels Studie vieles in ein ganz neues Licht.
Welche Ergebnisse sind festzuhalten? Bechtel zeigt, dass die konventionelle Separierung in Ost- und Westjuden sehr oft zu falschen Ansichten führt. Oft sind es Westjuden (Nathan Birnbaum, Gershom Sholem), die sich selbst zu Verteidigern des Ostjudentums ernannten. Wenn Ostjuden ihre Kultur vermittelten, war die Übernahme westlichen Stereotypenguts keine Seltenheit. Und während die zionistische Strömung in Deutschland viel dem Engagement russischer Juden verdankte, wurde die jiddische Kulturbewegung in Polen während des Ersten Weltkrieges durch deutsche Juden unterstützt. « Es gibt eben keine wasserdichte Abgrenzung zwischen den Bevölkerungsgruppen », schreibt Bechtel, zumal angesichts der « erstaunlichen Versatilität der politischen und kulturellen Akteure » (255). Die Bezeichnungen Ost- und Westjude reichen deshalb oftmals nicht aus, um den subjektiven Weltanschauungen einzelner Personen gerecht zu werden. Aus vergleichbarem familiären, sozialen und geographischen Hintergrund in Ostgalizien stammten deutschsprachige (Joseph Roth und Soma Morgenstern), polnischsprachige (Bruno Schulz), hebräischsprachige (Schmuel Yosef Agnon) Autoren oder internationalistische Kommunisten (Karl Radek).
Allen gemeinsam ist ihre Situation als Angehörige einer Minderheit, deren Akteure notwendig Außenseiter bleiben. Dies erklärt sowohl die Brüchigkeit vieler individueller Optionen, als auch die « Möglichkeit des Scheiterns » (256). Die Destruktion des europäischen Judentums hat sowohl den ostjüdischen Jiddischismus als auch die « deutsch-jüdische Symbiose », die um 1900 die realistischeren Varianten abgaben, ihrer Aktualität beraubt. Mit der Staatsgründung Israels 1948 konnte sich schließlich die einige Jahrzehnte früher äußerst marginale Option einer Rückkehr zum Hebräischen behaupten.