Transnationale Forschungsansätze in der Osteuropäischen Geschichte

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Eva-Maria Stolberg, Seminar für Osteuropäische Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Forschungsgeschichtliche Einordnung
Die Osteuropäische Geschichte war im Wesentlichen ein Kind des Kalten Krieges. Der „Eiserne Vorhang“, der westlichen Forschern die Archive versperrte, verhinderte Untersuchungen über Interkulturalität und Hybridisierung, im Mittelpunkt des Interesses stand der kontrastive Systemvergleich. In der Forschung traten daher West- und Osteuropa als scharf abgegrenzte Einheiten gegenüber. Der Wandel in Osteuropa seit 1989 hat auch vor der Osteuropäischen Geschichte nicht Halt gemacht; die Disziplin macht einen schwierigen Transformationsprozess durch. Einsparungen stellen die Existenz des Faches in Frage. In der Debatte der deutschen Geschichtswissenschaft gilt die östliche Tochter immer noch als Nebenschauplatz – dies zu Unrecht. Will die Osteuropäische Geschichte überleben, so muss sie ihre Stärken demonstrieren wie z.B. auf dem Gebiet der transnationalen Migration. Die Geschichte Osteuropas ist vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert eine Verflechtungsgeschichte – Verflechtungen nach Westen wie nach Osten. Ein Blick auf neuere Forschungen, darunter Dissertations- und Habilitationsprojekte, zeigt, dass das Fach „Osteuropäische Geschichte“ seine jahrzehntelange Selbstisolation aufgibt. Allerdings ist auch die „Allgemeine Geschichte“ aufgerufen, sich methodisch nach „Osten“ zu öffnen. Wie in der „Allgemeinen Geschichte“ vollzieht sich auch im Fach „Osteuropäische Geschichte“ ein Paradigmenwechsel von der politischen und sozialen Geschichte zur Kulturgeschichte – im Übrigen ein Trend, der im Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Krieges in Europa zu sehen ist. Es steht nicht mehr der politisch-soziale Systemgegensatz, sondern der historisch-kulturelle Diffusionismus im Zentrum des Forschungsinteresses. Das unitarische Geschichtsbild von Nationalstaaten und von Staatenblöcken wurde durch die facettenreichere Geschichte alltagsgeschichtlicher Lebenswelten verdrängt. Hier gilt jedoch für die Osteuropäische Geschichte, sich stärker in die Diskussion der allgemeinen Geschichte einzuschalten. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, welche Auswirkungen das Zusammenleben in gemischt-ethnischen Grenzgebieten auf den alltagsgeschichtlichen Wandel hatte. Bezogen auf transnationale Forschungsansätze im Fach „Osteuropäische Geschichte“ geht es nicht um eine Neuauflage diplomatischer Geschichte, sondern vielmehr um anthropologische Fragestellungen, etwa nach dem sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben der Menschen in den Regionen Osteuropas. Das Potenzial der Kulturgeschichte beschränkt sich eben nicht auf den Westen Europas. Hier ergeben sich neue Forschungshorizonte, die für drei geografische Bereiche im Folgenden analysiert werden: 1) Ostmitteleuropa, 2) Südosteuropa, 3) Russland

1) Ostmitteleuropa
Nach Joachim Bahlcke und Arno Strohmeyer prägte die europäische Konfessionsbildung im 16. und 17. Jahrhundert die kulturell-politische Identitätsbildung der ostmitteleuropäischen Länder. Vor allem in Böhmen und Ungarn stärkte die Konfessionalisierung durch die vom Herrscher garantierte Religionsfreiheit gegenüber abweichenden Konfessionen den Adel in politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht. Mit den Land- und Reichstagen als ständische Vertretungen erwuchs dem Monarchen eine Opposition. Auch in Polen, dem klassischen Land in Ostmitteleuropa mit einer „Gegenreformation“ konnten religiöse Dissidenten sich einen erheblichen Verhandlungsspielraum sichern. Dies hatte angesichts der schwedischen Invasion auch einen außenpolitischen Hintergrund. Der Große Nordische Krieg legte die Grundlage für die politische Instrumentalisierung der Konfessionsfrage in Polen-Litauen durch ausländische Mächte, die sich in die Zeit der polnischen Teilungen fortsetzen sollte. Gleichzeitig zeigt das polnische Beispiel, dass die Konfessionalisierung ethnische Grenzen nivellierte, so kam es zu einer machtpolitischen Kooperation zwischen den preußischen und den protestantischen Ständen Polen-Litauens.1 Von der nationalstaatlichen Perspektive abgerückt, thematisieren neuere Forschungen, wie z.B. vom renommierten Herder-Institut initiiert, die ostmitteleuropäische „Kulturlandschaft“ mit ihren ethnischen, konfessionellen und kulturellen Abgrenzungen bzw. Verwischungen. Seit der Neuzeit lebten in den ostmitteleuropäischen Metropolen unterschiedliche Ethnien und Konfessionen/Religionen zusammen, darunter Deutsche, Niederländer, Engländer, Franzosen, Italiener, Juden, Griechen, Armenier und Türken.2 Prag, Krakau und Buda waren eben nicht nur (in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht) Residenzstädte, sondern fungierten darüber hinaus als kulturelle „melting pots“, die quasi durch Migrationen von den europäischen Peripherien ihre Zentralität speisten. Diese Residenzstädte stellten also eine Art Brennspiegel für die mannigfaltigen Wechselwirkungen zwischen Zentrum und Peripherien dar.

2) Südosteuropa
Gilt Ostmitteleuropa im allgemeinen Geschichtsverständnis noch als Teil der „europäischen Zivilisation“, so trifft dies auf Südosteuropa nicht zu. Seit der Neuzeit hat der Begriff „Balkan“ im Zusammenhang mit dem Einbruch der Osmanen eine negative Konnotation.3 Der Balkan stellt danach (ähnlich wie Russland) eine Peripherie des europäischen Kulturkreises zu Asien dar. Die Geschichte der habsburgischen Militärgrenze ist in diesem Kontext zu sehen. Wie der Südosteuropahistoriker Edgar Hösch feststellt, wurde das Bild von der antemurale christianitatis, welche das Abendland vor den „asiatischen Horden“ verteidige, nicht nur von den Habsburgern kultiviert, es prägte entscheidend – bis heute – das Geschichtsbild der Ungarn, Rumänen, Slowenen und Kroaten.4 Die Entstehung der südosteuropäischen Nationalstaaten nach dem Zerfall des Osmanischen und Habsburger Reiches und die Internationalisierung der Nationalitätenkonflikte durch das europäische Vertragssystem von Versailles zeigt die Grenzen des „Nationalstaates“, aber auch von Staatsverbünden auf, weist stattdessen auf die Geschichtsmächtigkeit von Regionen hin, denn durch den Eingriff der Nationalstaaten, bzw. supranationaler Organisationen wie dem Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg, wurden Siedlungsgemeinschaften unterschiedlicher Ethnien und Religionen/Konfessionen, die in kleinräumigen, arbeitsteiligen Nachbarschaften koexistierten, getrennt. Südosteuropa bietet sich ähnlich wie Russland für den transnationalen Vergleich an, denn der Balkan war historisch in das mannigfaltige Beziehungsgeflecht der ostmitteleuropäischen (Habsburg), mediterranen und vorderasiatischen (Osmanisches Reich) Kulturregionen eingebettet. Wie Karl Kaser überzeugend darlegt, stellte Südosteuropa im Zeitraum von 500 bis 1500 einen ethnischen „melting pot“ dar, der sich aus Zuwanderungen speiste. Kaser unterscheidet drei Ursprungsregionen: 1) Asien (türkisch-iranisch), 2) der romanische Raum, 3) deutsche Ostkolonisation.5 Anders als in Ostmitteleuropa, wo deutsche und slavische Agrarkulturen aufeinander trafen, findet sich auf dem Balkan in der Hirtenkultur eine Symbiose südslavischer Sesshaftigkeit und asiatischen Nomadentums. Die spätere Herrschaft der Osmanen bewirkte die Emigration der südosteuropäischen Eliten (Serben, Valachen, Juden und Griechen) nach Mitteleuropa, wo sie im 19. Jahrhundert mit der nationalen Idee in Berührung kamen und diese nach dem Ende der Osmanen-Herrschaft in den neu gegründeten Nationalstaaten des Balkans politisch umsetzten. Gerade am Beispiel Südosteuropas zeigt sich die Bedeutung von Migrationsprozessen für die Nationsbildung. Bei der Übernahme des westeuropäischen Modells des Nationalstaates sollte nach der Vorstellung der neuen politischen Eliten Südosteuropas an die Stelle der personifizierten Sozialbeziehungen (Patrimonat) ein nach rationalen Prinzipien aufgebautes Ordnungs- und Herrschaftssystem treten. Nicht allein die lange Fremdherrschaft der Habsburger und Osmanen, sondern gerade auch der Modernisierungskampf der nationalen Eliten mit ihrer aus Westeuropa entlehnten zentralen Herrschaftsbürokratie führte zu Konflikten mit den lokalen Stammesgesellschaften.6

3) Russland
Für die Erforschung des europäischen Kolonialismus, seiner Expansion in fremde Kulturräume und der gegenseitigen Wahrnehmung von „Kolonialherren“ und „Kolonisierten“ bietet die Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion ein hervorragendes Themenfeld. Das Ideal des „europäischen“ Nationalstaates, das für die westeuropäischen Kolonialmächte aufgrund der räumlichen Trennung zu den Kolonien galt, war auf das eurasische Vielvölkerreich nicht übertragbar. Hier gab es eine Vielfalt von europäischen und asiatischen Ethnien, die in Westeuropa nicht anzutreffen war. Das Wirken fünf großer Weltreligionen (Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und Schamanismus) schuf ein breites Spektrum von Lebensformen und Wirtschaftsformen, das – wie meine eigenen Forschungen für Sibirien belegen 7 – durch eine Hybridisierung der Alltagswelten geprägt war. Den Europäisierungs- und (damit) Modernisierungsversuchen zarischer und sowjetischer Bürokratie, die langfristig eine Homogenität anvisierte, stand angesichts der fehlenden räumlichen Trennung eine komplexe, heterogene eurasische Alltagswelt gegenüber. Dies zeigt gerade das Beispiel der russischen Volksmedizin und des Volksglaubens. Während russische Beamte und Intellektuelle in ihrem Zugehörigkeitsgefühl zu Europa nicht frei von kolonialistischer Überheblichkeit waren, erwiesen sich russische Siedler in Sibirien empfänglich für die Heilkunde der indigenen Bevölkerung und die schamanistische Religion. Anders als die westeuropäischen Siedler in den Überseekolonien, Träger einer säkularisierten Religion, hatte der Glauben der russisch-orthodoxen Bauern seine Bindung an die Natur bis ins 20. Jahrhundert nicht verloren. Die heilenden und magischen Kräfte der Natur nahmen einen zentralen Platz in der Alltagswelt der Kolonisten ein. Auch wenn die Homogenisierungsversuche des Zarenreiches unbestritten vorhanden waren, so fehlte ihnen doch ein wissenschaftliches Theoriegebäude. Anders in der Sowjetunion: die sich auf Karl Marx berufende globale Gesellschafts- und Geschichtstheorie ließ angesichts der Lobpreisung „fortschrittlicher“ Industriegesellschaften Westeuropas jede Kultur auf nomadischer, aber auch agrarischer Basis (russische Kolonisten) als „primitiv“ erscheinen. Stalins brutale Kollektivierungs- und Industrialisierungspolitik, die Inkarnation des materialistisch-mechanistischen Zivilisationsmodells, traf auf den Widerstand asiatischer Nomaden, Mullas, Lamas ebenso wie auf den der russischen Bauern und Popen. Es war die Konfrontation zwischen dem Modernitätsanspruch des Moskauer Herrschaftszentrums und dem Traditionsanspruch der kolonialen Peripherien. Kolonialismus und Imperialismus lassen sich nicht voneinander trennen. Am Beispiel Russlands zeigt sich die Doppelzüngigkeit der europäischen Kolonialherren, die gewöhnlich diesen Charakterzug Osmanen, Persern, Indern, Chinesen und Japanern zuschrieben. War der chauvinistische Russozentrismus in Gestalt der mission civilisatrice des Zarenreiches mit seinem Ausgreifen nach Persien und China schon an keine Grenzen gebunden, so war die unter dem Banner des proletarischen Internationalismus stehende mission civilisatrice der Sowjetunion nicht minder unglaubwürdig. Kominternagenten und sowjetischen Beratern ging es weniger um eine koloniale Befreiung, sondern um die Wahrung politischer und wirtschaftlicher Interessen der Sowjetunion. Jüngstes Archivmaterial bezeugt das Unverständnis, ja sogar die kulturelle Überheblichkeit gegenüber „traditionellen“ außereuropäischen Gesellschaften. Die Parole vom „proletarischen Internationalismus“ erwies sich als Farce. Dies erkannten Mao, Nehru und Nasser, die mit Sino-Kommunismus, Neo-Hinduismus und pan-arabischer Idee einen eigenen, nichtsowjetischen Weg der Dekolonialisierung beschritten.

Fazit
Der gegenwärtige Stellenabbau in angeblich „exotischen“ Fächern wie der „Osteuropäischen Geschichte“ (aber auch der Orientalistik, Sinologie); oft zugunsten der „Allgemeinen Geschichte“; ist ungerechtfertigt. Der vorliegende Beitrag hat aufgezeigt, dass gerade in Deutschland/Österreich (im Unterschied zu den USA und Westeuropa) die „Osteuropäische Geschichte“ ein Bindeglied zwischen der deutschen und slavischen Geschichte darstellt, denn mannigfaltig waren die kulturellen Beziehungen zwischen dem europäischen Osten und Deutschland/Österreich. Mehr noch, für eine gesamteuropäische Geschichte ergibt sich gerade über die Geschichte Russlands und Südosteuropas eine Anbindung an den asiatischen Raum vom Bosporus bis an den Pazifik. Von daher muss das Fach „Osteuropäische Geschichte“ mit seiner Forschung und Lehre stärker als bisher in die Diskussion der „Allgemeinen Geschichte“ einbezogen werden, das betrifft vor allem Themen wie Migration und Kolonialismus. Raumbegriffe wie „Osteuropa“ und „Orient“ sind Konstrukte der westeuropäischen Aufklärung, die ihre Mission darin sah, die „westliche Zivilisation“ im weiten Osten zu verbreiten. Danach erschien Westeuropa als Akteur, der Osten als Rezipient. Diese Kulturträgertheorie hat sich in der „Allgemeinen Geschichte“ bis heute erhalten. Das Potential der „Osteuropäischen Geschichte“ liegt dagegen im Aufzeigen inhaltlicher Leitmotive für eine „transnationale Geschichte“ wie gesellschaftliche, religiöse und ethnische Pluralität und damit einhergehend die integrative Funktion des osteuropäischen Raumes für die kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Europa und Asien (Südosteuropa, Russland). Ohne eine dauerhafte Einbeziehung der Osteuropahistoriker/innen mit ihrer im Unterschied zu „Allgemeinhistoriker/innen“ breiter angelegten Sprach- und Fachkompetenz wird eine europäische Geschichte der Regionen Stückwerk bleiben. Allerdings gibt es auch Defizite im Fach „Osteuropäische Geschichte“, hier bezogen auf die Russlandforschung. Eine fundierte, anspruchsvolle Erforschung des russischen Kolonialismus/Imperialismus in Asien wird künftig ohne die Kenntnis asiatischer Sprachen und ohne die Aneignung „orientalistischer“ Methodik nicht möglich sein. Ansonsten wird die Geschichte des Islams oder des Buddhismus in Russland/Sowjetunion ohne Einordnung in den orientalisch-muslimischen bzw. fernöstlich-buddhistischen Kontext für die Russlandhistoriker/innen ein fremder Osten bleiben.

Anmerkungen:
1 Bahlcke, Joachim; Strohmeyer, Arno, Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur, Stuttgart 1999.
2 Lemberg, Hans, Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, Marburg 2000, hier S. 15; Belzyt, Leszek, Demographische Entwicklung und ethnische Pluralität in den größten Städten Ostmitteleuropas 1400-1600, in: Engel, Evamaria (Hg.), Metropolen im Wandel. Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Berlin 1995, S. 67.
3 Todorova, Maria, Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999.
4 Hösch, Edgar, Die „Balkanisierung“ – Vor- und Schreckbilder der Entstehung neuer Nationalstaaten, in: Ebd., S. 83.
5 Kaser, Karl, Zuwanderung, Ansiedlung und Integration in früher Zeit. Drei europäische Zivilisationen (500-1500), in: Ders. u.a (Hgg.), Historische Anthropologie im südöstlichen Europa. Eine Einführung, Köln 2003, S. 71ff.
6 Katsiardi-Hering, Olga, Migrationen, in: Ebd., S. 97; Pichler, Robert, Gewohnheitsrecht, in: Ebd., S. 303.
7 Stolberg, Eva-Maria, The Siberian Frontier between „White Mission“ and „Yellow Peril“, 1890s-1920s, in: Nationalities Papers 32,1 (2004), S. 165-182; Dies. (Hg.), The Siberian Saga. A History of Russia’s Wild East, Frankfurt am Main 2005; Dies. “Fremde Körperwelten”. Russische Anthropologie und Medizin im kolonialen Diskurs des ausgehenden Zarenreiches (im Druck, erscheint in „Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte“).

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09.03.2005
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