Die nationale Betrachtung der Geschichte wird seit einigen Jahren um übergreifende Perspektiven erweitert: Globalgeschichte, Neue Weltgeschichte, Transnationale oder Verflechtungsgeschichte heißen die entsprechenden Schlagworte. Auch die Neue Kolonialgeschichte, oftmals der Postkolonialen Theorie verpflichtet, gehört dazu.
In den Blick geraten dadurch der Austausch von Gütern, Menschen und Ideen, die Gleich- und Ungleichzeitigkeit von Ereignissen und auch die Auswirkungen bestimmter Entwicklungen und Herrschaftspraktiken auf Herrschende wie Beherrschende, auf die Menschen des Globalen Nordens wie die des Globalen Südens.
Es besteht jedoch bei der überregionalen wie der globalen Betrachtung immer die Gefahr, die lokalen Spezifika, zumindest aber die durch eine genaue Detailbetrachtung mögliche Anschaulichkeit, aus den Augen zu verlieren. Das gilt auch für die Neue Kolonialgeschichte und die Postkoloniale Theorie.
Was aber bedeutete Teilnahme an der europäischen Expansion genau, wer waren die treibenden Kräfte, was trieb sie an, wer genau profitierte davon in den Zentren des Globalen Nordens und wie genau geschah dies?
Wir wollen diese Fragen am konkreten Beispiel einer Stadt stellen, die wie keine zweite in Deutschland in die Geschichte des Kolonialismus involviert war. Während in Berlin die politischen Entscheidungsträger des zwischen 1884 und 1918 existierenden deutschen Kolonialreiches ansässig waren, steht die Hansestadt für einen weit davor beginnenden und weit darüber hinausreichenden Austausch und Kontakt. Über Jahrhunderte (bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts) handelte man mit Kolonien, ehemaligen Kolonien oder Kolonialmächten, kaufte oder verkaufte Kolonialwaren (und auch Menschen). Die Hansestadt war als größte deutsche Hafenstadt schon lange vor der deutschen Kolonialreichsgründung am kolonialen Projekt der Europäer beteiligt. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung Bismarcks, in die formale Kolonialreichsgründung einzuwilligen, und sie profitierte ganz konkret von diesem Kolonialreich. Auch kamen ihre kolonialen Verwicklungen mit der kolonialen Welt bis zum Ende derselben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zum Abschluss. Das „Tor zur Welt“, wie sich Hamburg gerne nennt, war ein Tor zur kolonialen Welt.
Diese Geschichte hat in Hamburg ihre Spuren hinterlassen, in der Infrastruktur (Hafen, Speicherstadt), in Kultur und Wissenschaft (Kolonialinstitut, Völkerkundemuseum, Hagenbeck), in Denkmälern ('Askari-Reliefs', Kolonialgefallenengedenktafel im Michel), in der Architektur (Afrikahaus, Chilehaus), in der Wirtschaft und Politik (Handelskammer, Außenwirt-schaftsverbände, Rathaus) und in seiner Bevölkerung (Auswanderung, Einwanderung).
Um diese Spuren gibt es in Hamburg seit Jahren eine lebhafte Diskussion und seit 2014 wird die Forderung nach einer Aufarbeitung dieser kolonialen und postkolonialen Vergangenheit auch politisch unterstützt. Mit Senatsbeschluss wurde die Erarbeitung eines gesamtstädtischen Erinnerungskonzeptes beschlossen und parallel eine Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung" eingerichtet. Dieser Forschungsstelle unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Zimmerer obliegt auch die Herausgabe eines Sammelbandes zu den postkolonialen Erinnerungsorten der Hansestadt, der 2017 vorgelegt werden soll. Als Muster gilt, allerdings mit lokalem Bezug auf Hamburg und die Hamburgischen Kontakte in die Welt, der Band "Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte", hrsg. von Jürgen Zimmerer, Frankfurt/M 2013. Dort findet sich auch eine ausführliche theoretische Einführung in das Konzept der postkolonialen Erinnerungsorte.
Wir laden nun alle Interessierten ganz herzlich ein, sich an diesem Projekt mit einem Aufsatz zu beteiligen. Einige der möglichen Themen wurden bereits angesprochen, sie sind aber in keiner Weise erschöpfend. Gerne berücksichtigen wir auch Vorschläge, die das Agieren von Hamburgerinnen und Hamburgern, bzw. deren Repräsentantinnen und Repräsentanten außerhalb Deutschlands und außerhalb Europas in den Blick nehmen, etwa in den Kolonien des Deutschen Reiches, aber auch vor und nach der Phase des formalen Kolonialreiches in Afrika, Amerika oder Asien. Ausgangspunkt und 'Aufhänger' eines jeden Artikels soll ein 'Erinnerungsort' in Hamburg sein, materieller wie immaterieller Natur, also etwa ein Gebäu-de, ein Straßenname, eine Institution oder eine Persönlichkeit. Diese Erinnerungsorte sollen (auf ca. 20 Seiten) in ihrer jeweiligen historischen Bedeutung kontextualisiert werden, so-wohl im Hinblick darauf, wofür sie global stehen, als auch welchen Bezug sie zu Hamburg haben/hatten (etwa wann, warum und von wem Sie errichtet wurden), und auch wie sich der Umgang mit ihnen im Laufe der Zeit gestaltete.
Der geplante Band wird durch Beiträge im "Virtuellen Partizipationslabor Hamburgs postkoloniales Erbe" ergänzt, zu dem die Beiträger ebenfalls eingeladen sind. Weitere Hinweise zur Arbeit der Forschungsstelle und zum geplanten Band finden sich unter:
https://www.geschichte.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/globalgeschichte/forschung/forschungsstelle-hamburgs-postkoloniales-erbe.html
https://www.facebook.com/pages/Hamburgs-postkoloniales-Erbe/1679604878938061
Wie ersuchen zunächst um Interessensbekundungen mit einer kurzen Projektskizze und einem kurzen Lebenslauf (jeweils max. 2 Seiten, als pdf) bis zum 15.4.2016 an kim.sebastian.todzi@uni-hamburg.de. Deadline für die ausgewählten Beiträge (ca. 20 Seiten) ist dann der 15.10.2016. Es ist überdies geplant, ausgewählte BeiträgerInnen zu einem Workshop im Dezember 2016 nach Hamburg einzuladen.
Bei Rückfragen wenden Sie sich gerne an kim.sebastian.todzi@uni-hamburg.de.