Kapitalismuskritik scheint in Deutschland wieder en vogue zu sein. Die Tatsache, dass sie in den letzten Wochen und Monaten sowohl von links als auch von rechts kommt, die Rhetorik der Debatte, die nicht vor animalischen Vergleichen zurückschreckt („Heuschrecken“), wie die Flut von Beiträgen über die Zukunft des Kapitalismus in Tageszeitungen und Wochenmagazinen unterstreichen mit Nachdruck den Bedarf an Diskussion und denkbaren Alternativen. Vor diesem Hintergrund legt Immanuel Wallerstein mit „Utopistik“ auch für den deutschen Leser ein höchst aktuelles Buch vor. Der Begriff „Utopistik“ dient ihm dabei hierzu, eine nüchterne und realistische Einschätzung historischer Alternativen vorzunehmen. Das Ziel besteht also nicht darin, eine perfekte und unvermeidliche Zukunft vorauszusagen, sondern zu zeigen, wie eine „alternative, glaubhaft bessere und historisch mögliche Zukunft“ (S. 8) aussehen könnte.
Wallerstein hat „Utopistik“ in drei Kapitel gegliedert. Im ersten beschreibt er die langfristigen Ergebnisse der Französischen und der Russischen Revolution, im zweiten analysiert er die Übergangszeit zu einem anderen System, um im dritten Abschnitt schließlich Alternativen aufzuzeigen. Wallerstein geht von der These aus, dass die Französische wie die Russische Revolution nachhaltigen Einfluss auf die Geokultur des Weltsystems ausübten (und nicht auf die Staaten, in denen sie stattgefunden hatten). Das langfristige Ergebnis der Französischen Revolution bestand nach Wallerstein in der Legitimierung früher marginaler Konzepte, die nun versuchten, ein „weit verbreitetes Drängen auf Wandel“ zu bewältigen (S. 27). Aus der Konfrontation zwischen Konservatismus, Sozialismus und Liberalismus ist der letzterwähnte als Sieger hervorgegangen. Die Kombination von Nationalismus, Rassismus und Sexismus sorgte wiederum dafür, wer im Weltsystem eingeschlossen und wer ausgeschlossen war. Weckte die Französische Revolution Hoffnungen, Erwartungen und gesteigerte Ansprüche bei den sog. gefährlichen Klassen Europas, so „steckte“ die Russische Revolution mit diesen die Unterdrückten der außereuropäischen Welt an. Denn sie hat gezeigt, dass ein rückständiges, in Wahrnehmung vieler außereuropäisches Land sich industrialisieren und militärische Stärke erreichen konnte.
Die Krise des Liberalismus begann infolge der Weltrevolution von 1968. Das kapitalistische Weltsystem befindet sich gegenwärtig in einer Phase des Übergangs zu einem anderen System oder anderen Systemen. Wallerstein zeichnet ein düsteres Bild von Unordnung, Ängsten und Gefährdungen. Was sind die Symptome dieser Krise? Die Widersprüche im Weltsystem resultieren in erster Linie aus dem tendenziellen Ansteigen der weltweiten Ausgaben für Löhne, Umweltschutz und soziale Sicherheit, wodurch für Unternehmen die Möglichkeit, Profite zu erzielen, erheblich eingeschränkt wird. Wallerstein weist auf einen wenig beachteten Widerspruch hin, der die Logik der Weltwirtschaft und die Logik jedes einzelnen Unternehmens widerspiegelt: Je größer die gesamten Lohnkosten sind, desto höher werden die potenziellen Profite sein, und je geringer die gesamten Lohnkosten, desto höher die unmittelbaren Profite. Hinzu kommt, dass die Stärke der Staaten, mit der für Wallerstein das Überleben der Unternehmen zusammenhängt, deutlich abnimmt, während Kriminalität und ethnische Konflikte zunehmen. So hat die weltweite Polarisierung ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht, und das Weltsystem ist an seine Grenzen angelangt. „Fundamentalistische“ Bewegungen und die Gefahr der Verbreitung von Atomwaffen runden die durchaus negative Wahrnehmung des aktuellen Zustands des kapitalistischen Weltsystems ab.
Was tun, welche Alternativen gibt es? Wallerstein plädiert dafür, die Logik der endlosen Kapitalakkumulation aufzugeben. Er möchte den monopolistisch kontrollierten Weltmarkt durch einen „wirklichen“ Markt ersetzen, der Regulierung braucht, deren Ziel wiederum darin bestünde, Betrug zu bekämpfen, den Informationsfluss zu verbessern und bei Über- oder Unterproduktion Warnsignale zu senden. Wallerstein ist sich zugleich der Tatsache bewusst, dass die Aufhebung der Logik der endlosen Akkumulation die Gleichheit von Rasse, Geschlecht und Nation noch nicht automatisch sicherstellen, jedoch zumindest einen der wichtigsten Gründe für die Ungleichheit beseitigen würde. Er will die drei größten Folgen der Klassenunterschiede überwinden: ungleichen Zugang zu Erziehung und Ausbildung, zur Gesundheitsfürsorge und zu einem garantierten lebenslangen Mindesteinkommen. Alle diese Bedürfnisse könnten außerhalb der Kommodifizierung befriedigt und von nicht profitorientierten Institutionen getragen und kollektiv bezahlt werden. Wallerstein betont mehrfach, dass die Übergangsphase ein langer und schmerzlicher Prozess sein wird, dessen Ausgang ungewiss ist. Denn die Privilegierten werden sich zur Wehr setzen: teils indem sie Gewalt anwenden, teils indem sie den Anschein erwecken, alles geändert zu haben, damit alles beim Alten bleibt (was der Autor als Lampedusa-Prinzip bezeichnet), oder aber mittels einer Kombination von beiden.
„Utopistik“ ist ein interessantes, wenngleich sehr kontroverses Buch. Trifft Wallersteins Analyse zu, dass wir uns in einem Übergang zu einem anderen System oder Systemen befinden? Wie können wir überhaupt zwischen einer zyklischen B-Phase und einer essenziellen „Krise“ des Weltsystems unterscheiden? Hat das Kapital bislang nicht immer einen Ausweg dank Innovation, Rationalisierung/Automatisierung und der Erschließung neuer Absatzmärkte gefunden? Sind Rassismus, Nationalismus und Sexismus wirklich Phänomene, die aus der Logik der endlosen Kapitalakkumulation resultieren? Und last but not least: Verfolgen alle Unterdrückten der Welt ein gemeinsames Ziel? Sind doch die gesellschaftlichen und ökonomischen Kontexte in Deutschland und China, Brasilien und Indien, Russland und Ruanda so unterschiedlich, die Gruppe der Privilegierten genauso heterogen wie die der Unterdrückten (worauf der Autor auch selber hinweist).
Wallersteins Buch wirft sicherlich mehr Fragen auf, als es zu beantworten vermag. Gerade deswegen regt es zum Nachdenken über eine bessere und gerechtere Zukunft an.