Kolonialismus im Kasten? Eine Gruppe von Historikerinnen organisiert kritische Rundgänge zur deutschen Kolonialgeschichte in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums

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Debora Gerstenberger, Westfälische Wilhelms Universität Münster

verfasst von:
Debora Gerstenberger, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Joël Glasman, Institut für Asien und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die deutsche Geschichte leidet unter partieller Amnesie. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf, wenn man sich in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) auf die Suche nach der deutschen kolonialen Vergangenheit begibt. Ausgehend von der Beobachtung, dass in der deutschen Erinnerungspolitik nur wenige kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus stattfinden, und dass sich dies auch im repräsentativsten, größten historischen Museum Deutschlands widerspiegelt, hat sich eine Gruppe von fünf Historikerinnen (Manuela Bauche, Leipzig; Dörte Lerp, Berlin/Frankfurt/O; Susann Lewerenz, Hamburg/Berlin; Marie Muschalek, Ithaca/Berlin; Kristin Weber, Leipzig/Berlin) zur Aufgabe gemacht, bestehende Verkürzungen der Kolonialgeschichte zu kritisieren, Unsichtbares sichtbar zu machen und Nichtgesagtes zu sagen. Den Wissenschaftlerinnen ging es unter anderem um folgende Fragen: Was hat Kolonialismus mit deutscher Geschichte zu tun? Welche Auswirkungen hatte und hat er noch heute auf die deutsche Gesellschaft?

Unter dem Titel „Kolonialismus im Kasten? Kritische Rundgänge durch die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums“ hat die Gruppe seit November 2009 zahlreichen interessierten Besuchern vergessene, verdrängte oder auf verzerrte Art und Weise dargestellte Ereignisse und Prozesse der deutschen kolonialen Vergangenheit näher gebracht. Die Rundgänge fanden kostenlos (nur der reguläre Eintritt für das Museum musste gezahlt werden) und unabhängig vom DHM statt. Bei bisher insgesamt neun Veranstaltungen mit wechselnden thematischen Schwerpunkten gaben jeweils zwei ihrer Mitglieder Hinweise auf Auslassungen und Lücken in der Ausstellung, hinterfragten Objekte und ergänzten auf der Grundlage ihrer eigenen Forschungen (alle fünf arbeiten zur deutschen Kolonialgeschichte bzw. ihren Nachwirkungen) die im DHM dargebotenen Erzählungen.

Im Zentrum der kritischen Führungen, die jeweils anderthalb bis zwei Stunden dauerten, stand jener Teil der Dauerausstellung, in dem es um die Geschichte des Deutschen Reichs von 1871 bis 1914 geht. Reichskanzler Bismarck wird zu Beginn dieser Sektion mit zahlreichen Bildern, Objekten und Texten als wichtiger politischer Akteur inszeniert, mithin als Protagonist der „inneren Reichsgründung“. Auch sein berühmter Spruch „Das Reich ist saturiert“ fehlt natürlich nicht. Keinen Hinweis jedoch gibt es darauf, so kritisieren die Historikerinnen, dass das Deutsche Reich unter Bismarck zu einem Kolonialreich wurde, und dieses Kolonialreich war mit insgesamt rund 12 Millionen Bewohnern nicht etwa klein und unbedeutend, sondern, bezogen auf die Bevölkerung, das viertgrößte europäische Kolonialreich nach dem britischen, französischen und niederländischen. Doch jene Prozesse der „äußeren Reichsgründung“, die die Gruppe der Kritikerinnen anschaulich anhand vieler Beispiele aus der Verwaltungs- und Militärgeschichte in einen engen Zusammenhang mit der „inneren“ zu bringen weiß, werden gänzlich ausgespart. Wie kommt es, dass die außenpolitischen, kolonialen Ambitionen der deutschen Politik des Kaiserreichs weitestgehend verschwiegen werden? Haben die Auslassungen System? Die Tatsache, dass es zu der von Bismarck anberaumten Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 in der Dauerausstellung keinen Text und kein Objekt gibt, ist in jedem Fall bemerkenswert, genauer: dieses Schweigen spricht Bände.

Die im DHM unter anderem durch das „Kaiserpanorama“ dargestellte Alltagskultur des Reiches (hier sind Bilder der Pariser Weltausstellung zu sehen) liefert der Gruppe einen weiteren Anlass für die kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. Denn die überseeischen Besitzungen und deren von deutscher Seite exotisierte Bewohner waren im Alltag der Deutschen durchaus präsent. Mehr noch: Der Kolonialismus durchdrang die Alltagskultur des Kaiserreiches, wie sich anhand von Postkarten, Fotos von Gewerbeausstellungen und „Völkerschauen“, die auch in Berlin (zum Beispiel im Treptower Park) stattfanden, leicht belegen lässt. Doch auch an dieser Stelle haben die Ausstellungsorganisatoren versäumt, den Blick auf fremde Welten mit einer politisch, kulturell und wirtschaftlich bedeutenden kolonialen Einstellung der deutschen Politik in Beziehung zu setzen.

Das Ölgemälde „Preußisches Liebesglück“, auf dem der Maler Emil Doerstling 1890 den (allzu) schwarzen preußischen Militärmusiker Gustav Sabac el Cher in inniger Umarmung mit einer (allzu) weißen Frau verewigte (das Bild lebt ganz offensichtlich von den übertriebenen phänotypischen Gegensätzen), hängt ohne weitere Erläuterungen in unmittelbarer Nähe des „Kaiserpanoramas“. Über die „Mischehenverbote“, die zwischen 1905 und 1912 in deutschen Schutzgebieten verabschiedet (und in der deutschen Presse wie im Reichstag eifrig debattiert) wurden, fehlt in der Dauerausstellung indes jede Information.

Besonders plastisch werden die Ausführungen der Historikerinnen bei konkreten Ausstellungsobjekten, die zwar Details über die koloniale Vergangenheit preisgeben, welche jedoch einem ungeschulten Auge aufgrund fehlender Erläuterungen zwangsweise entgehen müssen: In der Sektion „Parlamentarismus im Kaiserreich“ findet sich beispielsweise ein großes Gemälde von Ernst Henseler mit dem Titel „Fürst Otto von Bismarck in der Reichstagssitzung vom 6. Februar 1888“. Der auf dem Bild am meisten herausgestellte Herr, der sich zu Bismarcks Augenhöhe aufrichtet, ist, wie die Beschriftung sagt, der Übersee-Kaufmann und Reeder Adolf Woermann. Als Elfenbein- und Palmölhändler sowie Minenbesitzer zählte er zu den wirtschaftlichen Profiteuren des deutschen Kolonialismus, und damit zu den aktivsten Koloniallobbyisten. Dass Woermann das Monopol über die Schifffahrten in die deutschen Schutzgebiete besaß, bleibt dem Museumsbesucher vorenthalten. Auch ein anderes politisches Gremium, dem Woermann angehörte, bleibt unerwähnt: Im sogenannten Kolonialrat saßen mit ihm andere Vertreter aus der Wirtschaft und standen der Reichregierung in Fragen der Kolonialpolitik beratend zur Seite. Die immense Bedeutung des Rates brachte ihm bei Zeitgenossen die Bezeichnung „Nebenparlament“ ein. Die Verquickung zwischen außen- und kolonialpolitischen Zusammenhängen mit innenpolitischen Prozessen wird somit ausgeblendet.

Auch die Beschriftungen der ausgestellten Skizzen zur Sitzverteilung im Parlament lassen eine entscheidende Information vermissen, und zwar, dass ein großer Teil der Bevölkerung in den offiziell zum Deutschen Reich gehörenden Gebieten hier fehlt: die Bewohner der Kolonien, die zwar „Schutzbefohlene“, nicht aber „Reichsangehörige“ waren. Dass die Kolonisierten das Parlament dennoch wahrnahmen, indem sie zum Beispiel Protestschreiben an selbiges sandten, wird nicht erwähnt: Die zahlreichen Petitionen eines Rudolph Manga Bell (1873–1914) gegen die Segregationspläne der deutschen Kolonialbeamten in Duala fanden durchaus Unterstützung der Sozialisten, und einige Zeitungen wie der sozialdemokratische „Vorwärts“ berichtet über die Proteste. Jedoch blieben seine Petitionen vom Reichstag unberücksichtigt. Manga Bell wurde 1914 in Duala hingerichtet.

Auch die Darstellung der wissenschaftlichen Fortschritte im 19. Jahrhundert ist irreführend. So wird Robert Koch, in der Ausstellung als Repräsentant für den deutschen Beitrag zur Medizingeschichte zelebriert, während des „kritischen Rundgangs“ als Chiffre der kolonialen Vergangenheit enttarnt. Robert Koch war nicht der einsame Laborforscher, als der er im Museum dargestellt wird. Der Direktor des Instituts für Infektionskrankheit war zwar in Berlin tätig, reiste jedoch häufig in die Kolonien. In Deutsch-Ostafrika und Uganda betrieb er Forschungen zur Trypanosomiasis (Schlafkrankheit), von denen sich Mediziner wichtige Erkenntnisse zur Bekämpfung der verwandten und in Deutschland grassierenden Syphilis versprachen. Für die Sammlung von Tsetsefliegen benötigte er während seiner Forschungstätigkeiten indes die Unterstützung afrikanischer Helfer, und für die Tests von therapeutischen Mitteln war er (ebenso wie beispielsweise die Farbenfabrik Bayer) auf die im damals als „Konzentrationslager“ bezeichneten Schlafkrankenlager internierten Kranken unbedingt angewiesen.

Den Höhe- und gleichzeitig Endpunkt des kritischen Rundgangs stellt eine Vitrine dar, den die fünf Historikerinnen „Kolonialkasten“ getauft haben. Hier, am einzigen Ort, an dem der Kolonialismus explizit thematisiert wird, stehen disparate Objekte in geradezu grotesker Reihung nebeneinander. Präsentiert werden etwa die Büste eines exotisierten Afrikaners mit auffälligem Ohrenschmuck („Büste eines Afrikaners“) neben der Uniform eines weißen Schutztruppenangehörigen, die wiederum neben einem Gemälde eines Deutschen vom schneebedeckten Kilimandscharo platziert ist. Gut sichtbar im Vordergrund befindet sich das Album eines deutschen Soldaten, in das Fotos von erhängten Afrikanern eingeklebt sind. Quellenbegriffe wie „Strafexpedition“ oder „Schwerverbrecher“ werden im Kolonialkasten nicht weiter erläutert und hinterlassen somit den bereits in der Kolonialzeit vermittelten Eindruck, dass die auf den Fotos Erhängten ihr Schicksal – nämlich als „Strafe“ – verdient hätten.

Dass ein Museum den Ansprüchen der aktuellsten historischen Forschung nicht immer gerecht werden kann, ist den fünf Autorinnen der „kritischen Rundgänge“ ebenso bewusst wie den Rezensenten. Jedoch provoziert die Darstellung des Kolonialismus in der Dauerausstellung des DHM großes Unverständnis, wenn man sich den Kontext der Eröffnung 2006 ins Gedächtnis ruft: Im selben Jahr erschien Sebastian Conrads Habilitationsschrift „Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich“1, in der die Rückwirkungen kolonialer Herrschaft auf die Gesellschaft des Kaiserreichs hervorgehoben werden. Musste nicht spätestens diese viel diskutierte Monographie eine Darstellung des Kaiserreichs, die die Kolonien vernachlässigt, obsolet machen? Möglich, dass die Ausstellungsgestalter von den Diskussionen nichts mitbekommen haben oder sie zu spät rezipierten. Dass die in Medien und Forschung 2004/05 reichlich thematisierten Veranstaltungen zum Gedenken an den Herero- und Nama-Aufstand 1904 sowie an den Maji-Maji-Krieg 1905 den Ausstellern entgangen sind, kann hingegen kaum geglaubt werden. Das DHM organisierte damals im eigenen Haus (noch vor der Eröffnung der Dauerausstellung) eine Ausstellung zur „Geteilten Geschichte“ Deutschlands und Namibias,2 die den Kolonialismus präsentierte. Dies reichte jedoch offenbar nicht, auch die Organisatoren der Dauerausstellung davon zu überzeugen, dass Kolonialgeschichte nicht abgesondert, sondern vielmehr als Bestandteil der nationalen Geschichte behandelt werden muss. Auch hier sollte „Geteilte“ Geschichte „gemeinsame“, nicht „getrennte“ Geschichte bedeuten.

Damit das Deutsche Historische Museum als zentraler Ort der deutschen Erinnerungspolitik die noch immer weitestgehend ausgeblendete koloniale Vergangenheit präsentiert und integriert, muss offenbar noch einiges geschehen. Die ebenso kritischen wie sachkundigen Rundgänge der fünf Historikerinnen sowie der Umstand, dass sie stark nachgefragt sind (bisweilen nahmen mehr als 60 Besucher an einer Veranstaltung teil), sollten in jedem Fall als wichtiges Zeichen den Weg in diese Richtung weisen – und von den Verantwortlichen auch als ein solches interpretiert und ernst genommen werden.

Die Idee der Historikerinnen sowie deren kreative Umsetzung werfen methodische Fragen auf, die über den spezifischen Gegenstand hinausweisen. Auf der offiziellen Internetseite de DHM liest man den Hinweis, dass „es dem Besucher selbst überlassen [wird], anhand der Darstellungen zu eigenen Antworten und Interpretationen der Zusammenhänge zu gelangen.“ 3. Mit anderen Worten: Die Objekte sollen für sich sprechen. Die Fragen, die der kritische Rundgang aufwirft, sind: Können Objekte sprechen und wenn ja, was sagen sie? Dürfen historische Zeugnisse den BesucherInnen kommentarlos präsentiert werden? Der kritische Rundgang zeigt überzeugend, dass diese vom DHM angenommen Haltung eine Rückkehr zu einem von der Forschung längst überwunden geglaubten Geschichtsessentialismus darstellt. Um dem Schweigen des DHM weitere kritische Kommentare entgegenzusetzen, plant die Gruppe die Entwicklung von Audioguides (auf Deutsch und Englisch), die dann als Dateien von ihrer Internetseite heruntergeladen werden können. Interessierte können sich über die kritischen Rundgänge und die weiteren Pläne der Gruppe informieren unter http://www.berliner-afrika-konferenz.de/events/92.

Anmerkungen:
1 Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006
2 Die Ausstellung hieß „Namibia – Deutschland. Eine geteilte Geschichte“, vgl. http://www.dhm.de/ausstellungen/namibia/mup_lehrer.htm (Abruf 3. Oktober 2010)
3http://www.dhm.de/ausstellungen/staendige-ausstellung/index.html (Abruf 3.Oktober 2010)

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26.11.2010
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