K. Raj: Relocating Modern Science

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Title
Relocating Modern Science. Circulation and the Construction of Knowledge in South Asia and Europe, 1650-1900


Author(s)
Raj, Kapil
Published
Houndmills 2007: Palgrave Macmillan
Extent
285 S.
Price
£ 50.00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Michael Mann, FernUniversität in Hagen, Historisches Institut

Ausgehend von der einen landläufigen Behauptung, den Asiaten allgemein und besonders den Chinesen, Indern und Arabern habe es an Rationalität gefehlt und der zweiten nicht minder pauschalen Behauptung, die sich jedoch folgenschwer daraus ergibt, alle „modernen Wissenschaften“ hätten in Europa ihren Ursprung gehabt und seien von dort in die Welt getragen worden, versucht Kapil Raj zu begegnen, indem er dem Axiom von der westlichen Überlegenheit Erkenntnisse über den gegenseitigen Austausch in Kontaktzonen, die durch die Zirkulation von Menschen entstanden sind und an denen Wissen erzeugt wurde, entgegensetzt.

Speziell gegen das von George Basalla 1967 aufgebaute Stufenmodell, wonach die europäischen „modernen Wissenschaften“ seit dem 16. Jahrhundert außereuropäische Territorien zunächst als passive Lieferanten für Informationen benutzt hätten, um jene Länder anschließend in Form von Kolonien zu Laboratorien der westlichen Wissenschaftsnationen zu machen und einheimische Wissenschaftler allmählich auszubilden und einzubinden, die schließlich, nach der politischen Unabhängigkeit, ihre eigenen „nationalen“ Wissenschaftsbetriebe aufbauten, freilich im nun global etablierten Diskurs der aufklärerischen Wissenschaftstradition, argumentiert Kapil Raj. Er hält dieser „Diffusionstheorie“, nach der Wissen von West nach Ost durchsickerte, entgegen, diese Art der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte könne nicht länger unter dem Paradigma von „the West and the rest“ betrieben werden, eben so wenig wie Wissenschaftsbetriebe lediglich als rein nationale Narrative zu lesen sind.

Indes ist die Geschichte von der gegenseitigen Beeinflussung und dem Rückgriff von Reisenden, Händlern und Kolonialangestellten auf lokales Wissen so neu nicht. Seit gut zwei Jahrzehnten wird gerade in der Forschung zu Südasien immer stärker die Rolle der indischen Mitarbeiter, seien es Handelsagenten, Dolmetscher, Informanten oder Gelehrte, hervorgehoben. Zurecht betont Kapil Raj jedoch, dass die Orte des Erfahrungs-, Informations- und Wissensaustausches nicht, wie bislang gedacht, fast ausschließlich die universitären oder andere akademische Institutionen waren, sondern dass dieser Austausch an vielen „Begegnungsorten“ stattfinden konnte, so in Caféhäusern, Restaurants und Kneipen – folglich der informelle Ort gegenüber dem formellen Raum bedeutsamer war. Wissenschaften waren keine isolierten Tüfteleien als vielmehr ein gesellschaftliches Phänomen, das weitaus breitere Schichten der Bevölkerung mit einbezog als bislang vermutet.

Die oben bereits genannten „Kontaktzonen“, die über die Zirkulation von Menschen an verschiedenen Orten der Welt entstanden und sich ständig verlagern konnten, werden demnach zu Zentren der Wissenserzeugung und des Wissenstransfers. Damit schließt sich Kapil Raj einer kleinen Schar von Wissenschaftshistorikern an, die zu Amerika und dem Pazifik arbeiten. Ihr Neuansatz besteht in der Untersuchung so genannter „Freiluft-Wissenschaften“ („open air sciences“), in Abgrenzung zu den Feldforschungen und, elementar, zur Laborforschung. Bei den beiden letztgenannten würden die Resultate in den Studierstuben niedergeschrieben, während sich die „Freiluft-Forschung“ insofern davon unterscheidet, als Disziplinen wie Kartografie, Medizin und Linguistik auf interkultureller Kommunikation beruhen. Allerdings scheint Kapil Raj nicht bedacht zu haben, dass beispielsweise auch das so produzierte Kartenwissen zum indischen Subkontinent an den Zeichentischen der Briten seinen kartografischen Niederschlag fand.

So mag das entsprechende Kapitel über die geografische Erfassung und kartografische Konstruktion Indiens seit den kolonialen Anfängen und vor allem der Tätigkeit von James Rennell nicht recht überzeugen. Unbestritten ist, dass Rennell, im Unterschied zu seinen Vorgängern, Bengalen über seine zahllosen Wasserläufe bereiste und bei gelegentlichen Landgängen von Ortskundigen weiter gehende Informationen zu Distanzen zwischen Städten und markanten Plätzen erfragte. Bekannt ist auch, dass er, wie viele seiner Nachfolger, auf lokale Vermessungspraktiken zur steuerlichen Erfassung von Ländereien oder auch auf bestehendes Kartenmaterial zurückgriff. Doch erwähnt Kapil Raj nicht, dass Rennell sich zur Zeichnung der Karten nach Dhaka zurückzog und hier Monate lang die gesammelten Daten, Informationen und Zeichnungen auswertete und nach dem zeitgenössischen europäischen Verständnis von Kartografie anfertigte.1

Aufschlussreicher ist hingegen das Kapitel zu den „Surgeons, Fakirs, Merchants, and Craftsmen“. Auch wenn die Dokumentenbasis ein wenig dünn ist, sind die Schlussfolgerungen durchaus angemessen. Wie bei der Kartografie wird auch bei der Erstellung botanischer Kompilationswerke deutlich, dass neben der „hybriden Wissensgenerierung“ mittels indischer und französischer bzw. britischer Informations- und Wissensträger und der Anfertigung von Werken nach den zeitgenössischen Vorgaben aus den Universitäten und Akademien in Europa es auch zu Entwicklungen kommen konnte, die gegen die ursprünglich wissenschaftliche Absicht gingen. So, wenn das eigentlich sensationelle „Jardin de Lorixa“ eines gewissen Nicolas L`Empereur, der im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts in Pondicheri lebte, durchaus vergleichbar war mit dem zwischen 1678 und 1694 publizierten und in ganz Europa verbreiteten „Hortus Malabaricus“ des Niederländers Henrik van Rheede tot Drakenstein, vermutlich aufgrund von Animositäten und Konkurrenz in der Zentrale der Compagnie des Indes, nie die Examinierung durch den „Experten“ Antoine de Jusssieu passierte. Weder erhielt L´Empereur je eine finanzielle Anerkennung noch das Werk Aufmerksamkeit, denn es verschwand „anonym“ im Jardin du Roi.

Im Wesentlichen überzeugend ist das Kapitel zum „British Orientalism in the Early Nineteenth Century, or Globalism versus Universalism“. Hier gelingt es Kapil Raj, die seit Ausbruch der Revolutionskriege grassierende britische Franzosenphobie und ihre Auswirkungen auf Britisch-Indien auf dem Feld der Ausbildung von Angestellten der East India Company deutlich herauszuarbeiten. Egalitäre Prinzipien, wie sie in Großbritannien nach dem Erfolg der Französischen Revolution durchaus Anklang fanden, taugten, so Generalgouverneur Richard Wellesley an der Wende zum 19. Jahrhundert, nicht für die Verwaltung Indiens, wo die traditionelle Gesellschaft hierarchisch gegliedert war und es bleiben sollte. Um zu verhindern, dass junge Angestellte ihre Vorstellungen von Gleichheit mit nach Calcutta brachten, richtete Wellesley „Fort William College“ ein, das elementaren Unterricht in klassischen europäischen Disziplinen und Unterricht in diversen indischen Sprachen verpflichtend lehrte. Für diesen wurde indisches Lehrpersonal eingestellt, das auch im englischen, unternehmenseigenen Haileybury College Anstellung fand, nachdem Fort William College 1831 aufgelöst worden war. Der europäische Krieg förderte in Südasien eine vorgeblich liberale, weil Inder einbeziehende Bildungspolitik. Dass sie nicht „libertär“ war im Sinne einer Bildungspolitik für Inder, hätte durchaus erwähnt werden können. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Indien wieder einmal nur den Boden für eine Auseinandersetzung zwischen den beiden rivalisierenden Hegemonialmächten Europas bereitstellte.

Diese Feststellung führt denn auch zum Kern der Kritik. Das Buch basiert auf einer Reihe von Aufsätzen, die unabhängig in Zeitschriften und Sammelbänden publiziert worden sind. Sie zu bündeln, ergibt nicht durchweg Sinn, denn insgesamt sind die einzelnen Beispiele zu disparat, als dass sie ein Gesamtes ergeben. Die Einleitung und zu Teilen auch die Zusammenfassung wollen den theoretischen Rahmen setzen, was gelingt, doch der Inhalt kann nicht immer mithalten. Die „gesammelten Aufsätze“ Kapil Rajs fassen eine seit längerem anhaltende wissenschaftsgeschichtliche Debatte pointiert zusammen ohne sie jedoch weiter zu bringen. Eher scheint es, als ob in dogmatisch klingender Weise die Hybridität der Wissenserzeugung postuliert wird, ohne dass es dabei zu einem tatsächlichen Paradigmenwechsel kommt. Der aber könnte endlich einmal die indische Perspektive einnehmen und sie nicht nur einbeziehen. Ansätze dazu gibt es, doch die rezipiert Kapil Raj bedauerlicher Weise nicht.2 Auch fehlt das eine oder andere Standardwerk, ein Manko, das bei einem Buch und dem darin formulierten Anspruch, mit jedem Kapitel ein repräsentatives Feld der Wissenschaftsgeschichte bearbeiten zu wollen, nicht auftreten darf.3

So enttäuscht das Buch trotz aller darin erbrachter wissenschaftlicher Leistungen doch ein wenig. Das hängt sicherlich auch an den hoch geschraubten Erwartungen, die sich nach der Lektüre der Einleitung ergeben, denn hinter diese fällt die eigentliche Darstellung zurück. Als einzelne Aufsätze sind die separaten Kapitel hoch spannend und erkenntnisreich, als Sammelband aber verfehlen sie den Zweck des umfassenden Überblicks, dazu sind die einzelnen Aufsätze/Kapitel zu exemplarisch, um nicht zu sagen singulär.

Anmerkungen:
1 Obgleich der Rezensent Kapil Raj den eigenen Beitrag „Mapping the country: European geography and the cartographical construction of India, 1760-1790”, in Science, Technology and Society 8 (2003), S. 25-46 postalisch hat zukommen lassen (beide Beiträge sind unabhängig voneinander als Aufsätze fast gleichzeitig erschienen), haben die hierin festgehaltenen Forschungsergebnisse zum Thema keinen Niederschlag bei der Buchpublikation gefunden.
2 Zwar werden Aufsätze und ein Sammelband von Dhruv Raina und S. Irfan Habib im Literaturverzeichnis angegeben und auch einmalig zitiert, jedoch ohne den weitreichenden Ansatz beider Autoren aufzugreifen. Obendrein wird das neueste und wichtige Werk der beiden genannten Autoren, Domesticating Modern Science. A Social History of Science and Culture in Colonial India, New Delhi 2004 überhaupt nicht erwähnt.
3 So beispielsweise Grove, Richard H., Green Imperialism. Colonial Expansion, tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600-1860, Cambridge 1995.

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31.05.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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