Besprochene Sektionen und Veranstaltungen:
Eröffnung des 51. Deutschen Historikertages
Public Lecture I: Secularity, Pluralism, and Nationalism
Wie schreibt man eine transnationale Geschichte?
Alles fließt. Transformationsmodellierungen in der Geschichtswissenschaft
Hitler. Eine historische Vergewisserung
Globalgeschichte von Religionen - Perspektiven und Erkenntnischancen
Die Rolle des internationalen Historikerverbandes in der internationalen Historiographie
‚Glaubensfragen’ sollten im Mittelpunkt des 51. Deutschen Historikertages stehen. Intendiert was dabei auch eine Selbstreflexion über Grundlagen des Faches Geschichte. Jedoch hielt sich in vielen Sektionen das Interesse an dieser Themenstellung in Grenzen und es gab vergleichsweise wenige explizite Diskussionsbeiträge hierzu.
Bei der Eröffnungsveranstaltung im historischen Rathaussaal erinnerte der Erste Bürgermeister Olaf Scholz an den letzten Historikertag in der Hansestadt Hamburg 1978 mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Indessen blickten die Geschichtswissenschaften über Grenzen hinaus und suchten stärker als noch vor 40 Jahren transnationale wie globale Zugänge. Auch wenn aus der Geschichte keine unmittelbaren Handlungsoptionen erwüchsen, könnten Historikerinnen und Historiker doch dazu beitragen, Gefährdungen von Freiheit und Demokratie in der Gesellschaft aufzudecken. Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der von der UN life zugeschaltet war, verglich die aktuelle Situation in Syrien und im Nahen Osten mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa. Für das Zustandekommen des Westfälischen Friedens 1648 sei die Rolle unparteiischer Vermittler mit entscheidend gewesen.1
Partnerland des Hamburger Historikertages war Indien. In seiner in Kooperation mit der ZEIT-Stiftung organisierten Public Lecture verwies RAVI AHUJA (Göttingen) auf autoritäre Schatten und Tendenzen in der indischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aktuell könnten solche die größte Demokratie der Welt gefährden, folgerte er eher pessimistisch. So gebe es auch politische Einflussnahmen auf die Geschichtsschreibung und die Lehrbuchgestaltung in Indien - wie in einem von ANDREAS ECKERT (Berlin) moderierten Panel vor allem mit indischen Historikern über transnationale Geschichtsschreibung angemerkt wurde. Dietmar Rothermund (Heidelberg) vertrat in der Diskussion eine offene Definition von Globalgeschichte. Diese sei vergleichende Geschichtsschreibung, behandle transnationale Phänomene und schreibe die Geschichte anderer Nationen.2
Die epochenübergreifende Sektion ‚Alles fließt. Transformationsmodellierungen in der Geschichtswissenschaft’ griff eine relevante Fragestellung neu auf. Problematisch war allerdings der methodologische Einstieg, lediglich Ansätze aus den Sozialwissenschaften für Transformationsnarrative mit heranzuziehen und keine eigenen soziohistorischen Modelle zur Diskussion zu stellen. So blieb es vorrangig bei kritisch-vergleichenden Auswertungen von Historiographie und Quellen: DANIEL FÖLLER (Frankfurt am Main) betonte dabei den graduellen Charakter des Untergangs des römischen Reiches und der Transformation zum frühen Mittelalter. ULLA KYPTA (Basel) fragte ausgehend u.a. von Quellen zur großen Pest 1347-1357 methodologisch-empirisch nach Kausalitäten. Benjamin Steiner (Erfurt) diskutierte unterschiedliche und sich wandelnde historiographische Narrative zur englischen Revolution und zum englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts. Als Schlusskommentator unterstützte HARTMUT LEPPIN (Frankfurt am Main) dann das Anliegen, weiter auch an spezifisch historischen Transformationsschemata und -modellen zu arbeiten.
Einen gegenwärtig wieder aufgekommenen Hitler-Hype auch in Medien analysierte und kritisierte der Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert. Deutlich wurden bei der Podiumsdiskussion v.a. Aporien auch neuerer Hitler-Biographien. So verwies ANDREAS WIRSCHING (München) auf methodologisch-konzeptionelle Schwierigkeiten, historische Konstellationen in einer Biographie angemessen zu erfassen.3 Der US-Historiker Konrad Jarausch kritisierte zudem allzu vordergründige psychologisierende Deutungsversuche. Gefragt wurde dann, ob es nicht doch weiterführen könnte im Anschluss an Erich Fromm von einem bösartigen, destruktiv-nekrophilen Charakter auszugehen und mit dem Habitusbegriff Pierre Bourdieus Prägungen Hitlers durch gesellschaftliche Strukturen stärker hervorzuheben.4 Der Moderator und FAZ-Redakteur Jürgen Kaube schlug sogar vor, Hitler als Person gleichsam verschwinden zu lassen. Dazu trug er selbst jedoch wenig bei, da er den Fortgang der Diskussion auf die aufwendig gestaltete jüngste Edition von ‚Mein Kampf’ lenkte. Als neuer Direktor des Münchener Instituts für Zeitgeschichte versuchte Andreas Wirsching diese mit Hinweisen auf ergänzte kritische Anmerkungen und Kommentare gegen Kritik von Ulrich Herbert zu verteidigen - was allerdings nicht recht überzeugte.
Zugleich eine Einführung in die Geschichte des italienischen Mussolini-Faschismus bietet die Studie des Sozialwissenschaftler David I. Kertzer, ‚Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus’.5 Der amerikanische Pulitzerpreisträger stellte sich in einer von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft organisierten Buchpräsentation der Diskussion mit WOLFGANG SCHIEDER (Köln) und TeilnehmerInnen des Historikertages. Anhand neu erschlossener Quelle u.a. aus Vatikanarchiven belegte Kertzer, dass Pius XI. sich zumindest nicht gegen die Gleichschaltung des politischen Systems durch Mussolini stellte. Einflussreiche, aber persönlich erpressbare Angehörige der Kurie kollaborierten und sympathisierten zudem mit italienischen Faschisten. Quellenkritisch wurde angefragt, inwieweit Spitzelberichte aus dem Vatikan von Personen verfasst wurden, die ein Interesse an einer Kollaboration hatten.
In der Sektion ‚Globalgeschichte von Religionen - Perspektiven und Erkenntnischancen’ zeigte VOLKHARD KRECH (Bochum) auf, dass die Religionswissenschaften und die historische Soziologie wichtige Gesprächspartner der Geschichtswissenschaften sind. Deutlich wurde, dass Weltreligionen insbesondere kulturell erheblich zu Globalisierungsprozessen beigetragen haben und Religionsgeschichte deshalb vielfach mit Globalgeschichte verflochten ist. In der Diskussion unterstützte URTE KOCKA (Berlin) dann aus geschichtsdidaktischer Sicht ein weites Verständnis von Reformation, das Kirchen und Gesellschaften umfasst und nicht allein auf Deutschland fokussiert sein dürfe. ‚Glaubensfragen’, das Motto des Historikertages, wurden zudem als auch interessengeleitete Entscheidungen für bestimmte historische Forschungen und Themen gedeutet - wobei es im Anschluss an Jürgen Habermas Interessen aufzudecken und kritisch-diskursiv zu reflektieren gelte.
Bei einer abschließenden Podiumsdiskussion über ‚die Rolle des Internationalen Historikerverbandes in der internationalen Historiographie’ informierte MATTHIAS MIDDELL (Leipzig) als neuer deutscher Vertreter im CISH über die Planungen zum Welthistorikerkongress 2020 in Poznan. Zusammen mit dem scheidenden Vorsitzenden des deutsche Historikerverbandes MARTIN SCHULZE WESSEL (München), dem Präsidenten des US-amerikanischen Historikerverbandes, PATRICK MANNING (Pittsburgh), und dem langjährigen südkoreanischen Mitglied im ‚Board’ des CISH, JIE-HYUN LIM (Seoul), warb er für eine rege Beteiligung deutscher Historikerinnen und Historiker.
Anmerkungen:
1 Leicht gekürzt ist der Redetext zugänglich in: geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung, 2017/1, S. 5-9; dazu auch S. Westphal, Der Westfälische Frieden, München 2015. - Beachte insgesamt das Programm des Hamburger Historikertages, Glaubensfragen.
2 Verwiesen sei weiterhin auf die ‚Geschichte Indiens’ (Von der Induskultur bis heute, München 1998) von Herman Kulke und Dietmar Rothermund.
3 Dies gilt auch für die weiterhin wohl gelungenste Hitler-Biographie von Ian Kershaw, wiewohl dieser den Versuch unternimmt, personelle mit strukturellen Elementen zu verbinden (Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998, S. 8f). Peter Longerich hingegen dürfte gegenüber den Kräften, “die Hitler bewegten“, dessen Person als solche erneut überschätzen (Hitler, München 2015, S. 9ff).
4 Erich Fromms ‚Anatomie der menschlichen Destruktivität’ (Stuttgart 1974, S. 335ff) geht, wenngleich recht kritisch, allerdings noch von damaligen historischen Forschungsständen aus. - Pierre Bourdieu, Loic Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996, S. 39f.
5 Darmstadt 2016. - Beachte auch die Rezension von Jörg Ernesti in der FAZ vom 23.9.2016, der v.a. die Rolle Eugenio Pacellis, des späteren Pius XII., positiver einzuschätzen versucht.