In den vergangenen Jahren entzündete sich über den historischen Vergleich eine lebhafte und lehrreiche Debatte. Ausgangspunkt dieser Debatte war der klassische historische Vergleich. Er war in Europa und in den USA seit den 1970er-Jahren häufiger, allerdings immer nur von einer schmalen Minderheit von Historiker/innen praktiziert worden. Er hatte viel Anstoß von amerikanischen historischen Soziolog/innen, darunter auch Exilant/innen aus Europa, bekommen, erhielt eine wichtige Ermutigung durch ein wieder ausgegrabenes Essay von Marc Bloch aus den 1920er-Jahren. Seit den 1990er-Jahren wird in Europa sogar häufiger verglichen als in den USA, in Deutschland vor allem in Berlin und Bielefeld, aber auch anderswo. Der historische Vergleich war ein Einstieg in eine stärker transnationale Orientierung der europäischen Geschichtswissenschaft. Er ist mehrfach bilanziert worden. Im klassischen Sinn versteht man unter dem historischen Vergleich die systematische Suche nach Unterschieden und Ähnlichkeiten, nach Divergenzen und Konvergenzen zwischen mehreren Vergleichsfällen. Zu dem Vergleich gehört die Erklärung oder die Entwicklung von Typologien solcher Unterschiede und Ähnlichkeiten, dabei auch ihre Kontextualisierung.
Nach einem Vierteljahrhundert des historischen Vergleichs, in dem Hunderte vergleichender Arbeiten entstanden, begann Mitte der 1990er-Jahre eine Debatte, in der zuerst das Konzept des „Transfers“, dann das Konzept der „entangled history“, dann das Konzept der „histoire croisée“ und daneben das Konzept der Kombination von Vergleichs- und Beziehungsgeschichte entwickelt wurde. Ich schildere zuerst die Entwicklung dieser Konzepte, komme danach auf die Herausforderungen in der heutigen Situation.
Das Konzept des „Transfers“ wurde besonders pointiert von Michel Espagne in einem Artikel 1994 in der Zeitschrift Genèses kritisiert. Er verlangt, Transferuntersuchungen in den Geschichtswissenschaften mehr Raum zu geben. Unter Transfers versteht Espagne die Wandlungen, die bei der Übertragung von Konzepten, Normen, Bildern und Repräsentationen von einer Kultur in die andere stattfinden. Solche Übertragungen können durch Migration, aber auch schon durch Begegnungen und durch Lektüre eines Textes aus einer anderen Kultur entstehen. Espagne argumentiert, dass sich jede Nation nicht nur aus eigenen Traditionen, sondern immer auch zu einem wesentlichen Teil durch solche Transfers aus anderen Nationen konstituiert. Man versteht die Geschichte einer Nation nicht, wenn man sie nur begrenzt auf die Nationalgeschichte schreibt. Espagne kritisiert den klassischen Vergleich heftig, da er in seinen Augen mehrere Schwächen besitzt, die die Transferuntersuchung nicht hat. Der klassische Vergleich ist gezwungen, die Vergleichseinheiten erst einmal zu konstruieren, um überhaupt vergleichen zu können. Er muss sich dabei ein ganzes Stück von der Wirklichkeit entfernen und lässt Transfers aus anderen Nationen oder Zivilisationen oft unberücksichtigt. Die Transferuntersuchung dagegen ist zu solchen Konstruktionen nicht gezwungen, da sie sehr viel näher an der Wirklichkeit bleibt, wenn sie den Wandel bei der Übertragung von einer Kultur in die andere verfolgt. Der klassische Vergleich konzentriert sich zudem weitgehend auf Strukturen und Institutionen und schließt die Erfahrungen in der Geschichte weitgehend aus. Erfahrungen stehen dagegen im Zentrum der Transferuntersuchung. Der klassische Vergleich behandelt darüber hinaus das zentrale Objekt der Historiker/innen, die Zeit, viel zu wenig. Er vergleicht in der Regel Gesellschaften zum gleichen Zeitpunkt. Für die Transferuntersuchung dagegen ist die Zeit essentiell, da sie immer Wandel untersucht.
In ähnliche Richtung hat Jürgen Osterhammel sehr eindrucksvoll argumentiert, aber doch mit wichtigen Unterschieden. Er interessiert sich anders als Espagne nicht primär für innereuropäische Transfers, sondern für Transfers zwischen Europa und Asien oder anderen außereuropäischen Gesellschaften. Er geht erheblich weiter in der Ausarbeitung von Konzepten der Kulturbegegnungen, die kaum jemand so weit entwickelt hat wie er. Für ihn sind Transfers zudem nicht nur kulturelle, sondern auch politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen.
In eine ähnliche Richtung wie Osterhammel – nur weitergehend – steuert ein zweites Konzept, das als "entangled history" oder "shared history" bezeichnet wird und das von der Sozialwissenschaftlerin Shalini Randeria und dem Historiker und Japanspezialisten Sebastian Conrad entwickelt wurde. Dieses Konzept richtet an den klassischen Vergleich eine ähnliche Kritik wie Espagne, geht aber in zwei Hinsichten weiter, ganz ähnlich wie Osterhammel. Transfers verbinden und verflechten in diesem Konzept nicht nur benachbarte oder der gleichen Zivilisation angehörende Länder wie Frankreich und Deutschland, sondern auch weit voneinander entfernte Länder wie Japan und Deutschland. Direkte oder indirekte Transfers finden überall statt, verbinden alle Gesellschaften der Welt. Wichtiger noch ist ein zweiter Schritt. Das Konzept der "entangled history" möchte besonders nachdrücklich herausheben, dass auch kolonisierende und kolonisierte Gesellschaften intensiv durch Transfers miteinander verbunden sind, und zwar nicht nur durch die häufig untersuchten Transfers aus den Mutterländern in die Kolonien, sondern auch umgekehrt durch die selten verfolgten Transfers aus den Kolonien in die Mutterländer. Das Konzept der "entangled history" verlangt also einen Perspektivwechsel weg von Europa.
Eine Reaktion auf diese Debatte ist das Konzept der "histoire croisée", die vom französischen Germanisten und Historiker Michael Werner und der französischen Politikwissenschaftlerin Bénédicte Zimmermann vorgetragen wurde. Drei Elemente dieses Konzepts haben in meinen Augen die Debatte weitergebracht. Dieses Konzept gründet mehr oder weniger explizit auf einer Skepsis gegenüber dem Eigenleben von transnationalen Milieus, Bewegungen, Sprachen, Werten oder Institutionen. Die Nation wird in diesem Konzept weiterhin als eine zentrale Orientierungseinheit angesehen. Als Folge davon wird in diesem Konzept entschieden verlangt, dass transnationale Untersuchungen jeder Art sich intensiv mit den oft grundlegend unterschiedlichen Perspektiven in anderen, verglichenen Gesellschaften auseinandersetzen, in diesem Sinn immer wieder die Perspektive wechseln und dadurch reflexiver werden. Darüber hinaus drängt dieses Konzept darauf, über die vorwiegend binationalen Ausrichtungen der Vergleiche und Transferuntersuchungen hinauszukommen und plurilaterale Ansätze und Untersuchungen anzugehen. Schließlich wird in diesem Konzept der scharfe Gegensatz zwischen dem nachteiligen, klassischen Vergleich einerseits und vorteilhaften Transferuntersuchungen andererseits wieder etwas zurückgenommen und argumentiert, dass die Schwächen und Stärken zwischen Vergleich und Transfer viel gleichmäßiger verteilt sind.
Damit steht die "histoire croisée" einem fünften Konzept nahe: der Kombination von Vergleich und Transferuntersuchung. Für dieses Konzept werden drei Argumente vorgebracht: Erstens wird wiederum argumentiert, dass der klassische Vergleich ebenso wie die Transferuntersuchung ihre Schwächen und Stärken besitzt. Auch Transferuntersuchungen müssen ihre Einheiten konstruieren, da sie sonst nicht bestimmen können, worin der Wandel bei der Übertragung von einer Kultur in die andere besteht. Auch Vergleiche, nicht nur Transferuntersuchungen arbeiten in der Zeitdimension, da sie nicht nur Ähnlichkeiten und Unterschiede, sondern auch Divergenzen und Konvergenzen untersuchen. Auch Vergleiche, nicht nur Transferuntersuchungen, können über Erfahrungen arbeiten. Darüber hinaus brauchen Transferuntersuchungen und Vergleiche einander und ergänzen sich. Vergleiche brauchen Transferuntersuchungen, weil Transfers meist ein wichtiger Faktor für Annäherungen oder auch für Divergenzen sind. Ohne Transferuntersuchungen übersieht man daher eine wichtige Erklärung für Divergenzen oder Konvergenzen. Umgekehrt brauchen Transferuntersuchungen den Vergleich, weil nur durch den Vergleich festgestellt werden kann, worin sich die Ausgangskultur und die Aufnahmekultur eines Transfers unterscheiden und worin daher der Wandel, also der Kern des Transfers, tatsächlich besteht. Wenn man argumentiert, dass sich die deutsche Nation in beträchtlichem Maß aus französischen Transfers konstituiert, dann muss man durch den Vergleich herausfinden, was deutsch und was französisch ist. Schließlich braucht man neben den Transferuntersuchungen weiterhin den Vergleich, da Vergleichen desto mehr zum Alltagsdenken gehört, je enger zwei Gesellschaften miteinander verflochten sind und je mehr Begegnungen zwischen zwei Gesellschaften stattfinden. Sich mit solchen Alltagsurteilen und Alltagsvorurteilen zu befassen, sie zu erklären, zu überprüfen, auf sie Einfluss zu nehmen, ist eine wesentliche Aufgabe von Sozialwissenschaftler/innen und Historiker/innen gerade in einer stark verflochtenen Welt.
An dieser Debatte sind drei Dinge bemerkenswert oder kritikwürdig.
1. Sie ist keine rein methodische Debatte, sondern ist Teil einer transnationalen Umorientierung der Geschichtswissenschaft. Diese Umorientierung fand in einem bestimmten zeithistorischen Kontext Europas statt und hatte in früheren Epochen wenig Chancen: Sie wurde sicherlich gefördert durch die massiven Globalisierungsängste in Zeiten der wachsenden Arbeitslosigkeit und des Zurückfallens der europäischen Wirtschaft hinter Japan, Südostasien, aber auch hinter die USA; durch die Entdeckung der Europäischen Union seit den 1980er-Jahren durch die europäischen Intellektuellen als ein wichtiges transnationales europäisches Machtzentrum; weiter durch den Individualisierungsprozess, durch den sich in vielen Ländern Europas die starken Loyalitäten gegenüber dem Nationalstaat lockerten, auch für Historiker/innen, und durch den oft gleichzeitig die transnationalen Werte internationaler Verständigung und Verständnisses aufgewertet wurden; schließlich auch durch die neuen Arten von transnationalen Kriegen seit den 1990er-Jahren, in denen die Hauptakteure nicht mehr allein Staaten waren und in die auch Europa hineingezogen wurde. Ohne diesen zeithistorischen Kontext bliebe die neue transnationale Orientierung der Historiker/innen unverständlich. Die Debatte, die hier kurz geschildert wurde, diskutierte verschiedene Optionen einer transnationalen Orientierung für die Sozial- und Kulturgeschichte. Der Vergleich offeriert eine andere Option als die Transfer- und Beziehungsuntersuchung. Gleichzeitig war die Kombination beider Zugänge deshalb möglich, weil es letztlich beiden Optionen um dasselbe Ziel, um eine stärkere Transnationalisierung der Geschichtswissenschaft ging. Sie waren, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sicher nicht die einzigen Optionen. Die kultur- und wirtschaftshistorisch erweiterte Geschichte der internationalen Beziehungen, die sich ebenfalls in den 1990er-Jahren entwickelte, war eine dritte wichtige, nicht immer scharf davon getrennte Option.
2. Die geschilderte Debatte lief in einem relativ engen Zirkel ab und ist über diese engen Zirkel hinaus relativ wenig bekannt geworden. Sie war beschränkt auf die Spezialisten der letzten zweieinhalb Jahrhunderte, wurde aus offensichtlichen Gründen weder von den Frühneuzeit- noch von den Mittelalterhistorikern rezipiert. Sie war zudem eine Debatte zwischen Sozialhistoriker/innen und Germanist/innen, ein an sich ungewöhnliches Paar von Disziplinen, das seit langem nicht mehr in einem engen Dialog gestanden hatte. Sie fand bei den sonst üblichen Partnern der Geschichtswissenschaft, in der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Ethnologie, der Philosophie, der Jurisprudenz kaum ein Echo. In diesen Disziplinen wurden sicher manchmal ähnliche Probleme diskutiert, etwa unter dem Thema des „Galtungschen Problems“, wonach man Einheiten nicht vergleichen kann, wenn sie in enger Beziehung zueinander stehen. Aber diese Debatte über das Galtungsche Problem war von der hier geschilderten Debatte völlig getrennt.
3. Bisher hat in dieser Debatte auch noch niemand eingehend versucht, die Wissenschaftsgeschichte des historischen Vergleichs und der historischen Transfer- und Beziehungsgeschichte zu schreiben. Sie setzte sicher nicht erst in den 1970er-Jahren ein, die man in Europa normalerweise im Auge hat. In höchst interessanten Ansätzen wurde die Geschichte des allgemeinen sozial- und kulturwissenschaftlichen Vergleichs auf seine Ursprünge in der Aufklärung oder sogar in der griechischen und römischen Zivilisation zurückgeführt, in jüngerer Zeit etwa von Peter Brockmeier, Lorraine Daston, Chris Lorenz, Lars Mjøset oder Jürgen Schriewer. Für den historischen Vergleich und die historische Transferuntersuchung steht das noch aus.
Was sind die wichtigsten Herausforderungen beim gegenwärtigen Stand der Debatte? Wie müssten sich historischer Vergleich und historische Beziehungsgeschichte weiter entwickeln?
Die erste und wichtigste Anforderung hat damit zu tun, dass diese methodische Debatte der Praxis der historischen Forschung vorauslief. Während die methodischen Arbeiten über den klassischen historischen Vergleich am Ende einer langen Praxis des Vergleichens von Historiker/innen entstanden, entwickelte sich die Diskussion über die anderen Konzepte eher umgekehrt. Weder für die "entangled history" noch für die "histoire croisée" noch für die Kombination von historischem Vergleich und historischer Beziehungsgeschichte gibt es eine große Zahl von empirischen Untersuchungen oder gar international bekannte, viel zitierte, viel übersetzte Modellstudien, mit denen sich zukünftige Untersuchungen methodisch auseinandersetzen können. Auch für die Transferuntersuchung schwimmt man nicht in einem Meer von Forschung. Wir brauchen deshalb eine Zeit der Praxis der empirischen Forschung. Sonst läuft die Debatte Gefahr, luftleer zu werden. Vor allem Modelluntersuchungen brauchen oft viele Jahre.
Eine zweite Anforderung: Die Begrifflichkeiten jenseits des historischen Vergleichs sind zu wenig aufeinander abgestimmt. Wie „Transfergeschichte“, „Verflechtungsgeschichte“, „Beziehungsgeschichte“ und Transnationalität zueinander stehen, ist noch zu wenig überlegt worden, auch wenn es Vorschläge gibt. Die wissenschaftliche Sprache ist noch zu wenig strukturiert. Sollte man „Transfergeschichte“ eher fallen lassen und den weiteren Begriff der „Verflechtung“ verwenden, da der Begriff des Transfers zu eng ist und immer nur Veränderungen von Konzepten, Erfahrungen, Bedeutungen beim Übergang von einer Kultur zur anderen meint, während Verflechtungen viel mehr einschließen? Oder ist „Transfer“ doch eher ein weiterer Begriff als „Verflechtung“, weil Transfers auch zwischen Ländern stattfinden können, die nicht eng miteinander verflochten sind und wenig direkt miteinander zu tun haben? Oder sind sowohl „Transfergeschichte“ als auch „Verflechtungsgeschichte“ zu enge Begriffe und sollte man besser den neutralen Ausdruck „Beziehungsgeschichte“ verwenden, der sich weder auf Veränderungen bei transnationalen Übertragungen beschränkt, noch voraussetzt, dass alle Gesellschaften der Welt miteinander verflochten sind und die Außenbeziehungen für die jeweilige Gesellschaft essentiell sind? Oder ist auch der Begriff der „Beziehungsgeschichte“ für die transnationale Geschichte besonders des 20. Jahrhunderts zu eng, weil er wichtige transnationale Entwicklungen wie etwa die internationalen Institutionen, Weltbank, die UNO, die Europäische Union, die katholische Kirche oder transnationale soziale Milieus, transnationale soziale Bewegungen, transnationale Werte, Sprachen und Diskurse nicht fassen kann, da man sie nicht in die Beziehungen zwischen einzelnen Ländern oder Gesellschaften auflösen kann, sondern sie ihre eigene gemeinsame innere Logik besitzen? Denn wäre es wirklich möglich und sinnvoll, die Entscheidungen der Europäischen Kommission in französische, britische, deutsche und spanische Beiträge und Beziehungen aufzulösen oder die Entscheidungen der katholischen Kirche aus Beziehungen der jeweiligen nationalen Tochterkirchen zu erklären? Hat deshalb nicht auch der Begriff der Beziehungsgeschichte hier klare Grenzen? Wäre es am besten, sich für eine Art von Hierarchie zwischen Transnationalität, Beziehungsgeschichte, Verflechtungsgeschichte und Transfers zu entscheiden?
Die dritte Anforderung: Diese Debatte sollte aus ihrer Exklusivität ausbrechen. Sie sollte stärker den benachbarten Disziplinen vermittelt werden und wird sich im Dialog mit ihnen auch ändern. Vor allem sollte die Debatte aus der französisch-deutschen Exklusivität ausbrechen und sich stärker auch dem angelsächsischen, dem spanischsprachigen, dem ostasiatischen Raum öffnen. Dazu wären Übersetzungen der Schlüsseltexte ins Englische, Spanische, Chinesische oder Japanische nötig. Die Debatte, die bisher eng an den europäischen Kontext gebunden war, wird auch durch den Dialog mit diesen außereuropäischen Historiker/innen neue Impulse bekommen.
Lektürehinweise:
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