Turn! Turn! Turn! 1 Pete Seegers Lied wird seit einiger Zeit mobilisiert, um auf die unüberschaubare Vielfalt der kultur- und medienwissenschaftlichen Konzepte nach dem Verlust der Meistererzählungen hinzuweisen.2 Der vorliegende Band, der auf zwei Weimarer Konferenzen basiert3, widmet sich dem topological turn aus interdisziplinärer Perspektive4 und geht auf dessen Besonderheiten im Kontext der Raumforschung ein, die seit etwa zwei Jahrzehnten anhaltende Aufmerksamkeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften erfährt.
Die Spezifizität des topological turn als Raumbeschreibung wird vom Herausgeber Stefan Günzel, Medienwissenschaftler an der Universität Jena, einleitend vorgestellt. Der Ansatz ziehe Konsequenzen aus den Debatten um den spatial turn und um den topographical turn. Ersterer bezeichne die eingangs erwähnte geistes- und sozialwissenschaftliche Wiederentdeckung des Raums als Konstruktion. Letzterer setze sich vor allem mit Raumrepräsentationen wie Karten und deren Ermöglichungsbedingungen auseinander. Darauf aufbauend untersuche der topological turn, konzise formuliert, „was gleich bleibt, wenn ein Betrachter meint, es habe sich etwas verändert“ (S. 21), das heißt die spezifische Konfiguration sozialer bzw. kultureller Relationen jenseits ihrer Erscheinung im physischen Raum. Das Topologiekonzept biete somit eine Möglichkeit, sowohl über rein materialistische als auch über rein kontingente Raumtheorien hinauszugehen. Der Ansatz könne als geisteswissenschaftliche Adaption der post-euklidischen Geometrie verstanden werden5 und umfasse phänomenologische sowie strukturalistische Interpretationen. Als aktuelles Beispiel einer strukturalistischen Anwendung zitiert Günzel Giorgio Agambens Analyse der „Lagerung“ als Raummuster des 20. Jahrhunderts6, während phänomenologische Anwendungen im Sammelband stark vertreten sind.
Im ersten Hauptteil des Bandes werden fachspezifische Raumdebatten und Ansichten über den topological turn präsentiert. Für den Historiker Karl Schlögel ermöglicht eine geschichtswissenschaftliche Raumperspektive die Überwindung der linearen Geschichtsschreibung bzw. die Rückgewinnung der Komplexität bestimmter Erzählungen. Schlögel widmet sich insbesondere der historischen Topographie als „Rekonstruktion der Genese und des Verfalls“ unterschiedlicher Räume (S. 39), deren Ausgangspunkt die historische Ortsbesichtigung sei. Diese Herangehensweise – die Schlögel nicht als Methode bezeichnen mag – hebe die Mehrschichtigkeit der sozialen Prozesse in konkreten Orten hervor, wobei sich Schlögel in seinem Beitrag auf die Stadt Sankt Petersburg konzentriert.
Die Sozialgeographin Julia Lossau betont den etwas unzeitgemäßen Charakter des spatial turn in ihrer Disziplin. Die englischsprachige Geographie habe sich mit diesem Ansatz vorwiegend in den 1980er Jahren auseinandergesetzt. Während die deutsche Geographie dies ab den 1990er Jahren rezipierte, habe sich inzwischen das Fach zur Materialität und zu alltäglichen Sozialpraktiken zurückgewendet. Dieser turn werde allerdings in Deutschland kritisch beäugt, da eine Rückkehr zum Essentialismus befürchtet werde, zudem Autoren des material turn zuweilen physischen Gegenständen eine höhere Wahrhaftigkeit als Diskursen attestieren würden.
In ihren Beiträgen setzen sich der Philosoph Bernhard Waldenfels, der Medienwissenschaftler Georg Christoph Tholen, die Filmemacherin Ute Holl sowie die Kulturtheoretikerin Kathrin Busch aus phänomenologischer Perspektive mit Topologie, Topographie, Ort und Raum auseinander. Waldenfels und Holl betonen, dass die Phänomenologie an die kosmologische Vision der Antike anknüpfe, die den Menschen - im Gegensatz zur Weltanschauung der Renaissance und des Kartesianismus – nicht scharf von seiner Umwelt trenne. Das phänomenologische Primat der Sinne und Gefühle in der Wahrnehmung der Welt wird von Busch in Heideggers Konzept der Topologie nachgezeichnet, in welchem das Sein durch seine Verortung seine Bestimmung erhält. Waldenfels hingegen versteht Topologie als allgemeine Untersuchung des theoretischen Rahmens der Räumlichkeit, während er Topographie als Analyse der Vielfalt von Raumerfahrungen konzipiert. Dieses Verständnis folgend bevorzugt der Phänomenologe Waldenfels letzteren Ansatz. Tholen wie Waldenfels betonen, dass Raumerfahrungen sich nicht durchweg mathematisieren ließen. Folglich lehnt Tholen Virilios These vom „Verschwinden des Raums“ ab, da Technik menschliche Wahrnehmungen nicht ersetzen könne. In dieser Hinsicht gäbe es Räume, die nicht verortbar seien, und somit Alterität bzw. Fremdheit ermöglichten, so Waldenfels. Am Beispiel der „voids“ im jüdischen Museum in Berlin erklärt Tholen, wie diese bauliche Repräsentation der „Nicht-Orte“ die Unmöglichkeit einer globalen Erinnerung in Europa materialisieren.7
Die im zweiten Hauptteil versammelten Beiträge bieten eine Auseinandersetzung mit den Anfängen der Topologie in den Naturwissenschaften an.
Die hier vertretenen Autoren unterstreichen, dass topologische Überlegungen ihren Ursprung in der Betrachtung von Gegenständen jenseits ihrer Einbettung in einem von außen bestimmten Koordinatensystem nehmen, das die Mathematik von Euklid bis Newton geprägt habe. Die Kunsthistorikerin Karin Leonhard untersucht die Anfänge dieser Hinterfragung in der Barockzeit. Sie beginne mit der Entdeckung und den Klassifikationsversuchen von spiralförmigen Tieren, die der Lehre einer gottesgegebenen Symmetrie der Natur bzw. der Reversibilität der Naturgesetze widerspreche. Diese Entdeckung habe nicht nur die Naturwissenschaftler, sondern auch die Künstler des Barocks fasziniert, wie Leonhard anhand der Analyse eines Muschelbildes von Rembrandt zeigt. In der Barockzeit erfolge allmählich eine Mathematisierung solcher Formen sowie asymmetrischer Bewegungen wie der Erddrehung, während der Gedanke der Asymmetrie nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit erfasse und daher den Weg für die Idee der Evolution bereite. Somit erfahre das topologische Relationsgefüge in der Barockzeit eine epochale Veränderung – hier wird also da Barock selbst anhand eines topologischen Ansatzes interpretiert, während die Anfänge des Konzepts untersucht werden. Der Philosoph Peter Bornschlegell sieht Entsprechungen zwischen diesen naturwissenschaftlichen Erschließungen und der „Wendung zum ich“ in der Philosophie ab Kant – die, wie im ersten Teil dargestellt, später in der Phänomenologie weiterentwickelt wird. Bornschlegel erläutert die mathematische Wendung am Beispiel der Suche nach der empirischen Widerlegung von Euklids Parallelaxiom an der Wende zwischen 18. und 19. Jahrhundert. Die Anschaulichkeit der euklidischen Geometrie, die jeden Gegenstand mit einem Außensystem von Koordinaten verbindet, habe deren empirische Hinterfragung erschwert, jedoch zur Weiterentwicklung der Mathematik stark beigetragen, wie es Bornschlegell am Beispiel des Mathematikers Carl Friedrich Gauß (1777-1855) zeigt. Die Wendung zu den Relationen jenseits der physischen Position von Gegenständen wird vom Kulturwissenschaftler Waldimir Velminski in seinem Metapherbeladenen Essay zum Königsberger Rätsel, das die Denker der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigt, anschaulich gemacht. Die Entwicklung des topologischen Gedanken in der Mathematik wird von der Philosophin Marie-Luise Heuser nachgezeichnet, die die zentrale Rolle der analysis situs von Leibnitz im 17. und Johann Listing im 19. Jahrhundert hervorhebt. Hier werden auch mathematische Unterschiede zwischen Kombinatorik und Topologie erläutert.
Im letzten Hauptteil werden gegenwärtige Anwendungen des Topologie-Ansatzes in verschiedenen Disziplinen vorgesellt, darunter Architektur (Joachim Huber), Kybernetik (Peter Bexte), Psychoanalyse und Psychologie (Mai Wegener, Helmut E. Lück), Sozialgeographie (Roland Lippuner), Literaturwissenschaft (Vittoria Borso), Filmwissenschaft (Marc Ries) sowie Raumphilosophie (Knut Ebeling). Sowohl phänomenologische als auch strukturalistische Ansätze sind vertreten.
Unter letzteren sticht insbesondere Lippuners Analyse der Topologie von Pierre Bourdieu und Michel de Certeau heraus. Bourdieu verwende den Begriff im Rahmen seiner Theorie des in Feldern unterteilten sozialen Raums, in welchem soziale Positionen relational zu verstehen seien. Jedoch stehe diese Relationalität im Widerspruch zu Bourdieus Strukturmustern, die in der Unbeweglichkeit der Felder hervortrete. Somit bliebe Bourdieu in der Logik des sozialen Containers haften, die er zu überwinden beabsichtige. Eine Weiterentwicklung des relationalen Elements bei Bourdieu wird von de Certeau vorgeschlagen, der die Kreativität alltäglicher Sozialpraktiken an konkreten Orten bzw. die spezifischen Geographien dieser Praktiken untersucht. Abschließend stellt Lippuner die Frage, ob diese Herangehensweise die Analyse ganzer Gesellschaften ermögliche. Ähnlich wirft Vittoria Borso die Frage der methodologischen Konsequenzen des topologischen Ansatzes in den Kulturwissenschaften auf, die vor allem als Nicht-Vorhandensein von Sozialstrukturen verstanden wird, und schlägt sieben Thesen vor, die den analytischen Blick auf den Raum als Konstruktion richten. Somit rückt Günzels Betonung der Stabilität in den Relationen jenseits ihrer Position bzw. jenseits ihrer Wahrnehmung durch den Beobachter etwas in den Hintergrund.
Ohne Zweifel bildet der Band eine lesenswerte Bereicherung der interdisziplinären Raumforschung. Besonders löblich erscheinen die Aufsätze des zweiten Hauptteils, die wie die Skizze einer Archäologie des topological turn im Foucaultschen Sinne gelesen werden können. Zwischen Barock und Gegenwart und von der Biologie über die Mathematik bis hin zur Philosophie werden Pfade gezeichnet, die die Brüche zwischen kartesianischer und phänomenologischer Weltordnung, die den topological turn ermöglicht habe, plausibel machen. Das heißt nicht, dass dabei eine einheitliche Definition der geisteswissenschaftlichen Topologie hervortritt – auch Günzels einleitendes Verständnis von Topologie als der Untersuchung dessen, was gleich bleibt, wenn der Betrachter meint, es habe sich etwas geändert, wird nicht von jedem der Beiträger übernommen. Somit bleibt die Rekonstruktion einer Meistererzählung erspart, während der Wert der Topologie als heuristisches Konzept, in welchem Relationalität im Vordergrund steht, deutlich wird. Offen bleibt allerdings die Frage, inwieweit eben diese Heuristik die Etablierung des Topologie-Ansatzes als eigenständige Forschungsrichtung jenseits dieses Sammelbands ermöglichen könnte.8
Anmerkungen:
1 Seegers, Pete, Turn! Turn! Turn! (To Everything There Is A Season), 1962, http://www.risa.co.uk/sla/song.php?songid=17100.
2 Vgl. u.a. Bachmann-Medick, Doris, Die Rückkehr des Verdrängten, Frankfurter Rundschau, 15. August 2006.
3 Im November 2005,das Symposium Topologie. Weltraumdenken, im März 2006 die Arbeitstagung Topologie2. Beide fanden an der Bauhaus-Universität Weimar statt und wurden vom Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar organisiert.
4 Die im Titel erwähnten Kultur- und Medienwissenschaften werden umfassend interpretiert – Geschichte, Sozialgeographie, Philosophie und Psychoanalyse sind auch vertreten.
5 Siehe ferner die Ausführungen zum zweiten Teil des Werkes.
6 Vgl. Agamben, Giorgio, Homo Sacer, Frankfurt/Main 2006 [1995].
7 Die „voids“ sind fünf Leerräume, die die Architektur des Jüdischen Museum in Berlin durchziehen.
8 Zur konzeptuellen Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen turn und Wendung in den Kulturwissenschaften siehe Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, Hamburg 2006.