A. Schaefgen: Schwieriges Erinnern

Title
Schwieriges Erinnern. Zur Rezeption des Genozids an den Armeniern


Author(s)
Schaefgen, Annette
Series
Dokumente, Texte, Materialien, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin 60
Published
Berlin 2006: Metropol Verlag
Extent
200 S.
Price
€ 18,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Wolfgang G. Schwanitz, Deutsches Orient-Institut Hamburg

Die politische Elite Deutschlands verhält sich zurückhaltend zum Völkermord des türkischen Regimes an den Armeniern vor 90 Jahren, behauptet Annette Schaefgen. Wie ist das möglich? Man hat doch selbst die Erfahrung mit kollektiver Verantwortung gemacht und die Rolle einer kritischen Aufarbeitung erkannt. Dem geht nun die Historikerin vom Berliner TU-Zentrum für Antisemitismusforschung nach und erörtert in ihrem Buch Gründe, warum der Genozid wenig rezipiert wurde. Zunächst werden hier der Buchinhalt, dann drei weiße Flecken der Forschung berührt.

In vier Kapiteln erhellt Schaefgen den Völkermord und seine Vorgeschichte, dessen Rezeption in Deutschland bis 1945 und im folgenden halben Jahrhundert. Sie rundet ihre Arbeit durch Kapitel vier ab, indem sie das Echo auf den Genozid in der deutschen Literatur auslotet. Im Kern stellt die Autorin dar, wie Deutsche den Völkermord aufgenommen haben: vom Beginn am 24. April 1915 über das Buchverbot von Johannes Lepsius' „Der Todesgang des armenischen Volkes“ im Folgejahr bis zum Mord am ehemaligen türkischen Innenminister Talaat Pascha in Berlin 1921 durch den armenischen Studenten Salomon Teilirian. Der Armenier wurde alsbald freigesprochen. Diesen Prozess, dem der spätere Vizeankläger in Nürnberg, Robert Kempner als Jurastudent beiwohnte, feierte der sozialdemokratische „Vorwärts“ damals als ersten echten Kriegsverbrecherprozess. Dann begann eine große Stille, gegen die Literaten angingen, darunter Franz Werfel 1933 mit seinem bewegenden Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Nazis rechneten Armenier zwar offiziell zu „Ariern“, doch propagierten sie auch ihre Rassenideologie von deren Nähe zu Juden.

In der Bonner Republik gewannen rasch Beziehungen zum NATO-Mitglied Türkei Vorrang. Ähnlich stand es um die Sowjetunion und ihre Sowjetrepublik Armenien. Wie Schaefgen jetzt herausfand, kamen Armenier meist unter Innenpolitik und Minoritäten vor. Botschafter Oellers, der die Osttürkei bereiste, berichtete zum Beispiel, Türken hätten „die Armenier-Frage restlos gelöst“. Diejenigen, kabelte Fritz Oellers Mitte 1957 weiter nach Bonn, die Pogrome im Ersten Weltkrieg überlebten, wären danach aus diesen Gegenden verzogen. Jedoch gebe es dort noch viele verlassene Kirchen, darunter auch am Van-See, die schönsten auf der Ahtamar-Insel „(10. Jahrhundert)“.

Das änderte sich wenig nach 1961, dem Startjahr der umfänglichen Immigration ausländischer Arbeitnehmer: sowohl Türken als auch Armenier zogen nach Westdeutschland. Die Armenier kamen auch 20 Jahre später in die Berliner Republik, die 2003 mit Robert Kotscharian erstmals einen Präsidenten Armeniens begrüßt hat. Am Rande tauchte die Frage auf, ob der Bundestag eine Resolution wie das Pariser Parlament annehme, das den Genozid an Armeniern nach dem Millenium anerkannt hat. Die Standardformel lautete: Regierung und Parlament nehmen nicht zu historischen Ereignissen in anderen Ländern Stellung. Eine Petition im Millenium beförderte letztlich gleichwohl die Erklärung des Bundestages Mitte Juni 2005 über die Vertreibung und die Massaker an Armeniern und über den deutschen Beitrag zur Versöhnung von Armeniern und Türken. Diese Resolution ist ein Meilenstein, weil sie nicht nur auf den Völkermord verweist, sondern die historische Aufarbeitung, Versöhnung und die Öffnung der Archive anspricht. Die Übergabe deutscher Akten an die Türkei wird erwähnt. War da Max von Oppenheims Djihad-Plan dabei?

Dreiviertel der etwa 40.000 Armenier Deutschlands stammen aus der Türkei. Insbesondere für sie, sagt Schaefgen, sei das fehlende Wissen über ihre Geschichte verletzend. Oft herrsche die Sichtweise der türkischen Regierung vor, die den Völkermord als „kriegsbedingte Maßnahme“ rechtfertige. Die Provokationsthese werde angeführt, wonach sich Armenier gegen Osmanen erhoben oder zuvor Massaker an Türken und Kurden begangen hätten. Die Zahl der Opfer werde meist relativiert oder die Vorsätzlichkeit der systematischen Tat geleugnet. Dies bilde Ankaras Staatsdoktrin. Wer davon abweiche und gar in Rede oder Schrift feststelle, der Völkermord an Armeniern fand statt, könne nach türkischem Recht für Herabsetzung des Türkentums belangt werden. Andererseits scheute sich Schaefgen nicht, die von Armeniern organisierte Terrorwelle der 70er Jahre darzustellen.

Richtig betont Annette Schaefgen, dass viel zu erforschen ist, trotz der versperrten türkischen Archive. Hier komme ich auf die erwähnten drei weißen Flecken zurück. Das betrifft zunächst den großen Djihad-Plan Baron Max von Oppenheims im November 1914. Dazu so viel: dieser deutsche Diplomat weilte ab 1896 als Attaché am Generalkonsulat Kairo, um dem Auswärtigen Amt über die „ganze Islamische Welt“ zu berichten. Er sah, dass der osmanische Sultan-Khalif Abdül Hamid II sein im Berliner Vertrag von 1878 gegebenes Versprechen auf Reformen auch zugunsten der armenischen Minderheit nicht einlöste. Im Gegenteil. Er schuf die Bedingungen, die in seinem Reich zwei Jahre lang bis 1896 die ersten Pogrome gegen die Armenier begünstigt haben.

Dennoch besuchte Kaiser Wilhelm II den Sultan-Khalif im Folgejahr. Kurz vor dieser Reise hatte der Baron den politischen Islam als Mittel der Berliner Weltpolitik entdeckt. Er beschrieb den „Panislamismus“ Mitte 1898 in einem Kabel aus Kairo an den Reichskanzler. Dabei lautete seine Botschaft an Kanzler und Kaiser verkürzt so: Deutsche sollten sich den Sultan-Khalif zum Freunde machen. Militärisch bedeute er wenig, jedoch könne er als Hauptinitiator der jüngsten panislamischen und antichristlichen Bewegung den Djihad im kolonialen Rücken eventueller deutscher Feinde auslösen. Nicht zuletzt in diesem Sinne versicherte der Kaiser in Damaskus den 300 Millionen Muslimen, zu allen Zeiten ihr Freund zu sein. Mehr noch. Er legte in einem Akt der enormen Anbiederung gar einen Kranz am dortigen Grabe Sultan Salah ad-Din al-Aiyubis nieder, der rund 700 Jahre zuvor Jerusalem den Christen entwunden und den dritten Kreuzzug ausgelöst hatte.

Nach dieser Grundlegung gedieh die deutsch-osmanische Kooperation durch den Austausch von Militärs und durch eine Gruppe deutscher Militärberater am Bosporus. Zudem war Enver Pascha, eine Hauptfigur der Jungtürken, drei Jahre Militärattaché in Berlin. Er vor allem drängte die Jungtürken, auf deutscher Seite in den Ersten Weltkrieg einzutreten. Dafür legte Max von Oppenheim dem Kaiser seinen Djihad-Plan im Oktober 1914 auf 136 Seiten dar: der türkische Sultan-Khalif möge im kolonialen Hinterland den Djihad gegen Briten, Franzosen und Russen ausrufen. Der Kaiser bestätigte dies, der Djihad wurde entfacht. Oppenheim etablierte dafür eine Leitstelle im Auswärtigen Amt, eine Istanbuler Zentrale und 70 Agitationszentren im Reich der Osmanen. Wie geplant und von deutschen Experten, Militärs und Beamten koordiniert, ließ der Sultan-Khalif Mitte November 1914 den Djihad-Geist aus der Flasche. Zwar betonte der Baron dazu, dieser Djihad richte sich nicht gegen alle Andersgläubigen, sondern nur gegen relevante Fremdherren, „um nicht andere Nationalitäten darunter leiden zu lassen“. Jedoch schürte er den Fanatismus und kalkulierte es ein, dass Banden auch christliche Minoritäten im Osmanischen Reich angreifen würden.

Insofern legte sein Djihad-Plan eine Lunte an das durch den gärenden Nationalismus ohnehin explosive Vielvölkerfass. Hinzu kommt, dass Oppenheim nicht nur negativ über Armenier und anderen Christen schrieb, sondern zudem taktisch eingriff. In seinem Djihad-Plan betonte er, die Armenier Ägyptens seien unbrauchbar, da nicht englandfeindlich. In Syrien sympathisierten sie „mit unseren Feinden“ und hassen die muslimisch-türkische Herrschaft. So werden die dortigen christlichen Eisenbahner – darunter nicht wenige Armenier - Sabotage und „jeden Verrat“ üben, ja für Eisenbahnunfälle sorgen. Indem sie die Truppentransporte stören könnten, möge man sie durch Deutsche ersetzten und „eventuell durch Strafandrohungen gegen ihre Familien sichern“. Im Kaukasus sei ein scharfer Djihad nötig, um eine russische Invasion aus armenischen Räumen Kleinasiens zu verhindern. Mit deutscher Hilfe möge der türkische Einfall in Russland befördert werden.

Armenier in russischen Gebieten, so der Baron, „dürften nicht mit Unrecht im Orient als feige und dabei große Intriganten verschrien sein“. Daher seien auch im Kaukasus mit allen Mitteln muslimische Revolten zu fördern. Er riet bei den Armeniern zur Vorsicht: sie wären im Krieg eher eine Gefahr als nützlich; sie würden wohl nur dann aufstehen, wenn ihre muslimischen Landsleute für sie die Kämpfe gewonnen haben, aber später umso größeren Lohn verlangen. Kriegsminister Enver Pascha sorgte seit November 1914 in den Moscheen für die Verbreitung der aus dem Djihad-Plan abgeleiteten Zirkulare über das Osmanische Reich hinaus. Wie auch Oppenheim forderte er, Banden zu bilden und „viele kleine Putsche und Attentate“ anzuzetteln. Muslime sollten überdies ihre örtlichen christlichen Nachbarn angreifen, verlangte ein derartiges Rundschreiben, das der damalige US-Botschafter in der Türkei, Henry Morgenthau, überliefert hat. Als Kriegsideologie goss die konzertierte deutsch-osmanische Djihad-Aktion viel Öl in das Feuer und lieferte gleichwohl religiös motivierte Rechtfertigungen für Mordanschläge gegen die Armenier.

Zu zwei weiteren weißen Flecken. Sie betreffen die Memoiren Kreß von Kressensteins, der sich über eine umgekehrte Taktik der Armenier äußerte: ihr Oberhaupt habe den Heiligen Krieg gegen die Osmanen erklärt. Sicher darf das nicht den Genozid rechtfertigen, jedoch bleibt dieses Mosaik noch zu fügen. Das betrifft auch die Worte jenes Generals zur Befehlsrücknahme 1915, wegen der „Armenier-Unruhen“ alle am Bahnbau beschäftigten Armenier „in die Wüste zu schicken“. Schließlich fragt sich, wie Ostberlin in Politik und Wissenschaft zu den Armeniern stand. Annette Schaefgen legte das beste Überblickswerk zur deutschen Rezeption des ersten Genozids im 20. Jahrhundert vor. Freilich sorgt es für manche Emotionen, die auch junge Leute im deutschen Bildungswesen haben, so nicht wenige turkstämmige und armenische Jugendliche.

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05.05.2006
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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