„Von mal zu mal geschieht es – und es besteht kein Zweifel, dass dies letztlich auf Änderungen der industriellen Technik zurückgeführt werden kann, auch wenn der Zusammenhang nicht immer sofort offensichtlich ist –, dass sich Geist und Tempo des Lebens ändern und die Menschen sich eine neue Weltanschauung aneignen, die sich in ihrem politischen Verhalten, ihren Einstellungen, ihrer Architektur, ihrer Literatur und allem andern niederschlägt... Und wenn auch durchgestrichene Linien im Buch der Geschichte natürlich illusionär sind, gibt es Zeiten, in denen sich Übergänge überaus rasant vollziehen, bisweilen derart rasant, dass man sie sogar ziemlich genau einem Zeitpunkt zuordnen kann.“ In dieser Bemerkung George Orwells aus dem Jahr 1942 sieht Vaclav Smil die Grundthese seiner Studie „Creating the Twentieth Century“ weitgehend destilliert (S. 259). In ihr geht es konkret um den Zeitraum zwischen 1867 und 1914, also um die zwei Generationen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Welthistorisch gesehen handelt es sich also um einen relativ kurzen, aber entscheidenden Ausschnitt der Menschheitsentwicklung. Für Smil ist dieses „Zeitalter der Synergie“ gekennzeichnet durch eine Fülle technischer Innovationen, die bis heute unser und das Leben eines Großteils der Menschheit bestimmen. Damit wird zugleich eine durchaus neue Perspektive auf das 20. Jahrhundert geworfen, das in bezug auf Forschung und technische Entwicklung sehr viel weniger originell als üblich erscheint.
Vaclav Smil, der in den 1960er Jahren die Tschechoslowakei verließ, in den USA seine akademische Karriere begann und seit drei Jahrzehnten am Fachbereich Geographie der University of Manitoba lehrt, legt mit seinem Buch eine eigenwillige Deutung vor. Das betrifft zunächst den Zugriff und den Stil des Werkes. Smil hat sich mit Darstellungen zur chinesischen Umweltgeschichte profiliert, weitete seine Studien jedoch in mittlerweile über 20 Büchern auf weltweite Fragen der Energie, der Umwelt, der Gesundheit und der Ernährung aus. Damit ist er einer der wenigen, die globale Themen auch global analysieren. Doch ebenso wie die Breite seines Horizonts sticht sein persönlicher Zugriff auf die von ihm behandelten Themen ins Auge. So ist in „Creating the Twentieth Century“ ungewöhnlich oft von Smil selbst die Rede, von den Umständen, die zur Niederschrift des Buches führten, seinen literarischen und musikalischen Vorlieben, schließlich sogar von seinen Großvätern sowie seinem Unverständnis dafür, mit vierradgetriebenen Monsterfahrzeugen einkaufen zu fahren. Häufig verweist Smil im Text auf seine früheren Werke, während auf die insgesamt beeindruckend lange Liste übriger Autoren von einigen Ausnahmen abgesehen ohne Seitenangaben verwiesen wird. Sieht man über diese Eigentümlichkeiten hinweg oder hält sie gar für sympathisch, steht einer anregenden Lektüre freilich nichts im Wege.
In globalgeschichtlicher Perspektive hat man sich an zwei Wegscheiden der Menschheitsgeschichte gewöhnt: die neolithische und die industrielle Revolution. Beide stellt Smil aus Sicht der Technik infrage und verweist statt dessen auf die sprunghafte Entwicklung unter der chinesischen Han-Dynastie (207 v.Chr. – 9 n.Chr.) sowie eben das „Zeitalter der Synergie“. In beiden Perioden wurden in relativ kurzer Frist Innovationen freigesetzt, die von relativ breiter und langandauernder Folgewirkung waren. Den Begriff der Industriellen Revolution möchte Smil am liebsten ganz fallen lassen, denn bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein hätte sie nicht einmal in England das Leben der Bevölkerungsmehrheit wirklich nachhaltig, schon gar nicht revolutionär, verändert. Dies trifft jedoch nach Smils Einschätzung entschieden für die Zeit nach 1867 zu, und er führt eine wirklich bemerkenswerte Liste an Erfindungen und Entwicklungen an, die zu dieser Zeit ans Licht traten und uns bis heute begleiten. Dabei konzentriert er sich auf vier zentrale Bereiche, denen jeweils eigene, in ihrem Zugriff freilich eher klassische Kapitel gewidmet werden: 1. die kalkulierte Erzeugung und Nutzung von Elektrizität, 2. die Entstehung und Kommerzialisierung von Verbrennungsmotoren, 3. die Entwicklung besonders leistungsfähiger Materialien und synthetischer Stoffe sowie 4. die Herausbildung der modernen Kommunikations- und Informationsnetzwerke. Klassisch ist der Zugriff insoweit, als hierin viel von Erfindern, ihren Entwicklungen sowie deren ‚Take off’ in die Massenproduktion die Rede ist. Dennoch hat man dies selten einmal in dieser konzentrierten und internationalen Zusammenschau, dabei so reich illustriert und kurzweilig lesen können.
Die Fakten selbst freilich sind nicht neu, sie leben und schillern vielmehr durch den fortgesetzten Hinweis auf ihre zeitliche Koinzidenz. Wer macht sich schon klar, wie nah beieinander elektrische Geräte aller Art, motorgetriebene Fahrzeuge, auf Stahlgerüsten aufruhende Hochhäuser, wesentliche Einrichtungen der städtischen Infrastruktur, das Dynamit, Aluminium, der Kühlschrank und die Air Condition, moderne Druckverfahren und die Schreibmaschine, das Telefon, Foto-, Film- und Tonapparate, aber auch der Kugelschreiber, Coca Cola, Cornflakes und der Strohhalm das Licht der Welt erblickten? Sogar die Avon-Beraterin, die Paketzustellung und das Tennis gehen auf diese Jahre zurück, und Smil ist in seiner Aufzählung weiterer Beispiele kaum zu bremsen. Seiner Neigung zu Listen der historischen Bedeutsamkeit mag man folgen oder nicht, tatsächlich fällt es schwer, in der von ihm eingenommenen Perspektive auf technische Entwicklungen (das Wort „technologisch“ hält er für irreführend) das Zeitalter der Synergie nicht für die bislang bedeutsamste Periode der menschlichen Geschichte zu halten. Das 20. Jahrhundert, dem er inzwischen einen Nachfolgeband („Transforming the Twentieth Century“) widmete, habe die Entwicklungen dieser Jahre zwar im Design oder in ihren Wirkungsgraden optimiert, verbilligt und allgemein zugänglich gemacht, aber bis auf die Gasturbine, den Computer sowie die nur unvollständig durchgesetzte Nutzung der Kernenergie nichts grundlegend Neues mehr hervorgebracht.
Als synergetisch bezeichnet Smil die Ära der forcierten Energienutzung deswegen, weil sie nicht mehr auf der Basis eines genialen, aber zufälligen und experimentellen Erfindertums stand, sondern erstmals naturwissenschaftliche und technische Erkenntnisse mit einer gewissen Systematik in anwendungsorientierte und kommerziell nutzbare Erfindungen umsetzte. Die internationale Verkettung und synergetische Vernetzung des Wissens machten die neue historische Qualität dieser Jahrzehnte aus. Fast alle Erfindungen wurden umgehend verbessert und auf massengesellschaftliche Nachfragestrukturen ausgerichtet. Im Falle von Henry Fords Kombination von Produktion und Absatzförderung wurde der Markt sogar selbst revolutioniert. Smil macht keinen Hehl daraus, dass er das Haber-Bosch-Verfahren der Ammoniaksynthese langfristig für die bedeutsamste dieser Entwicklungen hält. Sie erst habe die Überwindung des Hungers als des grundlegendsten Menschheitsproblems erlaubt, und sei daher mitverantwortlich für das Überleben von rund der Hälfte der heutigen Weltbevölkerung.
Die nichttechnischen Fortschritte der Hygiene sowie die medizinischen Fortschritte bleiben bei Smil freilich ebenso unterbelichtet wie die trüben Seiten des Durchbruchs der Technik auf breiter Front. Ein abschließendes Kapitel über „zeitgenössische Perzeptionen“ ist eher impressionistisch, die positiven Folgen scheinen für Smil die gewaltig gestiegenen Destruktionkräfte bei weitem zu überwiegen, obwohl doch gerade die von Smil gepriesene Ammoniaksynthese ab 1915 unmittelbar zur Produktion tödlichen Kampfgases mißbraucht wurde. Ebenfalls nicht ausgeführt wird, dass im selben Jahr 1867, in dem nach Smil das Zeitalter der Synergie begann, mit dem zweiten thermodynamischen Grundgesetz bereits eine deutliche Gegenthese zu den Wachstums- und Fortschrittserwartungen formuliert wurde, die das 20. Jahrhundert zunächst dominierten.
Smils Werk ist die nur schwer gebändigte These eines Autors, der seit über dreißig Jahre mit dem Thema umgegangen ist. Die Begeisterung für seine Gegenstände merkt man ihm an. Dass das Buch dennoch etwas unausgewogen komponiert ist und unentschlossen zwischen klassischem Erfinderlob (inkl. Edisons Schlafgewohnheiten) und einer Sozialgeschichte der Technik schwankt, macht der Autor selbst deutlich. Vielleicht wird man dem Buch eher gerecht, wenn man es als einen anregenden Essay über eine ungeheuer „verdichtete Zeit“ liest, der unserer Gegenwart etwas von ihrer Außergewöhnlichkeit nimmt und das 20. Jahrhundert neu perspektiviert. Und was kann Geschichtsschreibung besseres leisten?