Was ist Geschichtspolitik? Wer sind die politischen Akteure und welche Rolle spielen sie im Hinblick auf die Geschichtsdeutung? Wer sind die Rezipienten der Geschichtspolitik? Die Herausgeber Claudia Fröhlich und Horst-Alfred Heinrich und die Co-Autoren zeigen in ihren Beiträgen, dass sich Geschichtspolitik nicht allein auf den öffentlichen Diskurs beschränkt, sondern sich viel mehr als ein Gesamtkonzept begreifen lässt, das sowohl politisches Handeln, die Intentionen der Akteure als auch die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen fokussiert. Anhand der Analyse der Deutung bestimmter Ereignisse in der Vergangenheit aus politischer Sicht versuchen die Autoren die Gegenwart zu erklären. Dabei kommt es in ihren Arbeiten zu einer Schwerpunktverschiebung im Forschungsinteresse: Die Untersuchungen sind nicht wie in bisherigen Studien historiographisch geprägt, sondern rücken die Rolle der Akteure am geschichtspolitischen Prozess ins Zentrum des Interesses. Damit schließen sie sich der von Wolfrum entwickelten Konzeption an, in der es darum geht, die Geschichtspolitik als ein Handlungs- und Politikfeld zu begreifen, in dem die meinungsbildenden Eliten innergesellschaftlich um Deutungsmacht mittels Geschichte konkurrieren. Der vorliegende Sammelband umfasst acht Beiträge, die überwiegend aus einer Tagung des Arbeitskreises Geschichte und Politik in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) hervorgegangen sind.
Horst-Alfred Heinrich geht in seinem Beitrag, der zugleich als Einleitung in die Thematik zu verstehen ist, auf die Rolle der geschichtspolitischen Akteure in der Gesellschaft ein und beleuchtet die Hintergründe, warum dieselben Geschichte für ihre Politik (miss)brauchen. Als Fallbeispiel untersucht er den Gerichtsstreit zwischen Altbundeskanzler Helmut Kohl und dem Amt des Beauftragten für die Stasi-Unterlagen. Kohl klagte auf den Schutz der Privatsphäre und bestand darauf, dass die über ihn geführte Stasiakten nur mit seiner Zustimmung an Dritte weitergegeben durfte. Mit großer sachlicher Sorgfalt analysiert Horst-Alfred Heinrich die Phasen der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft des Ministeriums für die Staatssicherheit. Er zeigt dabei ein Dilemma auf, das aus „individuellem Schutzbedürfnis einerseits und jenen Grundrechten andererseits [...], auf die sich die Wissenschaft und Medien berufen“ (S.29) hervorgeht.
Mit Robert von Friedenburg lässt sich die Geschichtsschreibung in der frühen Neuzeit als eine wesentliche Komponente der Propagierung von christlichen, tugendhaften Verhalten, von Recht und Konfession beschreiben. Wie so oft in Zeiten gravierender Konflikte wurde die Geschichtsschreibung von wichtigen Gesellschaftsvertretern wie den Kirchen, Fürsten, Städten und Ständen ganz bewusst bei der Durchsetzung ihrer Machtansprüche eingesetzt. Somit war die Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in erster Linie Geschichtspolitik.
Am exemplarischen Fall eines französischen Germanisten und Christen Robert D’Harcourt demonstriert Hanne Stinshoff wie ein geschichtspolitischer Akteur die Geschichte bewusst als Instrument einsetzt und damit gesellschaftliche und politische Wahrnehmungsmuster nachhaltig prägt und verändert. Durch die gezielte Verwendung unterschiedlicher Geschichtsbilder, so Stinshoff, können Bevölkerungsgruppen unterschiedlich beeinflusst werden: „es können Interessen legitimiert, Gegner diffamiert und Anhänger mobilisiert werden“ . Als Mittler zwischen zwei Kulturen trug D’Harcourt mit seiner Deutung des deutschen Widerstandes maßgeblich zum Entstehen eines neuen deutschen Geschichtsbildes bei, das konstruktiv für die deutsch-französische Verständigung einsetzbar sein sollte. (S. 67)
Anders als in der bisherigen Forschung zu Veteranenverbänden, in der sie als bloße Interessengemeinschaftenten angesehen werden, schließt sich Birgit Schwelling neueren Studien an und betrachtet die Veteranenverbände als identitätsstiftende Gemeinschaften, die „das Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart auf Ereignisse der Vergangenheit stützen“. Im Anschluss an Pierre Nora spricht die Autorin von Veteranenverbänden als Gedächtnisgemeinschaften, die aktiv an der Konstruktion der Kriegserinnerung beteiligt waren (sind), und somit bspw. die politische Kultur in der Bundesrepublik der ersten Nachkriegsjahre prägten. Dabei wird Geschichte einerseits instrumentalisiert, um eigene Interessen durchzusetzen, andererseits ist sie als gemeinsam erlebte Geschichte ein Bindeglied für die Gemeinschaft und dient der Konstruktion der kollektiven Identität. (S.72)
Politische Wirkung von Erinnerungskulturen wird auch im Beitrag von Claudia Lenz thematisiert. Sie erstellt zu Anfang ein theoretisches Konzept, das das Zusammenwirken von „Vergangenheitsdiskursen, kulturellen Praktiken und Identitätsbildung einerseits und den Kämpfen um Gestaltungsmacht, Autorisierung und Hegemonie andererseits“ erklären soll. (S. 81) Der Beitrag von Claudia Lenz ist einer der best strukturierten Aufsätze dieses Sammelbandes ist, eine gelungene Symbiose aus Theorie und Empirie. Politische Gegenwartsanalyse, so Lenz, kommt ohne die Analyse der politischen und politisierenden Dimensionen der Vergangenheitsdiskurse nicht aus. Im Anschluss an Bryld und Warring behauptet sie, dass in jeder Gesellschaft eine Basisnarration existiert, also eine dominierende Geschichtsversion, die den Rahmen der Erinnerungskultur bestimmt. Die Erinnerungskultur manifestiert sich zum einen auf der Ebene des Kognitiven als eine Komponente der historischen Wissensproduktion und –vermittlung, zum anderen auf der Ebene der Politik, wo es darum geht die politischen und rechtlichen Rahmen der Geschichtsaufarbeitung zu bestimmen, und schließlich in der ästhetischen Ebene als visuelle, künstlerische und inszenierte Vergangenheitsreproduktion. Ein solches Gesamtkonzept der Geschichtsreflektion bietet u. a. die Möglichkeit das Geschlechterverhältnis in der Basisnarration zu untersuchen. Am Beispiel von Norwegen zeigt die Autorin, dass in der Erinnerung an die Besatzung und den Widerstand nach 1945 nicht nur die Nation im Vordergrund steht, sondern auch nationalisierende geschlechterspezifische Auslegungen eine Rolle spielen, die entscheidend zu einer Hegemoniestellung des Mannes in der Basisnarration beitrugen.
Geschichtspolitik kann durchaus fundamental-oppositionelle Züge annehmen, indem sie sich auf historische Personen bezieht. Ähnlich wie Birgit Schwelling schildert Michael Kohlstruck, wie und in welcher Dimension sich durch den Rückgriff in die Geschichte Identitäten innerhalb der Verbände oder in sozialen Randgruppen herstellen lassen. Auch hier wird deutlich, dass Vergangenheit als gemeinsam erlebte Komponente von Personen vergleichbaren Alters, Geschlechts, sozialen Status zu einer Interessengemeinschaft führen kann, deren Mitglieder die Gegenwartspolitik in ihrem Sinne versuchen zu beeinflussen. Ein vergleichbares Schema kann auf die Bildung von rechtsextremen Gruppen, in denen der Heß-Mythos identitätsstiftend wirkt, angewendet werden. Die Analyse von Kohlstruck geht jedoch weit über das Betrachten eines Politikfeldes hinaus und schildert u.a. das ökonomische Interesse an der Mythologisierung der Person Rudolf Heß.
Durch den Paradigmenwechsel von der Struktur- zur Kulturgeschichte ist die Wirtschaftshistoriographie ins Hintertreffen geraten. Dagegen erfährt die Unternehmens-geschichte seit den 1990er Jahren einen Aufschwung wie keine andere historische Teildisziplin. Gerade zu dieser Zeit gab es einen regen öffentlichen Diskurs über die Rolle der Unternehmen in den Zeiten des Nationalsozialismus. Der recht kurze Beitrag von Mark Spoerer, der auf den ersten Blick aus dem Rahmen des Sammelbandes fällt, thematisiert die Problemlage der Unternehmensgeschichte. Schon im Titel stellt der Wirtschafts- und Sozialhistoriker die Frage: Was passiert, wenn Gewinner die Geschichte schreiben lassen? Die zunehmende Auftragsforschung angesichts des mangels an Lehrstühlen für die Unternehmensgeschichte in Deutschland führt zu einem verzerrten Bild, das in der Statistik als survivor bias bezeichnet wird, so Spoerer. Nicht der sozioökonomische Kern der Unternehmen, sondern öffentlichkeitswirksame Themen, etwa Verflechtungen von Unternehmen mit der Politik, stehen dabei im Vordergrund. In Endkonsequenz bedeutet derartige Forschungspraxis „Enttheoretisierung“ der Fragestellungen, da innovative methodisch-theoretische Ansätze zu Gunsten einfach konsumierbaren politikhistorischer Themen aufgeben werden. (S. 116)
Die 1995 eröffnete Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehmacht 1941 bis 1944“, die anhand verschiedener Dokumente den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung in der ehemaligen Sowjetunion und auf dem Balkan zeigte, löste eine kontroverse Debatte um die Rolle der Wehmacht im Nationalsozialismus aus. Im Verlauf der Auseinandersetzung konnte man die Kritik bzw. das Befürworten der Ausstellung als Indikatoren für die parteipolitische Präferenzen der Rezipienten deuten. Karsten Stefan stellt in seinem Aufsatz die Intervention von politischen Parteien begriffen als geschichtspolitische Akteure nach, wie sie eine „richtige“ Selbstbeschreibung des damaligen und damit des heutigen Kollektivs der Deutschen festzuschreiben versuchen. (S. 121)
In acht Beiträgen auf 131 Seiten kann man nicht erwarten, dass jedem geschichtspolitischen Ereignis und seiner Rezeption genügend Rechnung getragen wird. Doch nach dem Motto „In der Kürze liegt die Würze“ liefert der Sammelband eine hervorragende Anregung, zur kritischen Herangehensweise an Interpretationen bestimmter geschichtspolitischer Aktionen. In jedem der Beiträge ist es gelungen empirische Ergebnisse durch theoretische Ansätze zu explizieren. Durch die aus dem Ansatz von Wolfrum resultierende Schwerpunktverschiebung gelingt den Autoren eine stärkere Akzentuierung des Begriffs Geschichtspolitik. Nicht nur die politische Handlungsebene, sondern auch die institutionellen Ablaufstrukturen gehören zu seinem Konzept. Durch die Analyse der Akteure hinsichtlich ihrer persönlichen Interessen, ihrer Eingliederung in bestimmte soziale und institutionelle Strukturen und ihr Handeln innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen, zeigen die Autoren zum einen, welchen Stellenwert die Geschichte für eine Gesellschaft hat, zum anderen, wie sich Geschichte für politische Zwecke einspannen lässt, auf. Insgesamt ist der Band eine beachtliche und sehr empfehlenswerte Arbeit.
Anmerkungen:
[1] Wolfrum, Edgar, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999.
[2] Ebd., S. 25-31.
[3] Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in früheren Hochkulturen, München 1992.
[4] Bryld, Claus; Warring, Anette, Besættelsestiden som kollektiv erindring, Historie- og traditionforvaltning af og besættelse, Roskilde 1945-1997.
[5] Erker, Paul A., New Business History. Neue Aufsätze und Entwicklungen in der Unternehmensgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 557-604.