Zünfte galten lange als Symbol der institutionellen Erstarrung im Ancien Régime und entscheidendes Hindernis für eine auf reinen Berufszugang und unbegrenzte Produktions- und Handelsexpansion gegründete Entwicklung des Wirtschaftsbürgertums. Oft schien es in der Historiographie für dieses Urteil ausreichend, die bekannten Beispiele aus einem Land oder einer Region europaweit (oder sogar darüber hinaus) zu extrapolieren. Der vorliegende Band wendet sich gegen diese Vernachlässigung in doppelter Weise: indem er die Geschichte der Zünfte nicht einfach als Verfall und Widerstand gegen diese Überwindung einer überlebten Struktur, sondern als anpassungsfähiges soziales Arrangement begreift, und indem er Experten aus verschiedenen Ländern zu einer vergleichenden Perspektive vereint.
Grundlage war eine vom Herausgeber organisierte Tagung 1995 an der Martin-Luther-Universität Halle, die allerdings auch aufgrund der notwendigen Übersetzungsarbeiten erst rund 7 Jahre später publiziert werden konnte. Heinz-Gerhard Haupt geht in seiner Einleitung vor allem auf die Wurzeln der Kritik an den Zünften in der Liberalisierungseuphorie der nationalökonomischen Schule am Beginn des 20. Jahrhunderts und in der langen Dominanz modernisierungstheoretischer Überlegungen bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts ein und konfrontiert sie mit dem Paradox, dass ein so vorgeblich immobiles System wie das Zunftwesen historisch so lange überlebt hat und sich eben auch im 19. Jahrhundert halten konnte, als die Basis des Ancien Régime immer mehr schrumpfte, auch wo sie nicht wie in Frankreich mit einem revolutionären Schlag attackiert worden war.
Der Herausgeber plädiert mit Steve Kaplan, Simona Cerruti, Joseph Ehmer und Philippe Minard für eine Revision der Perspektive, die mit den Augen der Gegner des Zunftwesens schaute und die Zünfte und den Zunftzwang als Instrument ihrer Mitglieder zur Anpassung an neue Gegebenheiten betrachtete. Wer den aktuellen Streit in Deutschland über die Bindung des Berufszugangs an Berechtigungen, die Industrie- und Handelskammern oder Handwerkskammern vergeben, beobachtet, dem wird diese Revision unmittelbar einleuchten, denn hier wiederholt sich, wovon der vorliegende Band in vielen Beispielen berichtet – eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Strategien der Anpassung an Globalisierungsprozesse, und nicht etwa ein Kampf zwischen Anhängern und Verweigerern.
Vor den Fallen eines naiven Vergleichs zwischen den sehr unterschiedlich gelagerten einzelnen europäischen Fällen warnt der Herausgeber zu Recht und beschränkt zunächst die Definition des Untersuchungsgegenstandes sehr abstrakt auf eine „Organisation des wirtschaftlichen Monopols von Meistern“, um sich von den Irrtümern einer allzu engen rechtshistorisch begründeten Vergleichskonstellation zu distanzieren, die Zunftvorstellungen einer Region verallgemeinert. Zum zweiten verweist er auf die vielfältigen Kulturtransferprozesse, die zwischen den Vergleichsfällen zu beobachten sind (etwa durch die Mobilität der Gesellen und durch den regen Austausch der Meister über Praktiken bzw. auch über die Verpflanzung von zünftischen Organisationsformen bei der Expansion von Unternehmen oder der Verlagerung von Handwerksbetrieben in neu erschlossene Regionen), die zwischen den Vergleichsfällen zu beobachten sind und eine allein kontrastive Komparatistik obsolet machen (S. 16/17).
Weiterhin diskutiert Haupt in seiner Einleitung differenziert die Beziehungen zwischen der Zunftentwicklung und der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft (mit dem Ergebnis, dass die Zünfte eher Teil der vielfältigen Alternativität bürgerlicher Entwicklung und nicht deren Gegensatz waren), die In- und Exklusionsmechanismen der Zünfte sowie das Verhältnis von Territorialgewalt/Obrigkeit und Zunftwesen (und damit den Einfluß dieser sozialen Formationen auf die Wege der Transformation im 19. Jahrhundert). Es folgen danach Aufsätze über Süddeutschland, den Westen des Reiches, Österreich, die Niederlande, Frankreich, Italien, Spanien, Schweden, Ungarn und den Balkan im Osmanischen Reich.
Es ist hier nicht der Raum, die Einzelergebnisse zu resümieren, aber die Stoßrichtung aller Beiträge ist in der Einleitung skizziert. So nutzten die Tagung und der vorliegende Band die wachsende Möglichkeit europäischer Kooperation für eine sorgfältig edierte und detailreiche Darstellung, die ein umfängliches Material für die Korrektur gängiger Vorstellungen über das Zunftwesen bereithält. Wer sich durch die knapp 300 Seiten gearbeitet hat, wünschte sich am Ende eine übersichtliche Zusammenfassung etwa in Form einer Karte, die die raum-zeitlichen Differenzierungen und die konvergierenden Trends in den sozialen Praktiken für die eilige Rezeption aufbereitete. Dies würde die Effizienz des angestrebten Revisionismus deutlich erhöhen.