John H. Millers „Modern East Asia“ soll eine Provokation für die traditionelle Ostasienwissenschaft darstellen. Millers Regionalkonzept steht quer zu den dort bisher vorherrschenden Ansätzen, die ihrer Definition dieser Weltregion eine mehr oder weniger kulturwissenschaftliche Begründung geben, und reiht sich damit in die (ursprünglich Vorgängen innerhalb der US-amerikanischen Wissenschaftsszene zuzurechnende) Kritik an den „area studies“ ein.1
Das als Einführung geschriebene Buch verzichtet zwar genregemäß auf Anmerkungen, führt in seiner schmalen Auswahlbibliographie aber jenen Sammelband von Giovanni Arrighi, Takeshi Hamashita und Mark Selden an, in dem vor wenigen Jahren ein Perspektivenwechsel auf die Regionalgeschichte Ostasiens, nämlich eine Hinwendung zur Erforschung ökonomischer, politischer und technologischer Interdependenzen, gefordert wurde. Die Herausgeber formulierten damals „that at least through the early nineteenth century Northeast, Inner and Southeast Asia jointly constituted a single word region in the sense that interactions within and between these sub-regions were more important in shaping developmental processes and outcomes than their interactions with other regions of the global economy“.2
Das neue an dieser Definition war also einerseits die Zusammenfügung dreier traditionell getrennt behandelter Weltregionen, nämlich Innerasien, (Nord-) Ostasien3 und Südostasien unter dem gemeinsamen Dach “East Asia”, andererseits die Konzentration auf Interaktionen und damit sozusagen auf die Oberflächenstruktur der Geschichte. Vorhergehende Ansätze (sofern sie nicht dem noch älteren Fernost-Begriff anhingen) versuchten demgegenüber, die Geschlossenheit ihres Untersuchungsgegenstandes durch kulturelle Gemeinsamkeiten zu untermauern. Ostasien wurde daher meist als das Verbreitungsgebiet der chinesischen Kultur und ihrer lokalen Varianten aufgefasst und bestand daher aus China, Japan und Korea (selten noch Vietnam).
Eine solche kulturelle Definition hält Miller aber für schlicht unmöglich; tatsächlich gebe es in Ostasien eine viel zu große kulturelle Diversität. „If East Asia's historicity depended on its cultural unity, there would be no point in continuing and this book could not be written. But it does not.“ (S. xviii)
Im ersten Kapitel, „East Asia's Foundations“, beschreibt Miller daher zunächst geographische, klimatische, ethnische, sprachliche, soziale, politische und kulturelle Heterogenität in den Räumen, die er „Ostasien“ zurechnet – von Nordost-Sibirien bis Südostasien. Immerhin gesteht er zu, dass der Einfluss des Monsuns in dieser Region ein verbindender Faktor ist. Aber sonst? „One might conclude [...] that Southeast, Northeast, and Inner Asia formed separate and fundamentally worlds“ (S. 22) – wäre da nicht doch noch etwas Verbindendes, zumindest ab 1800.
Denn dort setzt Millers zweites Kapitel, „East Asia in 1800“, ein. Konventionellen Beschreibungen der politischen Verhältnisse in China, Japan, Korea und den buddhistischen Königreichen und islamischen Sultanaten Südostasiens folgen knappe zwei Seiten zu den nicht sehr intensiven Kontakten zu Europa.
Erst im dritten Kapitel wird hieraus unter dem pompösen Titel „A Clash of Civilizations“ eine Geschichte von (oberflächlich betrachtet) „straightforward conquest achieved by superior firepower and military organization“, also (strukturell betrachtet) der Siegeszug der westlichen „science-based industrial civilization and nation-state ideal“ (S. 44), den Miller in den bekannten Worten und Metaphern schildert und dem sich nur Thailand und Japan entziehen können.
Folglich behandelt Kapitel 4 „The Development of Nationalism“ in wenig überraschender Weise (Japan, China, Philippinen, Thailand und Korea) und auch nicht immer auf der letzten Forschungshöhe (z.B. „the more Japan tried to 'Japanize' Koreans, the less inclined they were to accept it, at least inwardly“, S. 83).
Kapitel 5 ist „The Rise of Imperial Japan“ gewidmet, wobei der Schwerpunkt nach knappen Worten über Industrialisierung und Japans Verfassung auf seinem außenpolitischen Imperialismus liegt. Miller diskutiert zwar, was er Japans Politik des „quitting Asia culturally and psychologically“ (S. 100) nennt, sieht jedoch den von Japan ausgehenden Panasianismus lediglich als Reaktion auf den westlichen Rassismus, der „out of the step with the goals of the Meiji government and elite“ (S. 102) gewesen sei. Beides ist nachweislich falsch und führt zu einem profunden Missverständnis des japanischen Imperialismus.
Die „Zwischenkriegszeit“ (S. 104; ein eurozentrischer Begriff par excellence) ist Thema des sechsten Kapitels, „The Turbulent 1920s and 1930s“. Es konzentriert sich fast ausschließlich auf innen- und außenpolitische Entwicklungen in Japan und zeichnet dabei das wohlbekannte, gleichwohl fragwürdige Katastrophenszenario nach: Der Einführung der bürgerlichen Demokratie folgt unter dem Eindruck von Weltwirtschaftskrise, Korruption und ultranationalistischem Terror ihre Abschaffung zugunsten einer Strategie „to wage total war against the Soviet Union and the Anglo-American powers“ (S. 118). Im siebenten Kapitel, „The Pacific War“, kommt Miller nach einer kurzen Abhandlung des Kriegsverlaufs seit 1941 zu Aussagen, die für sein Gesamtthema zentral sind: „Greater East Asia was [...] intended by the Japanese to be a multicultural as well as multinational regional entity“ (S. 134); Japan „had reconnected East Asia economically, culturally, and politically for the first time since the collapse of the Chinese tributary system in the mid-nineteenth century“ (S. 139). Diese Pointe ist richtig, wenngleich historisch verkürzt.4
Im Mittelpunkt des Kapitels „From Postwar to Cold War“ stehen die US-amerikanischen Bestrebungen zum Aufbau einer postkolonialen Ordnung in diesem erweiterten Ostasien, die vielerorts jedoch auf nationalistischen und kommunistischen Widerstand stießen und nach dem Koreakrieg zur Teilung Ostasiens in einen sowjetischen und einen amerikanischen Block führten. Freilich gelang es auch der Sowjetunion nicht, ihre wichtigsten Verbündeten in China und Nordkorea im Zaum zu halten. Die chinesisch-amerikanische Verständigung Anfang der 1970er-Jahre leitete daher die Phase des „Late Cold War“ ein, dem das neunte Kapitel gewidmet ist. In beiden Kapiteln stehen die „großen Männer“ im Vordergrund, die bis dahin in Millers Darstellung fast völlig fehlen: Mao, Ho Chi Minh, Stalin, Nixon usw. Die Annäherung zwischen den USA und China wird folgerichtig auf „the handful of decision makers“ in beiden Ländern zurückgeführt (S. 169). Ostasiatische Geschichte ist nunmehr reine Diplomatiegeschichte – jedenfalls bis zu dem Moment, als Japan erneut die Bühne betrat und seine wirtschaftliche Dominanz, gepaart mit neonationalistischen Tendenzen, in den 1980er-Jahren thematisiert wird.
Im zehnten Kapitel stellt Miller „Post-Cold War Trends“ vor, zu denen er vor allem die Einigung Südostasiens in der ASEAN, Chinas ökonomischen und politischen Aufstieg, seine wachsende Rivalität mit Japan sowie einen neu erwachenden Regionalismus zählt.
Im Schlusskapitel wagt sich Miller an Prognosen zur Zukunft Ostasiens. Bei allen Bedenken sieht er doch gute Chancen für wachsende wirtschaftliche Integration und Unabhängigkeit der Region, trotz konfliktträchtiger Nationalismen „and the common challenges posed by transnational threats“ (S. 223), unter denen er nicht etwa neuere Ansätze in der Geschichtswissenschaft versteht, sondern vielmehr den „war on terrorism“.
Und das ist schade. Denn so bleibt Millers Buch auf der Ebene einer (außen)politischen Geschichtsschreibung, die an keiner Stelle die eingangs zitierte Forderung Arrighis, Hamashitas und Seldens befriedigend einlöst, ein Bild der ökonomischen und politischen Interaktionen der ostasiatischen Agenten zu zeichnen und zu erklären, wie sich durch diese eine vom übrigen Weltgeschehen abgrenzbare Weltregion konstituiert. So bleibt der Erkenntniswert des neuen Regionenkonzepts, dem Miller folgt, zweifelhaft. Vielmehr demonstriert Miller nur, dass sich Interaktionsgeschichte ohne vergleichende Kultur- und Sozialgeschichte genau so liest, als hätte man das alles eigentlich auch schon vorher gewusst. Und sogar noch ein bisschen mehr.
Anmerkungen:
1 Hierzu Schäbler, Birgit, Das Studium der Weltregionen (Area Studies) zwischen Fachdisziplinen und der Öffnung zum Globalen: Eine wissenschaftsgeschichtliche Annäherung, in: dies. (Hrsg.), Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte, Wien 2007, S. 11-44.
2 Arrighi, Giovanni; Takeshi, Hamashita; Selden, Mark (Hrsg.), The Resurgence of East Asia. 500, 150 and 50 year perspectives, London u.a. 2003, S. 8.
3 Die Bezeichnung „Nordostasien“ (für Nordost-Sibirien, Korea, Japan und seltener auch China) ist bislang wesentlich seltener als „Ostasien“ (für denselben Raum, aber immer einschließlich China und gelegentlich auch Vietnam); sie wird z.B. von der südkoreanischen Diplomatie bevorzugt.
4 Vgl. Zöllner, Reinhard, Die Konstruktion „Ostasiens“. Die deutsche und japanische Rolle bei der Entdeckung eines imaginierten Raumes, in: Lentz, Sebastian; Ormeling, Ferjan (Hrsg.), Die Verräumlichung des Welt-Bildes, Stuttgart 2008, S. 219-239.