Kann man aus den schieren physischen Dimensionen eines Buchs Rückschlüsse auf seinen Anspruch ziehen? Um erstere ist es bei dem vorliegenden Band folgendermaßen bestellt: es handelt sich um solide 1,5 Kilogramm bedruckten Papiers. Das macht 31 Aufsätze auf etwas mehr als 650 Seiten - und hierbei handelt es sich, wie die Herausgeber schreiben, lediglich um den ersten Band! Der Anspruch wird schon im Titel verkündet: Es soll hier der Krieg zwischen Japan und dem zarischen Vielvölkerreich in einer „globalen Perspektive“ betrachtet werden. Noch deutlicher allerdings wird er in der etwas verwunderlichen Entschuldigung der Herausgeber „that gaps in coverage [des Krieges] will likely persist“ (S. xxiii): Der Anspruch des Bandes scheint in doppelter Hinsicht global zu sein.
Die Herausgeber schlagen nicht weniger vor als einen neuen Blick auf das 20. Jahrhundert. Sie sehen im Krieg von 1904-1905 einen Weltkrieg vor dem Ersten Weltkrieg – eben „World War Zero“. Sie schreiben hierzu in ihrer Einleitung: „Although historians commonly refer to Europe’s Great War of 1914—18 as the First World War, this volume contends that in many ways the modern era of global conflict began a decade earlier with armed confrontation between Russia and Japan.“ (S. xix) Der russisch-japanische Krieg stehe, so geben sie an, somit nicht nur auf dem Gebiet der Waffentechnologie, von Strategie und Taktik für den Beginn einer neuen Zeit. Der Krieg sei zwar auf und vor der koreanischen Halbinsel ausgefochten geworden. Verflechtungen verschiedener Art aber, so die Herausgeber weiter, hätten ihn zu einem globalen Konflikt gemacht: so etwa Handels- und Finanzströme, der Transfer von militärischem Know-how im Vorfeld, die globale Berichterstattung im Verlauf und die diplomatischen Verflechtungen in Gefolge des Konflikts. So fanden ja die Friedensverhandlungen dieses regionalen Konflikts an der amerikanischen Ostküste, nämlich im amerikanischen Bundesstaat Maine im Städtchen Kittery, statt. Und schließlich seien es gerade die Reaktionen in den Kolonien auf Japans Sieg, die es rechtfertigten, von einem globalen Konflikt zu sprechen. So schrieb eine indische Zeitung im Jahre 1905 beispielsweise, dass der Krieg den Indern die Augen geöffnet habe: „We are not the same people as we were before the Japanese success“ (S. 616). In afrikanischen und asiatischen Kolonien wurde Japan als Speerspitze der antikolonialen Bewegung gefeiert.
Angesichts dieses komplexen Gewebes ist es nur konsequent, dass sich die Herausgeber des Sammelbandes der Geschichte des Konflikts von verschiedenen Positionen her und unter Berücksichtung einer Vielzahl über den Globus verstreuter Archivmaterialien und der unterschiedlichsten Fachrichtungen nähern wollten: Wie zu Beginn des Bandes geschrieben wird, ist er das Ergebnis eines mehr als zehn Jahre langen Denkprozesses, an dem eine beeindruckende Anzahl ausgewiesener Spezialisten beteiligt war. (S. ix)
Der Band gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil wird die Vorgeschichte des Konflikts („In the Shadow of War“) untersucht. Hier werden klassische Themen der Politik- und Diplomatiegeschichte wie etwa ein Jahrhundert japanischer Strategie (Auslin), die Wurzeln des Krieges in einem lokalen Konflikt (Nish in einem brillanten Artikel) und der fatale Einfluss wiederkehrender Muster auf russische Krisendiplomatie (D. Goldfrank) untersucht. Teil II („War on Land and Sea“) beleuchtet dann operative Aspekte des Kriegsgeschehens. Hier finden sich lesenswerte Gesamtdarstellungen der Kampfhandlung und der Strategie von zweien der Herausgeber (Steinberg, Menning), Artikel zum Anspruch und der Stilisierung der Kämpfe in den Offizierskorps der beiden Armeen (Airapetov, Matsusaka), Untersuchungen der Taktiken der beiden Flotten (Papastratigakis/Lieven, Luntingen/Menning) und Erläuterungen der Rolle der Geheimdienste (Kujala, Sergeyev, Wolff). Letztere haben in ihrer Detailgenauigkeit allerdings einen ähnlichen Effekt wie das berühmte Schiffsregister Homers. Die Untersuchungen des dritten Teils („The Home Front“) verlassen dann den globalen Anspruch des Bandes – sie haben Ereignisse und Prozesse im Hinterland der beiden Kriegsparteien zum Inhalt: Die Leser/innen finden hier Arbeiten zu Themen wie den Verbindungen von Krieg und Revolution in Russland (Bushnell) und zur gegenseitigen Wahrnehmung und Darstellung der Kriegsparteien (Bushkovitch, Shimazu, Ulak, Stites, Fillipovna, Scherr). Teil IV erzählt von den Auswirkungen des Krieges („The Impact“). Ananich und Miller leisten dies für die Anstrengungen des Zarenreiches und Japans auf den internationalen Finanzmärkten: Gerade hier wird, wie auch im Artikel von Saul zu den Friedensverhandlungen, die globale Dimension des Konflikts sinnfällig gemacht. Bei den Aufsätzen, welche die Bedeutung des Krieges für die Erinnerungskulturen Japans und Russlands (Oleinikov, Dickinson) und für das jeweilige Institutionengefüge der beiden Staatswesen (McDonald, Schenking) zum Inhalt haben, fällt der Zusammenhang ein wenig schwerer. Dies ist auch bei dem ansonsten überzeugenden Artikel Wrights zum Bild vom japanischen Soldaten in den Augen ihrer russischen Feinde der Fall.
Ob nun die etwas steile These vom „World War Zero“ aufrecht erhalten werden kann, wird die weitere Forschung zeigen müssen. Dies kann im Rahmen einer Rezension nicht erbracht werden. Auch ist es hier unmöglich, allen Aufsätzen gerecht zu werden. Denn eines der unbestreitbaren Verdienste des Sammelbandes ist die Bandbreite seiner Beiträge. Stellenweise kommt denn auch durch die Doppelbesetzung von Themen so etwas wie eine gegenseitige Spiegelung der Betrachtungsweisen zustande (so die Artikel Airapetovs und Matsusakas zu Selbstbild, Anspruch und militärischem Alltag der beiden Armeen oder Shimazus, Ulaks und Stites’ Untersuchungen der gegenseitigen Wahrnehmung von Russen und Japanern). Matsusaka beispielsweise kann aufzeigen, wie es nach dem Sturm der Festung Port Artur geschehen konnte, dass katastrophale militärische Fehleinschätzungen zu einer Erfolgsgeschichte umgedeutet werden konnten: die militärisch sinnlosen ersten Angriffswellen auf die Festung, die zehntausende Opfer forderten, wurden nachträglich in den Mythos vom „bushido“, der todesverachtenden Opfer- und Kampfesbereitschaft des japanischen Soldaten, umgedeutet. Der russischen Generalität wiederum war dies nun, wie Airapetov aufzeigt, nicht mehr möglich: Ihr Selbstbild, das einer modernen Armee mit einer Führung nach preußischem Vorbild, hatte auf den sprichwörtlichen „sopkach Mantschurii“, den „Hügeln der Mandschurei“, auf das gründlichste Schiffbruch erlitten.
Doch die Bandbreite, von der gerade die Rede war, hat auch nachteilige Auswirkungen. Zum einen werden durch sie an manchen Stellen einmal mehr die Qualitätsunterschiede der wissenschaftlichen Kontexte deutlich, in denen die Artikel entstanden sind: so etwa im detailfreudigen Artikel von Ananich zu den russischen Kriegsausgaben, der unter weitgehendem Verzicht auf Fragestellungen verfasst wurde. Ihm gegenüber steht der pointiert argumentierte Aufsatz Millers zu Japans Triumph an den internationalen Finanzmärkten. Allgemein gilt für die Herangehensweise der Beiträge, dass sie – bei aller Heterogenität – in der Regel nicht durch Originalität auf dem Gebiet der Methodik bestechen. Dies allein muss ja keinesfalls ein Qualitätsurteil sein, wie etwa Mennings gewohnt brillante Analyse der strategischen Dimension des Krieges demonstrieren kann. Für dezidiert kulturwissenschaftliche Fragestellungen ist die methodische Rückständigkeit allerdings fatal: So bleibt etwa unklar, wie alleine durch das enzyklopädische Aufzählen von Erwähnungen des Krieges in künstlerischen Darstellungen etwas über seine Wahrnehmung in und Auswirkungen auf Gesellschaften ausgesagt werden soll.
Auch ist oftmals nicht ersichtlich, was denn der Bezug so manchen Einzelartikels zur zentralen These des Bandes vom globalen Charakter des Krieges sein soll. Die Bedeutung etwa japanischer Holzschnitte für diese Dimension kann auch mit intensivem Nachdenken nur schwer erfasst werden. Mit der Untersuchung dieser Schnitte lassen sich andere Fragestellungen beantworten, die abseits von der Globalgeschichte des Krieges liegen. Es ist lediglich der Anspruch des Titels, der hier in die Irre führt.
Unbestritten aller Vorteile des Sammelbandes wäre somit in den Augen des Rezensenten seitens der Herausgeber ein wenig mehr Bescheidenheit angeraten gewesen: Die globale Dimension der Untersuchung des Krieges etwa, in dem Sammelband in beneidenswerter Form demonstriert, sollte nicht mit dem sinnlosen Anspruch auf eine Totalgeschichte des Konfliktes verwechselt werden. Es ist ja nicht das bloße Füllen von „gaps in coverage“, das die Forschung vorwärts bringt. Es ist dies vielmehr, wie einige Beiträge auch beredt beweisen, das Generieren neuer Fragestellungen. Und mit der Rede vom „World War Zero“ haben die Herausgeber ja auch ein solches Forschungsfeld eröffnet. Um es zu bearbeiten, hätte allerdings, polemisch gesagt, für den vorliegenden Sammelband ein gut abgehangenes Kilogramm statt der tatsächlichen 1,5 ausgereicht.