Historische Studien über Ozeane, Meere und Flüsse haben Konjunktur. Als kulturelle, politische, soziale oder wirtschaftliche Interaktionsräume sind sie geradezu prädestiniert für globalgeschichtlich inspirierte Arbeiten aus sehr unterschiedlichen historischen Teilbereichen. Jan Breitingers gewichtige Dissertation, entstanden an der Universität Marburg, ist da keine Ausnahme. Doch bei ihm ist der Raum ein anderer: der Viktoriasee, der größte See Afrikas. Seine Geschichte schreibt Breitinger aus einer gelungenen Kombination von Wissensgeschichte, Kolonial- und Globalgeschichte sowie der Umweltgeschichte. In drei großen Teilen entfaltet er sechs Themen: die Erkundung und Erforschung des Sees, seine Nutzung und Entwicklung durch koloniale und internationale, später auch nationale staatliche Akteure und private Unternehmen, und schließlich, in einem „Warnen und Schützen“ betitelten Teil, deren ökologische Wirkungen und die an Naturschutz interessierten Akteure. Gemein ist diesen sechs Themen, dass sie von Wissen und vom Handeln externer Akteure erzählen – von europäischen und speziell britischen Forschern und Kolonialbeamten, ausländischen Unternehmen, nationalen Regierungssitzen oder internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Dieses Akteurstableau ist beeindruckend breit.
Umso mehr hat der Rezensent eine Akteursgruppe vermisst: die lokalen Bevölkerungen, die vielen Menschen, die am Viktoriasee lebten und leben und mit deren Arbeitskraft der See erforscht und genutzt wurde. Sie finden immer mal wieder eine Erwähnung, aber sie bleiben amorph und anonym, Objekte im globalen Prozess der kapitalistischen Integration im 20. Jahrhundert. Jan Breitinger begründet dies mit mangelnden Quellen und mit den ihm zur Verfügung stehenden endlichen eigenen Ressourcen. Das ist verständlich. Und doch bleibt es bedauerlich. Aber auch Ethnologen, Humangeographen oder Afrikaexperten sollten sich von Breitingers strategischer Entscheidung nicht abschrecken lassen oder sein Buch aus prinzipiellen Gründen links liegen lassen. Denn seine Befunde sind auch für ihre Forschungsagenden und Anliegen anschlussfähig.
Die Quellenbasis von Dissertation und Buch bilden Akten des britischen Foreign Office, des Colonial Office und der britischen Entwicklungsbehörden. Darüber hinaus konnte der Verfasser Bestände in Uganda einsehen. Ebenso beeindruckend vielfältig sind die ausgewerteten Dokumente zahlreicher wissenschaftlicher Institutionen, Internationaler Organisationen, Zeitungsartikel und Herausgaben afrikanischer Regierungen. Die Bibliographie der Sekundärliteratur lässt sehr wenige Wünsche offen; speziell limnologisch interessierte Leserinnen und Leser finden hier ein veritables Kompendium.
Der erste Teil, „Erkunden und Erforschen“, widmet sich den Expeditionen britischer Wissenschaftler, die auf der Suche nach der Quelle des Nils um die Wende zum 20. Jahrhundert den Viktoriasee zu erforschen begannen. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Intensität der Forschung zu. Nun stellte sie sich mehr als zuvor in den Dienst der Kolonialverwaltung, die an „einer gezielteren Nutzbarmachung der Natur und dadurch der Sicherung der politischen und ökonomischen Herrschaft“ (S. 147) interessiert war. Albert Saurrauts Forderung nach einer „mise en valeur“, einer Inwertsetzung der Kolonien, lässt sich am Beispiel des Viktoriasees mühelos auf den britischen imperialen Kontext übertragen. Das biologische Habitat erregte wegen seiner Artenvielfalt Aufsehen – Bedeutung gewann es aber vor allem als Fischfangressource. Am Viktoriasee konkretisierten sich Vorstellungen, die bereits um die Jahrhundertwende formuliert worden waren: das Empire diente nicht nur der Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen; es besaß auch den Auftrag, zu entwickeln. Im konkreten Fall ging es um eine bessere Versorgung der (britischen) Kolonialbevölkerung aufstrebender Städte wie Nairobi mit Nahrungsmitteln. Breitinger widmet sich in diesem Zusammenhang sehr ausführlich dem Aufschwung der limnologischen Forschung und speziell der Fischereibiologie als Beispiel der wissenschaftlichen Durchdringung kolonialer Räume.
Entwicklung spielte während der „zweiten kolonialen Besetzung“ (Anthony Low und John Lonsdale) nach dem Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle für die Kolonialmacht. Sie war ökonomisch begründet, besaß als Legitimation anhaltender Kolonialherrschaft in Afrika aber auch eine höchst politische Dimension. Breitinger arbeitet die vielfältigen entwicklungspolitischen Bemühungen gerade auch in neuen kolonialen, interkolonialen und internationalen Institutionen heraus und zeigt anschaulich die Vernetzung von Forschung, Verwaltung und Unternehmen. Gemeinsam war diesen Akteuren, dass sie gewissermaßen aus einem global konstruierten Raum den See vermaßen, seine Ressourcen taxierten und ihn in einen globalen Kontext von Entwicklung und Nutzung stellten. Die Darstellung bleibt eng dem See und seinen Nachbargewässern verhaftet. Verweise auf andere entwicklungspolitische Projekte wie das Gezira-Scheme am Oberlauf des Nil oder das grandios gescheiterte Tanganyika Groundnut Scheme hätten der Interpretation dieser „zweiten kolonialen Besetzung“ noch mehr Gewicht verleihen können.
Konsequent entfaltet Breitinger im zweiten Teil die entwicklungspolitische Dimension des Sees („Nutzen und Entwickeln“). Hier geht es vor allem um die Fischerei, wobei sich die von den kolonialen Akteuren avisierten Methoden und Techniken stark von denen der einheimischen lokalen Fischer unterschieden. Mechanisierung als Paradigma spätkolonialer Entwicklung stand auch hier nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt. Allerdings nahmen nicht nur die Fangmengen zu; auch immer mehr lokale Fischer partizipierten an der Ausbeutung der Fischgründe. Als folgenreich erwies sich die Aussetzung des Nilbarsches Mitte der 1950er-Jahre.
Zweifellos bedeutete die Übertragung der Souveränität an afrikanische Regierungen Anfang der 1960er-Jahre eine Zäsur. Jan Breitinger spricht in diesem Zusammenhang von einem „Aufkommen von ‚Entwicklung‘“. Seine Darstellung suggeriert jedoch eher Kontinuität im Übergang von Spätkolonialismus und postkolonialer Phase. Denn eigentlich blieb strukturell vieles gleich: zwar wurden die Entwicklungspläne für den See nun von afrikanischen Regierungen verabschiedet, aber ausgearbeitet wurden sie von Experten, die vielfach vor der Unabhängigkeit im Dienst der Kolonialverwaltung gestanden hatten, nun aber etwa für die Food and Agriculture Organization (FAO) arbeiteten. Ungeachtet der Frage von Kontinuität und Wandel trägt die Darstellung viel zur historischen Aufarbeitung der FAO und speziell ihrer Fischereiabteilung bei. Aber an Bedeutung gewannen nicht nur Internationale Organisationen, sondern auch private Unternehmen, die in den 1960er-Jahren verstärkt am See auftraten. Die Nahrungsmittelversorgung war das zentrale Argument für eine stetig zunehmende Fischerei. Diese blieb aber orientiert nicht am lokalen Markt, sondern an den urbanen Räumen der Seeanrainer und zunehmend auch am globalen Markt.
Was die Aussetzung des Nilbarsches im Viktoriasee bewirkte, lässt sich unter anderem in jedem europäischen Supermarkt mit Fischtheke erahnen. Denn dort liegt er, der „Viktoriabarsch“, maschinell filetiert und mit Hilfe komplexer Kühlung im Tod zu einer commodity chain mutiert. „Warnen und Schützen“, so der dritte Teil des Buches, befasst sich ausführlich mit der im Zuge der Globalisierung erfolgten radikalen Transformation des Sees von einem Naturraum zu einer ökonomischen Ressource. Die Fangmengen nahmen bis heute dramatisch zu, wohl auch der Einsatz von Techniken zur Steigerung des Potentials. Der „Viktoriabarsch“ trug (und trägt) erheblich zur Handelsbilanz der Anrainer Uganda, Kenia und Tansania bei. Insofern hatten (und haben) die zunehmende Diskussion um die Degredation des Sees, die vielfältigen (und meist erfolglosen) Bemühungen um Einrichtung von Nationalparks oder Schutzgebieten, die Einleitung von Abwässern und dergleichen mehr eine zentrale ökonomische Bedeutung. Breitinger entwirrt detailliert die Kontroversen und konstatiert, dass sich zivilgesellschaftliche lokale Akteure in der jüngsten Vergangenheit darum bemühen, den See wieder zu ihrem See zu machen. 2007 lebten rund 30 Millionen Menschen in der Region des Viktoriasees (S. 387), viele von ihnen waren unterernährt und statistisch arm. Jan Breitinger benennt die Vor- und Nachteile des Fischexports aus der von der East African Community als „economic growth zone“ bezeichneten Seeregion. Ob wir als Konsumenten des „Viktoriabarsches“ zu ihrem Leid beitragen oder umgekehrt Perspektiven schaffen, ist schwer zu sagen.
Jan Breitinger hat eine wichtige Studie geschrieben, die uns von der Kolonialisierung Afrikas im ausgehenden 19. Jahrhundert mitten hinein in aktuelle Globalisierungsdebatten führt. Mit seinen Schwerpunkten Wissensgeschichte, Globalgeschichte und Umweltgeschichte greift er nicht nur Methoden, Perspektiven und Themen aktueller historischer Subdisziplinen auf. Indem er die Vernetzung zwischen den drei Feldern erklärt, schreibt er auch eine höchst politische und zeitgemäße Geschichte.