Unter dem Titel „New Approaches and Research Practices in Iberian Studies“ fanden vom 16. bis 18.11.2017 die II Jornadas de Estudios Culturales Ibéricos an der TU Chemnitz statt. Die Tagung wurde organisiert von Teresa Pinheiro, Inhaberin der Professur Kultureller und Sozialer Wandel. Gefördert wurde die Veranstaltung von Camões Instituto da Cooperação e da Língua Portugal, Ministerio de Educación, Cultura y Deporte del Gobierno de España, dem Deutschen Hispanistenverband und dem Institut für Europäische Studien. Mit der Fortsetzung der 2014 von Ulrich Winter an der Universität Marburg initiierten I Jornadas stellte die Tagung einen weiteren wichtigen Schritt zur Etablierung der noch jungen Forschungsrichtung der Iberischen Studien im deutschen Kontext dar. Bei der interdisziplinär und international besetzten Tagung zeigte sich eine große Diversität an Themen, Perspektiven und methodischen Forschungsansätzen. In insgesamt acht verschiedenen Sektionen präsentierten die Referent/innen aus Deutschland, Israel, Italien, Irland, Neuseeland, USA und der Iberischen Halbinsel neue Forschungsprojekte und diskutierten über mögliche Verknüpfungspunkte ihrer benachbarten Disziplinen aus den Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften.
In seiner Eröffnungsansprache unterstrich der Dekan der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz, STEFAN GARSZTECKI, die Relevanz der Area Studies für die Europa-Studien. Anschließend referierten ESTHER GIMENO UGALDE (Boston) und HELENA BUFFERY (Cork) in der ersten Sektion über Entwicklungen und Herausforderungen der Iberischen Studien in Großbritannien, Irland und den USA. Gimeno Ugalde stellte die Entwicklung von der Hispanistik hin zu den Iberischen Studien und deren weitere Institutionalisierung in den USA in den letzten zwei Jahrzehnten dar. Zunehmende Sichtbarkeit erlangten die Iberischen Studien in den USA erst in den letzten Jahren auch durch verschiedene Kolloquien und Symposien sowie neu entstandene Arbeits- und Forschungsgruppen. Unter Rückgriff auf Mario Santana reflektierte sie kritisch das Fehlen von Materialien in allen iberischen Sprachen in den USA und die daraus resultierende Notwendigkeit, auf Übersetzungen zurückgreifen zu müssen. An diese Kritik schloss sich der Vortrag von Buffery an, die ihre Perspektive auf die iberische Literatur im Kontext der Iberischen Studien in Großbritannien und Irland richtete. Schließlich seien im europäischen Kontext die Darstellungen der Iberischen Studien in den letzten Jahren sehr eng an die Literatur gebunden. Unter Einbeziehung von Pascale Casanova problematisierte sie die schwierige Produktion und Verbreitung iberischer Literatur, da die Weltliteratur durch den englischsprachigen Kontext dominiert sei. Weiter warb Buffery für eine stärkere Einbeziehung von Spivaks kritischem Verständnis in Bezug auf die iberische Literatur.
An diese epistemologische Reflexion über die Iberischen Studien schloss sich in der nächsten Sektion der Vortrag von JOSÉ MIGUEL SARDICA (Lissabon) an. Zunächst ordnete er die Iberischen Studien in die Global Studies ein, die die Interdependenzen und Verflechtungen der Weltregionen in Fokus haben. Allerdings kritisierte er in dem Kontext die Unterrepräsentation Portugals innerhalb der Iberischen Studien, weshalb er für eine dezidierte Einbeziehung des Entangled-History-Ansatzes plädierte. SANTIAGO PÉREZ ISASI (Lissabon) präsentierte im Anschluss sein Projekt einer digitalen Kartographie über literarische Beziehungen auf der Iberischen Halbinsel im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Durch eine umfangreiche Datensammlung, die mit Hilfe eines Geoinformationssystems in eine digitale Karte eingebunden wird, sollen neue Erkenntnisse über die Beziehungen zwischen Literatur, Kultur und kollektiver Identität gewonnen werden. Dabei soll diese digitale Darstellung ein multipolares Netz mit verschiedenen Zentren und Peripherien sein und sich nicht auf die Beziehung Portugal-Spanien bzw. Madrid-Lissabon begrenzen.
Mit Vorträgen im Kontext von Vergangenheit und Gegenwart sowie Lokal und Global beschäftigten sich NICOLA GILMOUR (Wellington) und MANUEL LÓPEZ FORJAS (Madrid) im nächsten Panel. Gilmour konzentrierte sich auf historische Romane, die seit 1992 erschienen sind und sich mit den muslimischen und jüdischen Gemeinschaften von 711 bis 1492 auseinandersetzen. Mit dem Boom dieser Romane gehe eine Rekonstruktion postdiktatorischer nationaler Mythenbildung einher, die vor allem in einer modernen Interpretation bzw. Idealisierung von „España de las tres culturas“ ihren Ausdruck finde. Im Beitrag von López Forjas war Joaquín Costas „Colectivismo agrario en España“ zentraler Untersuchungsgegenstand. Vor dem Hintergrund des oligarchischen Landbesitzes und der sich zuspitzenden sozialen Frage im Spanien des 19. Jahrhunderts sprach sich der Aragonese Costa für eine Verstaatlichung des Agrarbodens aus.
Die Beiträge der vierten Sektion widmeten sich mit dem arabischen und jüdischen Erbe bzw. deren gegenwärtiger Präsenz in Spanien und Portugal einem weiteren Themenfeld der Iberischen Studien. An einer Vielzahl von historischen Textbeispielen arbeitete MOHANAD AMER KADHIM (Oviedo) in seinem Vortrag das Verständnis des Jüngsten Gerichts bei den Morisken heraus und ging dabei der Frage nach, ob es bei den Morisken eine ‚eschatologische Obsession’ gegeben hat. In der Folge ging SILVINA SCHAMMAH GESSER (Jerusalem) auf die Diskurse und Praxen um sephardische Identitäten in den letzten Jahren ein. Durch Gesetzesänderungen in beiden iberischen Ländern können Nachkommen sephardischer Jüdinnen und Juden die spanische bzw. portugiesische Staatsangehörigkeit beantragen. Schammah Gesser präsentierte vorläufige Ergebnisse einer gemeinsamen Feldforschungsarbeit mit Teresa Pinheiro zu dem Thema, die 2016 und 2017 stattgefunden hat.
Eröffnet wurde der zweite Tag der II Jornadas de Estudios Culturales ibéricos mit der Sektion Literary Landscapes. ENRIC BOU (Venedig) ging in seinem Vortrag auf verschiedene Autoren wie Alfonso Castelao, Josep Maria de Sagarra und Fernando Pessoa ein und präsentierte eine Collage derer Arbeiten, die um das Lob der Bedeutungslosigkeit kreiste. Anschließend zeigte JUAN C. BUSTO CORTINA (Oviedo) die verschiedenen und schwierigen Versuche und Anstrengungen der Verbreitung der asturischen Literatur im Spanien im 19. Jahrhundert auf. Er wies auf zentrale Akteure wie José Caveda y Nava und Pedro José Pidal sowie die Bildung von strategischen Netzwerken in Madrid hin, die für die Verbreitung eine bedeutende Rolle spielten. Trotz aller Bemühungen blieb der asturischen Sprache bei der Entstehung des Autonomiestaates die Anerkennung als ko-offizielle Sprache verwehrt.
Anschließend lag der Schwerpunkt auf galicischen und baskischen Literaturen im Umgang mit Bürgerkrieg, Franquismus und dem baskischen Konflikt. DIEGO RIVADULLA COSTA (Coruña) stellte fest, dass nach dem Ende der Diktatur die Erinnerungen in Galicien zunächst ins Private gedrängt wurden, ab 1996 aber die Erinnerung an Bürgerkrieg und Franquismus immer stärker zu einer sozialen und ab 2000 auch zu einer politischen Debatte führte, bis es schließlich ab 2005 zu einer staatlichen Erinnerungspolitik kam. Er betonte die gegenwärtigen engen Verbindungen und gegenseitigen Beeinflussungen zwischen der Oral History und der Erinnerungsliteratur. ANA GANDARA (Lejona) wies auf die prekäre Situation der baskischen Literatur in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts und deren Konsolidierung und Professionalisierung seit den 1980er-Jahren hin. Diese Kontextualisierung sei wichtig, um „Manu Militari“ (Joxe Austín Arrieta, 1987) einordnen zu können. Gandara arbeitete die Multiplizität von Stimmen in diesem Werk als zentrales narratives Instrument heraus. Für MIKEL AYERBE SUDUPE (Lejona) kennzeichnen sich die Erinnerungskulturen in Spanien durch die Diversität kollektiver Bezüge (u.a. politisch durch die Figur der „dos Españas“ sowie durch regionale Gemeinschaften) und weisen daher auch eine Pluralität an Stimmen und Sprachen auf. Die Bedeutung von regionalen Erinnerungen für die eigene Identität konkretisierte Ayerbe am Beispiel von Ramon Saizarbitoria, einem der wichtigsten baskischen Romanautoren. Unter Rückgriff auf Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte wies Ayerbe auf eine Vielzahl solcher Erinnerungsorte für das baskische Kollektiv in Saizarbitorias Roman „La educación de Lili“ (2016) hin.
Insbesondere in den Vorträgen von BEATRIZ VALVERDE CONTRERAS (Lissabon) und RITA LUÍS (Lissabon) wurde deutlich, wie die verschiedenen Regionen der Halbinsel sich immer wieder politisch, sozial und kulturell beeinflusst haben. In ihrem Beitrag verglich Valverde Contreras soziale Bewegungen (insbesondere die Arbeiterbewegungen), ihre sozialen, politischen und ökonomischen Forderungen sowie ihre Protestformen in Spanien und Portugal gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Luís untersuchte in ihrem Vortrag Reisen von Spanier/innen nach der Nelkenrevolution 1974 ins benachbarte Portugal. Sie hob hervor, dass es einen Strom von „politischen Tourist/innen“ gegeben habe, die ihre dort gemachten Erfahrungen von kulturellen und politischen Freiheiten zurück ins spätfranquistische Spanien trugen. Aus der Perspektive historischer Medienanalyse stellte PABLO HERNÁNDEZ RAMOS (Madrid) den „Iberismo“ in der historischen Printpresse des 19. Jahrhunderts dar. Am Beispiel von vier Tageszeitungen machte er deutlich, dass es nicht nur einen „Iberismo“, sondern eine Vielzahl politischer, kultureller, ökonomischer und diplomatischer Iberismen gegeben habe, weshalb diese jeweils im Plural gedacht werden müssten.
Die Abschlussdiskussion kreiste um die Thematik der Institutionalisierung der Iberischen Studien im internationalen Kontext. Darüber hinaus wurden neue Forschungsprojekte präsentiert. Ein Novum ist hierbei die von ESTHER GIMENO UGALDE und SANTIAGO PÉREZ ISASI initiierte „Iberian Studies Reference Site (IStReS)”.1 Dabei handelt es sich um eine Online-Datenbank zu wichtigen Forscher/innen im Kontext der Iberischen Studien und zu einschlägigen Untersuchungen ab der Jahrtausendwende. Im Anschluss präsentierte TERESA PINHEIRO den in Planung befindlichen Masterstudiengang Iberische Studien, der aus einer Kooperation mit Carsten Sinner (Universität Leipzig) entstehen soll. Die Verknüpfung des Instituts für Angewandte Linguistik und Translatologie (Universität Leipzig) und der Professur Kultureller und Sozialer Wandel (TU Chemnitz) schaffe aufgrund der gegenseitigen Ergänzungen einen ausgezeichneten Synergieeffekt. Abschließend fasste ENRIQUE RODRIGUES-MOURA (Bamberg) zentrale Aspekte der Tagung zusammen und verknüpfte diese mit einem Ausblick auf die für 2020 unter seiner Ägide an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg geplanten III Jornadas de Estudios Culturales Ibéricos.
Konferenzübersicht:
Begrüßung
Stefan Garsztecki (Dean Faculty of Humanities, TU Chemnitz)
Teresa Pinheiro (Institute for European Studies, TU Chemnitz)
SECTION I: GLOBAL PERSPECTIVES ON IBERIAN STUDIES
Esther Gimeno Ugalde (Boston College), El giro iberista: los Estudios Ibéricos en los Estados Unidos
Helena Buffery (University College Cork), Contemporary Iberian Studies and the World Republic of Letters
SECTION II: PORTUGAL AND SPAIN – STILL BACK TO BACK?
José Miguel Sardica (Universidade Católica Portuguesa), Estudos Ibéricos e História Ibérica: passado, presente e futuro
Santiago Pérez Isasi (Universidade de Lisboa), Mapa Digital de Relaciones Literarias Ibéricas (1870-1930): consideraciones teóricas y metodológicas
SECTION III: THE LOCAL AND THE GLOBAL
Nicola Gilmour (Victoria University of Wellington), The Spanish Historical Novel as Cultural Memory Practice
Manuel López Forjas (Universidad Autónoma de Madrid), Henry George como paralelo histórico del colectivismo agrario español: la lectura de Joaquín Costa y el contexto anglosajón
SECTION IV: DETERRITORIALIZING IBERIAN STUDIES: ARAB AND JEWISH STUDIES
Mohanad Amer Kadhim (Universidad de Oviedo), Creencias sobre el Día del Juicio entre los moriscos
Silvina Schammah Gesser (Hebrew University Jerusalem), Teresa Pinheiro (Technische Universität Chemnitz), Interpellating Sephardic Identities: Multiple Agendas in the Twenty-First Century
SECTION V: LITERARY LANDSCAPES
Enric Bou (Università Ca’ Forscari Venezia), Experiències de la proximitat: (in)utilitat, lleugeresa, (del ser i de les coses)
Juan C. Busto Cortina (Universidad de Oviedo), Visiones desde el centro hacia la periferia en el XIX: el caso de la literatura asturiana
SECTION VI: LITERATURE AND MEMORY
Diego Rivadulla Costa (Universidade da Coruña), (Des)memoria e oralidade: consideracións sobre a nova novela galega da memoria
Mikel Ayerbe Sudupe (Euskal Herriko Unibertsitatea), Memoria e identidad nacional en “La educación de Lili”, de Ramon Saizarbitoria
Ana Gandara (Euskal Herriko Unibertsitatea), Técnicas para el relato memorístico en la novela “Manu Militari”: transtextualidad y heterolingüismo
SECTION VII: CULTURAL HISTORY
Beatriz Valverde Contreras (Universidade Nova de Lisboa), ¿Un reflejo, una consecuencia o un paralelismo? Las contestaciones sociales en Portugal y España entre 1900 y 1910
Rita Luís (Universidade Nova de Lisboa), The Spanish Experience of The Portuguese Revolutionary Process: “Political Tourism” or an Act of Exile?
Pablo Hernández Ramos (Universidad Complutense de Madrid), What did the Papers say? Iberian Exchanges from a Historical Press Perspective
SECTION VIII: PROJECTS AND PROSPECTS
Esther Gimeno Ugalde (Boston College), Santiago Pérez Isasi (Universidade de Lisboa), Iberian Studies Reference Site (IStReS): Una herramienta para investigadores de Estudios Ibéricos
Teresa Pinheiro (Technische Universität Chemnitz), The Joint Master Programme Iberian Studies
Enrique Rodrigues-Moura (Universität Bamberg), III Jornadas de Estudios Culturales Ibéricos
Anmerkung:
1http://istres.letras.ulisboa.pt/ (13.12.2017).