Tøger Seidenfadens Ansichten mögen repräsentativ für akademische Kreise Europas sein. Dieser Chefredakteur des dänischen Blattes "Politiken" erörterte den "Fundamentalismus westlicher Werte". Er empörte sich über Intellektuelle, die "offensiv westliche Werte" beschwören und sich in der "bekennenden Gegnerschaft" dazu übten, was als islamisch erscheine. Sie würden selbst zu Fundamentalisten. "Wieder wird versucht," beklagte er, "westliche Werte an nationale Kulturen und Identitäten zu binden." In Debatten über die Immigration und Integration kehre, für alle sichtbar, ein offensiver Nationalismus zurück.
Die Spannungen und Herausforderungen, so der Däne weiter, die durch Einwanderung und ethnische Vielfalt entstünden, erhielten eine bösartige Schärfe, wenn sie von einer "moralischen Panik" angesichts einer "vermeintlichen islamischen Bedrohung" verstärkt würden. Muslimische Immigranten und Bürger verwandeln sich, ohne dass sie etwas tun, in die fünfte Kolonne des Jihads. Sogar der Fakt, dass sie Kinder bekommen, werde als aggressiver Akt, als Art Eroberung gesehen. Dies sei unvereinbar mit liberalen Werten.1
Man darf ihm beipflichten und widersprechen. Seine Idee, demokratische Werte wären übernational auf uns herabgekommen und nicht an Identitäten geknüpft, ist so ahistorisch wie auch seine Rede, es gäbe keine Bedrohung seitens des Islams durch Radikalisierung nach der Einwanderung in Europa. Erwidern kann man ihm, dass kinderarme Familien auf der einen Seite und ihr Gegenteil auf der anderen Seite im heutigen Klima auf einer Waagschale der Kräfte wirken. Auch möchte man hoffen, dass der Islamisierung Europas durch Einwanderung, Geburt und Konversion die individuelle Übernahme liberaler Werte durch Muslime folgt. Das ergibt Zwiste, in denen Europäer ihre Aufklärung verteidigen müssen. Aber wie mag all dies wohl in eine historische Perspektive eingeordnet werden?
Das erhellt Bernard Lewis in "Europa und der Islam". Der Text ging aus seinem Irving-Kristol-Vortrag vor dem American Enterprise Institute for Public Policy Research am 7. März 2007 in Washington hervor. Der Princetoner Islam- und Mittelost-Gelehrte meint, dass es zum Historiker gehört, frühere Trends ausloten, um zu sehen, was davon fortwirkt sowie welche Möglichkeiten und Entscheidungen daher morgen anstehen werden.
Zweierlei schickte der Forscher voraus. Zum einen, dass es in islamischen Regionen ein besonderes Gespür und Wissen um historische Zusammenhänge gibt: allein die Kenntnis der islamischen Geschichte lasse uns den öffentlichen Diskurs der gegenwärtigen Führer verstehen. Und zum anderen, dass wir gerade eine vierte historische Zäsur erleben, die mit dem Fall Roms, der Entstehung des Islams oder der Entdeckung Amerikas verglichen werden könne.
Lewis' Gedanken verkürze ich in der folgenden Skizze. Demnach beginne die moderne Geschichte Mittelosts Ende des 18. Jahrhunderts, als die Muslime zwei Schocks erlebten. Zum einen konnte Napoleon Bonaparte mit seiner kleinen Armee recht leicht Ägypten als islamisches Kernland besetzen. Zum anderen befreiten den Nilstaat nicht etwa Muslime der osmanischen Regionalmacht, sondern die Briten unter Admiral Horatio Nelson.
Fortan wurden islamische Räume von außen gelenkt. Dies dominierten Europas Mächte. Muslimen blieb nur, die Rivalitäten auszunutzen, die sich im 20. Jahrhundert ideologisch einfärbten. Dies sei vorbei: was Napoleon und Nelson starteten, beendeten Reagan und Gorbatschow. Mittelost werde nun nicht mehr durch auswärtige Mächte beherrscht oder dominiert. Doch hätten die dortigen Bewohner so ihre Probleme, sich an die neue Ära zu gewöhnen sowie für ihre Taten und deren Konsequenzen gleichwohl Verantwortung zu übernehmen. Einige haben begonnen, die Verantwortung zu tragen, darunter Usama Bin Ladin.
Das Ende der auswärtigen Beherrschung, so Lewis weiter, liess ältere Trends in Mittelost wieder aufkommen: innere Kämpfe unter den Ethnien, Sekten und Regionalmächten und der Zwist zwischen Christentum und Islam. Letztere verbuchten für sich das Privileg, die Empfänger der abschliessenden Botschaft Gottes zu sein. Nicht zuletzt diese Selbstsicht beförderte einen Konflikt, der nun über 14 Jahrhunderte währt und jetzt in die vierte Phase tritt.
Während in christlichen Räumen zu Beginn des 21. Jahrhunderts das triumphalistische Gehabe nicht mehr vorherrscht, sei Triumphalismus in islamischen Räumen - in ihrem 15. Jahrhundert - noch eine Hauptkraft. Dies zeigten die neuen militanten Bewegungen. Am Anfang war die Kriegserklärung im Jahre sieben der Hijra (628 u.Z.). Der Prophet Muhammad sandte Botschafter auch zu byzantinischen, iranischen und äthiopischen Herrschern. Er informierte sie über seine Prophetie und hielt sie an, entweder seinen Glauben anzunehmen oder die Konsequenzen zu spüren. Wenn es auch Zweifel an der Authentizität der Briefe gebe, so reflektiere ihr Inhalt die herrschende Sicht der Muslime.
Der Angriff auf das Christentum und der folgende Konflikt, der mehr den Ähnlichkeiten beider Seiten als ihren Unterschieden entspringe, durchliefen drei Phasen. Zunächst begann die Islamisierung und Arabisierung Nordafrikas, Westasiens und Europas wie Spanien, Portugal, Sizilien, Süditalien und Südfrankreich. Nach einem langen Kampf gewannen Christen diese Teile Europas zurück, aber nicht Nordafrika und das Heilige Land in ihren Kreuzzügen. Griffen in Phase eins Araber und Mauren an, so waren es in Phase zwei Türken und Tataren. Mongolische Herren Russlands konvertierten auch zum Islam. Die Türken eroberten das christliche Kleinasien, Konstantinopel und den Balkan. Zweimal belagerten sie Wien, während die Korsaren die europäischen Küsten verunsichert haben.
Wieder schlugen Europäer zurück. In Phase drei, Imperialismus genannt, retteten sie aber nicht nur Russland und den Balkan, sondern sie trugen ihre Macht nach Mittelost. All das wurde nach dem Ersten Weltkrieg vollendet und nach dem Zweiten Weltkrieg beendet: die europäische, nach dem Kalten Krieg auch russische Macht über islamische Räume. Jedoch sah Bin Ladin den Rückzug der Sowjets aus Afghanistan und ihren Kollaps nicht als Sieg des Westens an, sondern als Triumph des Jihads gegen die Ungläubigen. Für ihn stand die islamische Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg auf ihrem Tiefpunkt: Länder waren auswärtig beherrscht, die Türkei löste das Kalifat auf und errichtete ein säkulares, sich verwestlichendes Regime. Ihm galten die Sowjets als tödlichere Feinde. Nun wollte er verweichlichte Demokratien schlagen, allen voran die amerikanische. Das zeigte sich in Attacken der 1990er Jahre, zumal Washington oft und rasch Fersengeld gezahlt hat.
Für eine fanatische und resolute Minderheit der Muslime hat nun klar die vierte Welle der Angriffe auf Europa begonnen. Und wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, meint Lewis, was dies heisst. Der Konflikt nimmt andere Formen an, darunter auch Terror und Migration. Terror war im Islam kein Teil des Krieges. Aber er sei nun derart umgedeutet worden, dass Selbstmörder zu Vorbildern für frustrierte Männer und Frauen geworden sind.
Europa reagierte auf die islamische Immigration mit Multikulturalismus und politischer Korrektheit. Anders als die Europäer, wüssten Muslime wer sie sind und was sie wollen. Europäer ziehen konstruktives Engagieren durch Dialog vor. Papst John Paul II. hat sich gar für die Kreuzzüge entschuldigt. Sie waren aber kein aggressiver Akt gegen friedliche islamische Regionen, sondern eine späte, begrenzte und gescheiterte Imitation des Jihads; ein Versuch, etwas durch einen Heiligen Krieg zurückzuholen, was durch diesen verloren worden war.
Radikale Muslime finden in Europa Verbündete: Linke mögen deren Antiamerikanismus (für einige haben sie die Sowjets ersetzt); Rechten gefällt die antijüdische Tendenz. Die Muslime suchten im säkularen Staat einen Toleranzgrad, den Christen unter islamischer Macht genossen, so eigene Feiertage und Gerichtsbarkeit der Shar'ia samt Polygamie. Die Zukunftsfrage laute, ob ein islamisiertes Europa oder ein europäisierter Islam reife. Doch die demokratische Freiheitsidee breite sich gleichwohl in islamischen Räumen aus. Sie sei unsere beste Hoffnung, dass Europa in der gefährlichsten Phase seines Ringens mit dem Islam bestehen werde.
Daraus folgen Fragen für die historische Forschung. Einige hat Lewis gestellt, ob nicht einwandernde Muslime berechtigt seien, ihre Familien mitzubringen, wer alles dazu zähle und welche soziale Folgen ihre Polygamie habe. Andere Punkte wären regionalhistorisch komparativ auszuloten, etwa die Geschichte des Islams in Europa und Deutschland je im Verhältnis zur Geschichte Mittelosts und Amerikas oder welche transatlantischen Folgen eine islamische und sogar islamistische Majorisierung von Städten und Ländern Europas zeitigt. Alte Fragen erscheinen im neuen Lichte, so ob Individualismus und Humanismus eine europäische Erfindung sind und was sie heute für Muslime in Europa bedeuten. Und schließlich pluralisieren sich mit wachsender Vielfalt generative Geschichtsbilder, denn was sagten etwa europäischen Muslimen die Magna Charta libertatum oder ihren nicht-muslimischen Nachbarn die vier Phasen des Konfliktes zwischen Islam und Christentum?
Anmerkung:
1 Zit. in: Süddeutsche Zeitung, 05.07.2007