Heinz D. Kittsteiner (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften?

Titel
Was sind Kulturwissenschaften?. 13 Antworten


Herausgeber
Kittsteiner, Heinz D.
Erschienen
Paderborn 2004: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Céline Trautmann-Waller, Maisons-Laffitte

Die Frage, was Kulturwissenschaften seien, nicht nur theoretisch, sondern auch von der Praxis her zu beantworten, gehört sicherlich zu den großen Vorzügen dieses Bandes, selbst wenn die Autoren sich in unterschiedlichem Grade an das Gebot gehalten haben. Durch den Einblick in eine kulturwissenschaftliche Fakultät (die der Viadrina in Frankfurt an der Oder), wird gezeigt, wie vielfältig und verschieden die Antworten sein können. Dies wird wohl niemanden wundern, schadet dem Band aber auch nicht. Vor allem wird somit an den Kulturwissenschaften auf sehr sympathische Weise gerade das im Vergleich zum Totalitätsanspruch so mancher Theorien oder Systeme Bescheidene hervorgehoben.

Das Vorwort liefert eine kurze, aber prägnante historische Einführung, von dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems als Ausgangspunkt zu Diltheys Anthropologisierung und Psychologisierung von Hegels “Geist” und der neukantianischen Kulturwissenschaft als Parallelaktion. Nach dem Krieg sei die Kantische Kritik der Vernunft mit Cassirer zur “Kritik der Kulturen” geworden, während die Hegelsche Logifizierung des kulturellen Zusammenhangs durch den Begriff “symbolische Form” ersetzt worden sei, um das Auseinanderfallen der Wissenschaft(en) in zusammenhangloses Faktenwissen zu verhindern. Somit könnten Kulturwissenschaften im Plural sich auf Cassirer als Vorläufer berufen. Was Kulturwissenschaften anvisieren, sei keine Totalität sondern eine bescheidene Totalisierung im Sinne Ricoeurs. Weiterhin wurden die Einzelwissenschaften in den Bereich einer Kulturphilosophie mit hineingezogen, die unter anderem durch Simmel, als ersten Modernisierer der Lebensphilosophie, unter dem Zeichen der Tragödie der Kultur und der Entfremdungsproblematik entwickelt wurde. Es handle sich demnach nicht nur um die Erforschung der Formen einer Kultur, sondern auch um kritische Distanz zu ihr. Nach kurzen Hinweisen auf die verschiedenen Traditionen, auf die sich Kulturwissenschaften stützen können (die Bibliothek Warburg, das Institut für Sozialforschung aus Frankfurt am Main und, als eher oppositioneller Strang, die aus dem Wiener Kreis hervorgegangene Metaphysikkritik in ihren sprachlichen und wissenschaftslogischen Ausformungen), kommen die Autoren zu den Überzeugungen, die ihre eigene Auffassung von Kulturwissenschaft/en prägen und dem Band seine Ausrichtung geben: Innovation entsteht in den Kulturwissenschaften nicht durch Totalwissenschaft, sondern durch die Definition neuer Fragestellungen und Grundaufgaben; Vielgestaltigkeit und Beziehungsreichtum immunisieren den Begriff der Kultur vor jeder dauerhaften Disziplinierung und Kanonisierung; Kulturwissenschaft ist kein einheitlicher oder nach Einheit strebender Diskurs; Systematisierungen bleiben daher erfolglos. Hier soll der Einblick in die Praxis verschiedener Kulturwissenschaftler die Festlegung auf ein einziges Paradigma verhindern. Dies ist den Autoren gelungen, weil meistens nicht einfach plädiert, sondern gezeigt wird, warum Multidimensionalität notwendig ist und wie sie funktionieren kann. Daher auch der zum Teil ironische Umgang mit den berüchtigten “turns”, die in ihren radikalsten und naivsten Varianten stets eine Revolutionierung der Kulturwissenschaft beanspruchen und sich auf ein einziges Paradigma fixieren. Heinz Dieter Kittsteiner (« Iconic Turn » und « innere Bilder » in der Kulturgeschichte) meint, es sollte von einem “iconic turn” nur gesprochen werden, wenn über die selbstverständliche Ausweitung des Quellenbereiches hinaus eine erkenntnistheoretische Funktion der “Bilder” mit in den Blick kommt. Über die Feststellung hinaus, dass auch Bilder Quellen sind, sollte man sich also fragen, in welcher Weise die “Bilder in unserem Kopf” unser historisches Wissen bestimmen und wie sie in die Wahrnehmung und damit auch in die Verarbeitung des historischen Materials mit eingehen. Um zu verstehen, wie bestimmte Bilder sich zu Symbolen verdichtet haben, werden Neurobiologie und Gestaltpsychologie herangezogen. Heinz Dieter Kittsteiner zeigt anhand von einigen Beispielen, wie vereinfachte Bildstrukturen analysiert werden können, die den Sehgewohnheiten des menschlichen Gehirns entgegenkommen, die ihnen sozusagen keinen Widerstand entgegensetzen, sondern die Funktion der Prägnanzbildung bei der Umarbeitung von Erinnerungsbildern noch plakativ verstärken. Immer müsse berücksichtigt werden, dass kognitive Schemata immer auch mit affektiven Schemata verbunden sind und dass bei der emotionalen Einfärbung von Denkinhalten Bilder eine große Rolle spielen. Für den Autor stellt diese Untersuchung der affektiv-kognitiven Bebilderung in der Geschichte trotzdem nur einen Aspekt der Kulturwissenschaften dar. Karl Schlögel (Kartenlesen, Augenarbeit) versteht die Aufeinanderfolge der “turns” als Pluralisierung der Dimensionen in den Kulturwissenschaften. Dabei dürfe jeder “turn” nicht als archimedischer Punkt verstanden werden, sondern als gesteigerte Aufmerksamkeit für einen bestimmten Aspekt. Schlögels Beitrag setzt sich spezifisch mit der Frage auseinander, welche Bedeutung Raumverhältnisse für die Ausgangsfrage, was Kulturwissenschaften seien, haben. Er plädiert hier für eine Verräumlichung des Geschichtdenkens und untersucht die historischen Gründe, die dieser heutzutage im Wege stehen. Die deutsche “Vorsicht mit dem Raum” ist natürlich auf den nationalsozialistischen Raumdiskurs zurückzuführen, doch durch diese Vorsicht sei eine reiche wissenschaftliche Tradition abgebrochen, die u.a. durch Karl Lamprecht vertreten worden sei. Auch für die deutsche Sozialgeschichte war der Raum “out”, und die allgemeine Beschleunigung in der Moderne habe dann noch ihren Rest getan, um ein “Verschwinden von Raum” zu bewirken. Und doch gibt es ein reiches Erbe, auf das man sich stützen könne und dass der Beitrag kurz nachzeichnet (Montesquieu, Carl Ritter, Alexander von Humboldt, Geopolitik). Überzeugend ist vor allem die Idee, der Ort erziehe zum Denken des Nebeneinander, zum Denken der noch nicht reduzierten Komplexität. Wenn die zeitlich-geschichtliche Narrative leicht zu handhaben sei, zeige eine Heuristik des Orts die Superkomplexität des Ortes, die man auf Dauer nicht lange aushalte, die aber eine Schule gegen die Eindimensionalität sei. Ein Beispel aus der eigenen Werkstatt, das Buch “Moskau lesen”, soll zeigen, dass die Arbeit mit den Augen durchaus etwas ist, was der Wissenschaft ansteht und nicht nur den Künsten.

Auch die Beiträge, die gegen einen eindimensionalen Kulturalismus ankämpfen, unterstützen die “Notwendigkeit von Pluralisierungsprozessen bei der Wahl kulturwissenschaftlicher Erkenntnisstrategien”. Gangholf Hübinger (Kulturelle Vergesellschaftung. Die Orientierung des Historikers zwischen Kultur- und Sozialforschung) will beweisen, dass die Geschichte als historische Kulturwissenschaft stets auf starke interdisziplinäre Einbindungen angewiesen war und daraus ihr Innovationspotential schöpfte. Gerade durch eine Dialektik von Interdisziplinarität und Spezialisierung seien die Kulturwissenschaften aus der Taufe gehoben worden. Das Titelstichwort “kulturelle Vergesellschaftung” weist auf den Versuch einer Systematisierung der kulturwissenschaftlichen Perspektive der Geschichtsforschung für eine neue Verbindung zur Sozial- und Politikforschung. Als Beispiel aus der eigenen Forschung wird eine typologische Untersuchung der politischen, konfessionellen und weltanschaulichen Verlage im deutschen Kaiserreich dargeboten und zusammengefasst. Ökonomisierung, Demokratisierung und Professionalisierung des Buchwesens illustrieren, in welcher Verschränkung kultur- u sozialhistorischer Methoden sich die Entstehung eines modernen Massenmarktes für literarische Produkte erklären lässt. Methodisch sei ein Modell zu entwickeln, in dem die kognitive Struktur der untersuchten Ideen (ursprüngliche Geistesgeschichte), die Trägerschichten mit ihren institutionellen Verankerungen (ursprüngliche Sozialgeschichte) und die Wirkungsweisen im öffentlichen Kommunikationsraum (neue Ansätze der Politikgeschichte) in konkreten Konstellationen stringent aufeinander bezogen werden. Mit solch einem Modell könne die Neue Kulturgeschichte nicht gegen, sondern mit der Sozial- und Poilitikgeschichte ihr Profil schärfen und nicht zuletzt der Auflösung der Geschichtswissenschaft in reine Gedächtniskultur entgehen.

Detlef Pollack (Zwischen Kulturalismus und Konstruktivismus: Die Transformation Ostdeutschlands als Prüfstein der Politische-Kultur-Forschung) versucht sich der Frage, was Kulturwissenschaften seien, zu nähern, indem er den Kulturbegriff der Politische-Kultur-Forschung einer kritischen Überprüfung unterzieht, ihn auf seine Anwendbarkeit auf die nach 1989 ablaufenden Transformationsprozesse in Ostdeutschland befragt. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Theorie, dass die Demokratie Schwierigkeiten habe, in der ehemaligen DDR Fuß zu fassen, weil die “Ostdeutschen” noch durch das untergegangene System geprägt seien. Eine genauere Untersuchung zeigt, dass die Fixierung der Politische-Kultur-Forschung auf den ihr zu Grunde liegenden Kulturbegriff sie unfähig macht, die sich rasch wandelnden und teilweise ambivalenten Einstellungen und Wertorientierungen der Menschen in Ostdeutschland zur Kenntnis zu nehmen. In den ersten Jahren der “Wende” seien die Ostdeutschen sehr stark von den demokratischen “Werten” überzeugt gewesen, erst seit Ende der 90er Jahre würden sich Tendenzen zu einer Rückkehr zum sozialistischem Modell zeigen. Weil er zu einheitlich ist, vermag der Kulturbegriff der Politische-Kultur-Forschung, die in der DDR existierende Spannung zwischen offizieller und dominanter politischer Kultur nicht zu integrieren. Weil er auf Kontinuität fixiert ist und Kultur nur als Archiv versteht, entgeht ihm der rasche Wandel von Wertorientierungen und Weltdeutungen aufgrund situativer Anreize. Die wachsende Distanz der “Ostdeutschen” gegenüber den Institutionen der BRD sei demnach nicht zurückzuführen auf eine Kontinuität der Werte, sondern auf eine Reaktion auf weiterbestehende Ungleichheit. Es muss demnach mit einem mehrdimensionalen Kulturbegriff gearbeitet werden, zum Beispiel indem nach William Mishler “thick culture” und “thin culture” unterschieden würden.

Michael Minkenbergs Beitrag (Religion, Staat und Politik. Neuere Entwicklungen der politikwissenschaftlichen Institutionenanalyse und policy-Forschung im Lichte des « cultural turn ») weist auf eine zunehmende Auseinandersetzung mit kulturellen Faktoren in der Politikwissenschaft, die auch als “cultural turn” bezeichnet werde. Er fragt nach der Rolle einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung des Zusammenhangs von Demokratie, Staat und Kirche und des politischen “outputs” der Formen dieses Zusammenhangs. In den Typologien des Staat-Kirche Verhältnisses, die er hier näher untersucht, findet sich oft eine Mischung institutioneller, konfessioneller und religionssoziologischer Kriterien, die mehr oder weniger direkt von der Säkularisierungsthese abgeleitet sind. Gegen Huntingtons “clash of civilizations”, der eine Kategorisierung einzelner Religionen hinsichtlich ihrer Demokratiefähigkeit beinhaltet, will er untersuchen, ob es empirisch einen der Demokratie eigenen Typ des Verhältnisses von Staat und Religion gibt. Die empirischen Ausführungen (u.a. in Form von Tabellen) zeigen, dass ein besonderer Zusammenhang auf den ersten Blick nicht nachzuweisen ist, selbst wenn es einen engen Zusammenhang zwischen den Prozessen der Nationsbildung und Säkularisierung mit demjenigen der Herausbildung des Staat–Kirche-Verhältnisses gebe. In der Tendenz trete allerdings eine Konvergenz von Teil-Etablierung der Kirchen und Verhandlungsdemokratie hervor. Dieses Beispiel soll beweisen, dass der Faktor Religion und eine daran orientierte kulturwissenschaftliche Perspektive in der heutigen Poltikwissenschaft ein besonderes Gewicht beanspruchen kann, wenn rudimentären Konzepten von Religion entgangen wird. Die strikte (und historisch aufgrund des Niedergangs der Religion ohnehin zwangsläufige) Trennung von Religion und Politik bzw. die Privatisierung der Religion als eine der Funktionsbedingungen der Politik in der Demokratie erweise sich auf jeden Fall auch in diesem Beispiel als nicht haltbar.

Die Beziehungen zwischen Kulturwissenschaft und Literaturwissenschaft werden in mehreren Beiträgen untersucht. Bozena Choluj (Der literaturwissenschaftliche Beitrag zu den Kulturwissenschaften oder: Für und Wider den Sonderstatus der Literatur) will am Beispiel von zwei Texten zeigen, dass der Sonderstatus der Literatur aufrechterhalten bleibe, selbst wenn die Dichtung nicht mehr als zeitenthoben aufgefasst werden kann. Die performative Funktion lasse die Literatur als Teil der diskursiven Praxis begreifen, und mit dieser Betrachtungsweise könne eine “gemeinsame Basis” entstehen, auf der Literatur und Kulturwissenschaften koexistieren könnten. Dass die Sachen nicht immer so einfach und friedlich zugehen, darauf weist dann der Beitrag von Christa Ebert (Literaturwissenschaft – Kolonialgebiet oder Kolonialmacht der Kulturwissenschaften), der an die Ängste der Literaturwissenschaft, zur Hilfswissenschaft degradiert zu werden, erinnert. Tynjanows Metapher des Kolonialgebietes bezog sich auf die Beziehungen zwischen Psychologie und Literaturwissenschaft, kann jedoch auch hier auf Spannungen hinweisen. Doch gerade in Anlehnung an Tynjanow will Christa Ebert Immanenz-Literarizität und funktionales Literaturverständnis mit Hinblick auf lebensweltliche Kontexte nicht als zwei Pfade sondern als komplementäre literaturwissenschaftliche Herangehensweisen verstehen. Am Beispiel des an der Viadrina im Rahmen des Master-Studienganges angebotenen Themenschwerpunktes “Sprache-Kultur-Identität” soll eine Möglichkeit aufgezeigt werden, Literaturwissenschaft in einer kulturwissenschaftliche Fragestellung zu verankern, indem Kultur als Übersetzung verstanden wird. Doch die Autorin ist sich bewusst, dass die Positionierungen der untersuchten Wissenschaften weiterhin von Kolonialgebiet bis Kolonialmacht reichen, da es sich hier um Identitätsfragen handle, die ständig neu ausgehandelt werden müssten.
Die Beziehungen zwischen Kulturwissenschaft, Anthropologie und Ethnologie untersucht Werner Schiffauers Beitrag (Anthropologie als Kulturwissenschaft). Er skizziert die stürmische Entwicklung der Ethnologie nach dem « cultural turn ». Eine erste Phase war im Rahmen oder besser gesagt in Auseinandersetzung mit der Dekolonialisierung durch hermeneutische, strukturalistische und kulturanalytische Ansätze gekennzeichnet. In den 80er Jahren wurde übergegangen zu Studien von Migrationsverläufen und ethnischen Minderheiten, zu einer Ethnographie in Industriegesellschaften. Der enge Nexus von Raum, sozialer Ordnung und Kultur wurde gesprengt. Seit den 90er Jahren sei man zu einer Anthropologie der industriellen und post-industriellen Gesellschaften und der globalen Verflechtungszusammenhänge gekommen. Die Ethnographie der modernen Gesellschaft führe zu einer Anthropologie der Großstadt und der globalen Netzwerkgesellschaft. Nach der endgültigen Überwindung des lokalistischen und ethnischen Kulturbegriffs bezeichne Kultur heutzutage die Gesamtheit der Praktiken, mit denen in der gegenwärtigen Gesellschaft Wissen, Macht und Identität hergestellt würden. In diesem allgemeinen Kontext bestehe die Spezifizität der Anthropologie darin, dass sie Interdependenzen durch intensive Analyse von Einzelfällen untersuche, eine Praxis, die sie weiterhin zu einem « Meister der Verfremdung » mache. Nicht um Verfremdung, sondern allgemeiner um Distanz geht es in Christoph Asendorfs Beitrag (Die Quecksilbersäule und der Satan Phobos), in dem Aby Warburgs Kulturbegriff und seine Vorstellung eines distanzsichernden « Denkraums » kurz untersucht werden.

Anselm Haverkamp (Evidenz. Performanz. Latenthaltung. Bemerkungen zur Philologie im Lande des Literalsinns) will mit den Begriffen Evidenz, Performanz und Latenthaltung, die er in mehreren Büchern herausgearbeitet hat, in eine Reihe bringen, was Kulturwissenschaft an Leistungsprofilen im Auge hat, ohne das, was sie dabei in Kauf nimmt, in seiner gespaltenen, doppeldeutigen Herkunft schon räsoniert zu haben. Nach ihrem Bankrott hätten die Nationalphilologien nach dem “Strohhalm der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung” gegriffen. Die Philologie bleibe weiterhin die kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung, doch eine neue Philologie werde gebraucht: eine nicht mehr und also dezidiert nach hermeneutische Philologie, die nicht länger an Fiktionen von Literalsinn oder Klartext hinge;
eine dekonstruktive, proto- oder anagrammatische, grammatologische Philologie. Ihre Konturen werden anhand von Blumenbergs Begriff der Sprachsituation beleuchtet. Auf keinen Fall dürfe man zurück zu den Nationalphilologien als “ Identitäten–Verwaltung “, weshalb Anselm Haverkamp an der Viadrina eine post-nationale Philologie anstrebt.
Dariusz Aleksandrowicz (Die beiden Grundprobleme der Kulturwissenschaft) weist auf eine
Konfusion der Kulturbegriffe in den Metadiskursen der Kulturwissenschaft hin: Kultur sei hier nämlich sowohl Forschungsgegenstand als auch theoretische und explanative Kategorie. In der sozialwissenschaftlich orientierten Forschung sei der Kulturbegriff überflüssig und man sollte hier klarere Termini (Handlungsregeln, Wertorientierungen, nationale Vorurteile) benutzen, um einen “schwammigen Kulturbegriff” ohne Bezug zu einem Kultursystem zu vermeiden. Am konsequentesten sei das kulturwissenschaftliche Projekt in Forschungsprojekten wie Universalsemiotik, Universalhermeneutik, linguistische und pragmatische Wende, (Post)Strukturalismus und Dekonstruktivismus umgesetzt. Demnach erzwinge die real bestehende Vielfalt Kompromisse, durch die die Kulturwissenschaft zu einer “Formel für friedliche Koexistenz, oft auch Kooperation von heterogenen Disziplinen bzw. Forschungsansätzen” werde. Dies setze allerdings voraus, dass man das inhaltliche Projekt der Kulturwissenschaft nicht allzu ernst nehme und das betreffende Wort hauptsächlich als eine Bezeichnung für institutionelle Gegebenheiten betrachtet. Somit käme es darauf an, im Sinne einer pragmatischen Einstellung die darin enthaltenen Gefahren, so weit es geht, zu vermeiden und die sich daraus ergebenden positiven Möglichkeiten auszuschöpfen.

Neben diesen theoretischen Problemen wird auch der berüchtigte Gegensatz zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften angeschnitten. Eckhard Höfner (« Kulturwissenschaft denken » : Wissenschaftskommunikation und Diskurs-Übersetzung zwischen wissenschaftlichen Disziplinen) zieht denjenigen, die Geisteswissenschaften unter dem symbolischen Banner der Hermeneutik vereinen, Figuren vor, die eine gegenseitige Kenntnis- und Vermittlungsfunktion anstrebten (Piaget, Stegmüller, von Wright, Göttner). Die Betonung des Hermeneutischen gehört seines Erachtens nach zu den “Grundstoffen der Krisen-Abwendungs-Arzneien”, und der Begriff der Hermeneutik habe « einen Status zugeschrieben bekommen, der ihn discussions-resistent (…) (wissenschaftlich) “unübersetzbar ” » mache. Zudem unterbinde die strikte Ausgrenzung des eigenen Gegenstands-Bereiches als Krisen-Medikament in Sachen Geistes- und Kulturwissenschaften den Dialog mit anderen Theorien, Denkmustern und Wissenschafts-Parametern nahezu kontinuierlich. Der kurz als Beispiel gescheiterter Interdisziplinarität untersuchte Sokal-Skandal, hindert ihn nicht daran die Theorie der zwei Kulturen (Snow) für einen Mythos zu halten, “den sich das wissenschaftliche Bewusstsein selbst schafft, um jene Vermittlung nicht mehr leisten zu müssen, und das heißt auch: um seine eigene Unfähigkeit zu dieser Vermittlung zu verbergen”. Die Produktion einer An- und Einsichten vermittelnden, dialog-eröffnenden Textsorte zwischen Theorien und Wissenschaften, zwischen Wissenschaftlern untereinander und Lesern allgemeinerer Art sei zwar nicht leicht, aber immerhin durchaus möglich, und zwar so, dass der Vorwurf der Verfälschung und Trivialisierung sich kaum halten lasse. Das Beispiel von Schrödingers eigenen Ausführungen zur sogenannten “Schrödingerschen Wellenfunktion”, das bekannte Katzenexperiment, das Fragen wie Beobachterrelationen, Objektivität und Konstruktivismus betrifft, soll beleuchten, welches “Dialog-Potential (…) in solchen – angeblich “populärwissenschaftlichen” – Texten der Diskurs-Übersetzung und non-formalsprachlichen Vermittlung steckt”. Eine Bibliographie am Ende des Artikels weist auf weitere Schriften von “Übersetzern”, die die Übertragung einer Sprache in die andere, einer Kultur in die andere betreiben und sich bemühen, die Modelle, Instrumente, Kenntnisse einer “Hauptwissenschaft” einer anderen begreiflich/begrifflich zu machen. Karsten Weber (Formen der Interdisziplinarität) will seine in Karlsruhe und an der Viadrina gesammelten Erfahrungen fruchtbar machen, um eine Diskussion zu fördern, die verhindern würde, dass “Kulturwissenschaften” nur ein “Label” bleiben, indem überlegt wird, welche spezifischen und neuen Problemlösungskapazitäten sie wirklich bieten. Es gibt seiner Meinung nach drei Positionen, die die Kulturwissenschaften entweder als Transdisziplinarität oder als Interdisziplinarität oder als bloße institutionnelle Klammer für die bisherigen Geistes-und Sozialwissenschaften verstehen (hier “schwache” Inderdisziplinarität genannt). Wenn die erste Position eine disziplinüberschreitende Zusammenarbeit anstrebt, wünscht die zweite eine intensive Zusammenarbeit hauptsächlich innerhalb des Rahmens der überkommenen Geistes- und Sozialwissenschaften, während die letztere sich vor allem darum bemüht, organisatorische Barrieren und Blockierungen durchlässiger zu machen. Untersucht wird, welche Voraussetzungen für eine trans- oder interdisziplinäre Zusammenarbeit erfüllt sein müssen, indem institutionelle und inhaltliche Folgen unterschieden werden. Da der Streit zwischen Realisten und Antirealisten seiner Meinung nach unentschieden bleiben müsse, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften demnach unüberbrückbar sei, votiert Karsten Weber am Ende gegen Transdisziplinarität, die zu methodischer und inhaltlicher Beliebigkeit führen könne, und für starke Interdisziplinarität.

Diese Vielfalt der Praxen und Theorien, der Verhandlungen zwischen Paradigmen und Wissenschaftszwseigen ergibt ein buntes, aber überzeugendes Panorama, selbst wenn auf Einiges verzichtet werden muss. Anselm Haverkamp spricht sehr hübsch von “Entzugserscheinungen”, die auftreten würden, wenn u.a. auf die absolute oder die Eine Wissenschaft verzichtet werden müsse. Mehrere Beiträge dieses Bandes beweisen durch ihre kritische Schärfe, wie sehr es sich lohnt solchen Nostalgien zu widerstehen.

Redaktion
Veröffentlicht am
27.01.2006
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension