Die Pointe von Jan Zielonkas Überlegungen besteht darin, dass in ihnen zwei sonst voneinander getrennte Diskussionsstränge miteinander verbunden werden: derjenige über die Frage, an welchen Vorbildern und Modellen sich der in den 1950er-Jahren begonnene europäische Integrationsprozess zu orientieren habe und wie man ihn begrifflich angemessen fassen könne, und derjenige über das zuletzt kontrovers diskutierte Problem, ob es sich bei den USA um ein Imperium, eine Hegemonial- oder „bloß“ eine Supermacht handele. Zielonka gibt der Zusammenführung beider Diskurse eine überraschende Wende: Seine Folgerung lautet nicht etwa, Europa müsse nun endlich mehr in seine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) investieren, um sich neben den USA als ein eigenständiger Akteur behaupten zu können. Vielmehr konturiert er die Europäische Union als ein besonderes Modell der politisch-ökonomischen Ordnung, das er mit Blick auf seine innere Vielfalt, seine militärische Schwäche und seine einander vielfältig überlappenden Institutionen und Regeln als „neomedievales Imperium“ bezeichnet.
Zielonka führt nicht weiter aus, welches der in die Zeit des Mittelalters fallenden Reiche ihm besonders vor Augen steht, aber es liegt nahe, dabei nicht an das Mongolenreich der Dschingis oder Kublai Khan zu denken, auch nicht an das Oströmische oder das Osmanische Reich, sondern an das von den Karolingern erneuerte Reich in Westeuropa, das sich seit Otto III. bewusst und explizit in die Tradition des Römischen Reichs stellte, unter den salischen und staufischen Kaisern eine beherrschende Rolle in Europa spielte, nach einer Phase der Schwäche im 16. Jahrhundert unter den habsburgischen Kaisern wieder zu einer bestimmenden Kraft der europäischen Verhältnisse aufstieg, nach dem Dreißigjährigen Krieg ein machtpolitisches Schattendasein führte und von Napoleon schließlich liquidiert wurde. Dieser Vergleich mit dem mittelalterlich-frühneuzeitlichen Reich ist nicht unbedingt neu, aber er wurde selten so positiv und mit einer derart optimistischen Grundeinstellung vorgenommen wie von Zielonka. Das ist um so bemerkenswerter, als seine Bezüge sich nicht auf die Stärkephasen dieses Reichs konzentrieren, sondern auf die Perioden, in denen sich äußere Mächte fortgesetzt in die „inneren Angelegenheiten“ des Reiches einmischten. Zwar hat es in der deutschen Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte einige Anläufe zur politischen Rehabilitierung dieses Reichs gegeben, aber nach wie vor dominiert das Bild des Schwächlings, wie es von der borussischen Historiographie gezeichnet worden ist. Zielonka hat sich also, zumal für deutsche Rezipienten, auf hochgradig vermintes Gebiet begeben.
Seine Zielsetzung ist klar: Er will den europäischen Erweiterungs- und Integrationsprozess von dessen Ausrichtung am Modell der Staatlichkeit abbringen, nicht aber die Ungewissheit dieses Prozesses akzeptieren, wie sie in der etablierten Europaforschung mit Begriffen wie „Gebilde sui generis“ vorherrscht. Deswegen unterscheidet er auch zwischen Imperien, die dem ‚westfälischen Typus’ zuzurechnen sind, und ‚medievalen’ Imperien, die eine prinzipiell andere Struktur aufweisen und einer anderen Handlungslogik folgen. Während der so genannte westfälische Typ auf Eroberung und militärische Potenz setzt, bietet das medievale Imperium eher peripherieorientierte Dienstleistungen an, indem es diese Peripherie mit Aussicht auf gleichberechtigte Teilhabe zum Beitritt einlädt und dafür politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität in Aussicht stellt. Das Imperium des medievalen Typs ist notorisch benevolent; es begegnet seiner Umgebung mit Wohlwollen und Hilfsbereitschaft – nicht weil die jeweilige politische Führung diese Linie präferiert, sondern weil es strukturell so ausgelegt ist. Das hat freilich seinen Preis, und der besteht in Unentschlossenheit und Handlungsbeschränkung, wenn dieses Imperium mit bösartigen und gewaltbereiten Politikakteuren konfrontiert wird. Konkret: Dem kaum zu überschätzenden Erfolg der europäischen Osterweiterung, der entgegen allen Befürchtungen einen politisch stabilen Raum geschaffen hat, steht das eklatante Versagen der europäischen Gemeinschaft auf dem Balkan während der 1990er-Jahre gegenüber, als erst das massive Eingreifen der USA die Politik des Verbrechens stoppen konnte.
Man mag bezweifeln, ob Zielonkas zweipolige Unterscheidung zwischen Imperien des westfälischen und des medievalen Typus angemessen ist oder ob es hier nicht einer stärkeren typologischen Vielfalt und größerer historischer Tiefe bedurft hätte. Schließlich ist die Westfälische Ordnung, also das 1648 inaugurierte europäische Staatensystem mit seinen zumeist fünf Vormächten (Pentarchie), gerade gegen die imperiale Beherrschung des Kontinents gerichtet gewesen. Im Konflikt zwischen den Habsburgern und den Bourbonen hatte sich herausgestellt, dass weder Wien noch Paris, weder Madrid noch sonst ein Machtzentrum in Europa stark genug waren, den gesamten Raum unter Kontrolle zu bringen. Der Kompromiss, auf den sich die Kriegsparteien in Münster und Osnabrück einigten, lief im Kern darauf hinaus, dass keiner eine imperiale Oberhoheit über den Kontinent beanspruchen dürfe. Die Formel, in der dieser Kompromiss gefasst wurde, war die Kombination von Souveränität und Territorialität, aus welcher der neuzeitliche institutionelle Flächenstaat hervorgegangen ist. Er trat an die Stelle einer imperialen Ordnung in Europa, die zeitweilig kraftvoll, expansiv und auf militärische Fähigkeiten setzend, dann aber auch wieder in sich gekehrt, mit der Befriedung von inneren Konflikten befasst und auf die Förderung von Wohlstand konzentriert war. Der europäische Integrationsprozess und seine Erweiterungsetappen sind als Domestikation der zerstörerischen Dynamiken dieses Staatensystems zu verstehen, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Tage traten, wobei man freilich die Vorteile nicht aufgeben wollte, die aus dem staatlichen Ordnungsmodell erwachsen sind. Das macht die immer wieder ins Auge stechende Ambivalenz der europäischen Ordnung und ihrer Ausdehnung nach Süden und Osten aus.
Tatsächlich weist die politisch-ökonomische Ordnung Europas eine Reihe von Merkmalen auf, durch die sie sich deutlich vom Modell des Staates absetzt und dem Modell des Imperiums annähert. Dazu gehört die innere Vielfalt, die aus einem System von Teil- und Schnittmengen erwächst, insofern der Raum der EU nicht mit demjenigen des Euro oder auch dem Schengen-Raum identisch ist. Demgemäß sind die Grenzziehungen des europäischen Raums undeutlich. Der klassische Staat begegnet an seinen Grenzen einem symmetrischen Akteur, zu dem er in ein Verhältnis der Reziprozität eintritt. An den Außengrenzen der EU hingegen tummeln sich Akteure, die in die EU hineinwollen bzw. die Ausdehnung des europäischen Rechts- und Transfersystems auf ihr Gebiet anstreben. Die EU steht einem solchen Begehren nicht prinzipiell ablehnend gegenüber, sondern konditioniert die Bewerber: Wer die Beitrittsreife erlangt hat, darf beitreten. Es handelt sich hier um ein grundsätzlich asymmetrisches Verhältnis, das von Zielonka mit Recht als imperial bezeichnet wird, aber es ist kein auf Unterdrückung und Ausbeutung angelegtes Verhältnis, wie dies nach den Vorgaben der Imperialismustheorien der Fall sein müsste. Die lange dominierenden Imperialismustheorien haben den Blick auf die Vielgestaltigkeit der Imperien und die Vielfalt ihrer Leistungen verstellt.
Wie aber stellt sich in Zielonkas Sicht das Verhältnis zwischen Europa und den USA sowie anderen semiimperialen Politikakteuren dar, etwa dem wiedererstarkten Russland? Schon die Unterscheidung der beiden Imperiumstypen, des westfälischen und des neomedievalen, zeigt, dass es dabei keineswegs um imperiale Konkurrenz gehen muss, sondern dass auch komplementäre Verhältnisse vorstellbar sind. So wachen die USA eifersüchtig darüber, dass die europäische Sicherheitspolitik wesentlich durch die Nato gewährleistet wird und alle Bemühungen zur Entwicklung eines selbstständig operationsfähigen europäischen Beitrags im Ansatz steckenbleiben. Und für den Fall, dass die Europäer in für die US-Administration essentiellen Fragen eine markante Gegenposition beziehen, sind die USA auch bereit, auf das alte imperiale Beherrschungsmodell des ‚divide et impera’ zurückzugreifen, wie sich dies in der Apostrophierung eines ‚Neuen’ und eines ‚Alten’ Europas während der Irak-Intervention gezeigt hat. Dass derlei greift, führt Zielonka darauf zurück, dass sich einige europäische Staaten, wenn dies denn unvermeidlich ist, lieber von den USA als von einem europäischen Nachbarn beherrschen lassen. Das gibt den USA Einflussmöglichkeiten auf die europäische Politik, die verhindern, dass Europa zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten bei der Regelung globaler Fragen aufsteigen könnte. Aber die USA sind doch auch, wie Zielonka herausstellt, am Gelingen der europäischen Integration interessiert, weil deren Scheitern für sie nicht nur eine sicherheitspolitische Herausforderung darstellen würde, sondern vor allem eine wirtschaftspolitische Belastung.
Im Unterschied dazu ist Russland bestrebt, die Europäische Union soweit wie möglich zu ignorieren und stattdessen mit den einzelnen Staaten bilaterale Politik zu betreiben. Das ist unverkennbar im Moskauer Interesse und folgt ebenfalls den Regeln des ‚divide et impera’, freilich mit einer gänzlich anderen Perspektive als im Falle der USA. In Moskau scheint man nämlich darauf zu setzen, dass der EU die Bändigung der in ihr zusammengeführten zentrifugalen Kräfte auf Dauer nicht gelingen werde. Dass der Kreml recht behalten könnte, lässt sich auf der Grundlage von Zielonkas Überlegungen nicht ausschließen: Auch das mittelalterliche Reich ist schließlich den partiellen Interessen im Innern zum Opfer gefallen. Aber der Gedanke, dass es Ordnungen für die Ewigkeit gebe und man obendrein auch noch in ihnen angekommen sei, war eine Idee, die nach 1989 aufgetaucht ist und als These vom „Ende der Geschichte“ kurzzeitig Furore machte. Dass dieses Ende noch nicht gekommen ist, hat inzwischen selbst ihr engagiertester Verfechter Francis Fukuyama erkannt. Dass die zurückliegende Geschichte dagegen eine Fundgrube für Modelle ist, mit denen sich Zukunft entwerfen und gestalten lässt, führt Jan Zielonka eindrucksvoll vor.