Das Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalens fördert im Rahmen der Initiative „Geisteswissenschaften gestalten Zukunftsperspektiven“ seit dem 1.7.2005 auf eine Dauer von 18 Monaten ein Forschungsprojekt mit dem Thema „Interethnische Beziehungen von orthodoxen Christen und Muslimen in Südosteuropa“. Das beantragte Projekt verfolgt das Ziel, die alltäglichen interethnischen Beziehungen zwischen orthodoxen Christen und Muslimen in ethnisch und religiös gemischten städtischen und ländlichen Siedlungen der multiethnischen Regionen Westthrakien (Griechenland) und der Dobrudscha (Rumänien) zu untersuchen. Beide Regionen blieben bislang von interethnischen Konflikten weitgehend verschont. Sie bieten sich darum dafür an, die Mechanismen des Neben- und Miteinanders zu erforschen, insbesondere auch Reibungs- und Konfliktpunkte und deren Lösungen herauszuarbeiten.
Im Gegensatz zu vielen anderen Teilen Europas leben die Muslime Südosteuropas bereits seit gut einem halben Jahrtausend mit Christen auf engem Raum zusammen. Es konnten friedliche Symbiosen entstehen, aber es ist auch mehrfach zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Volksgruppen gekommen. Bei einem Teil der Auseinandersetzungen handelt es sich um Konflikte, die sich an religiösen Unterschieden festmachen lassen. Viele Konflikte wurzeln in der Zeit nach der Gründung der Nationalstaaten, als das für das Osmanische Reich charakteristische „Prinzip interethnischer Koexistenz“ aufgegeben wurde. Mancherorts zeigt sich die getrennte Lebensweise der christlichen und muslimischen Bevölkerung bereits in räumlicher Segregation durch Siedeln in getrennten Siedlungen oder Vierteln, sog. Mahalle. Es gibt aber ebenso durchmischte Siedlungen ohne sichtbare räumliche Strukturierung nach Konfessionen.
Da zu erwarten ist, dass sich die interethnischen Beziehungen in ländlichen und städtischen Siedlungen unterschiedlich gestalten, werden die Untersuchungen in jeweils einer ethnisch gemischten ländlichen und einer städtischen Siedlung durchgeführt. Für Westthrakien wurden dafür das Dorf Evlalon im Bezirk Xanthi und die Stadt Xanthi ausgewählt (hier leben Griechen, Pomaken, Türken, Roma), in Rumänien das Dorf Cobadin und die Stadt Medgidia (hier leben Rumänen, Tataren, Türken, Roma).
Das Projekt geht der Frage nach, welche Formen interethnischer Beziehungen zwischen den einzelnen muslimischen und orthodoxen Ethnien existieren, auf welchen Ebenen kulturelle, wirtschaftliche, soziale und religiöse Interaktionen stattfinden und in welchen Bereichen die Angehörigen der jeweils anderen Gruppe ausgeschlossen werden bzw. sich selber ausschließen. Schwerpunkte sind Selbst- und Fremdbild der ethnisch bzw. religiös definierten Individuen und Gruppen (gemeinsames Identitätsbewusstsein, Wir-Gruppen-Verständnis, Vorurteile, Stereotypen, Inklusion und Exklusion sozialer Systeme), Aspekte ihres faktischen Verhaltens (sozialräumliche Segregation, Wirtschaften, Wohn- und Siedlungssituation, Freizeit, kulturelle und religiöse Aktivitäten) sowie die Instrumentalisierung und Demagogisierung sozialer Differenzen in der tatsächlichen Alltagskommunikation.
Von den 18 Monaten sind 5 Monate für Feldforschungen in Griechenland und Rumänien vorgesehen. Es werden insbesondere qualitative und interpretative Methoden angewandt, wobei biographische Forschung in Verbindung mit narrativen Gesprächen wichtigste Methode ist. Das OSI ist durch Projektkoordination, Teilnahme an einigen Feldforschungen, sowie Durchführung einer projektbegleitenden Tagung Anfang 2007 an dem internationalen Projekt beteiligt. Projektleiter ist Prof. Dr. Cay Lienau (Institut für Geographie der Westfälische Wilhelms-Universität Münster), Projektkoordinator in Österreich Dr. Thede Kahl (Wien); Projektmitarbeiter sind Dr. des. Gerassimos Katsaros und Mag. Maria Bara (beide Münster), deren Feldforschungsarbeit durch die lokalen Mitarbeiter Dr. Domna Michail (Xanthi) und Mag. Aurica Piha (Bukarest) unterstützt wird.