Es ist erfreulich, dass die Migrationsgeschichtsschreibung, die das seit 2015 stark gestiegene gesellschaftliche Interesse zunächst vor allem mit Überblicksdarstellungen und Essays bedient hat, inzwischen mit gewichtigen, konzeptionell innovativen und quellengestützten Monographien nachlegen kann.1 Hierzu gehört zweifellos die an der Universität Zürich entstandene Habilitationsschrift von Kijan Espahangizi. Die (Nicht-)Einwanderungsgesellschaft der Schweiz wird darin mit einem begriffs- und wissensgeschichtlichen Instrumentarium untersucht.
In der Einleitung postuliert Espahangizi, dass die Begriffe Migration und Integration „keinen unbefangenen historischen Analyse- und Deutungsrahmen mehr“ böten (S. 20), und stellt die leitende Frage, „ab wann Menschen anfingen, sich selbst oder andere als ,Migrantinnen und Migranten‘ zu bezeichnen und welche Bedeutungsverschiebungen und neuen sozialen Praktiken damit verbunden waren“ (S. 21). Explizit geht es um die sozialwissenschaftliche Migrationsforschung, ihre Konzepte, Theorien und Studien, ihre Verbreitung und Wirkmacht in der Gesellschaft. Die Quellen hierzu stammen aus 15 Archiven in der Schweiz, Deutschland und Frankreich sowie einer Reihe von Privatarchiven; neben gedruckten Materialien von Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen kommen rund 45 Interviews mit Zeitzeug:innen hinzu.
Die fünf Hauptkapitel der Arbeit sind chronologisch überlappend angelegt. Das erste Kapitel untersucht „soziologische Verschiebungen“ in den Jahren 1960 bis 1969. Zunächst ging es um Neudeutungen von „Assimilation“ als eines beidseitigen Annäherungsprozesses von „Schweizern und Ausländern“, doch da der Begriff weiterhin durch koloniale und fremdenpolizeiliche Prägungen belastet war, öffnete sich der Weg zum strukturfunktionalistischen Begriff „Integration“. Eine herausragende Rolle für diesen semantischen Wandel nahm der aus Deutschland zugezogene Soziologe Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny ein, der die Anwesenheit von „Ausländern“ als „zentrales funktionales Element in einer allgemeinen Theorie struktureller Spannungen in gesellschaftlichen Systemen“ sah (so Espahangizi, S. 77) und dies mit Überlegungen zur „Weltgesellschaft“ verknüpfte. Zugleich bietet das Kapitel eine auf originellen Quellenfunden beruhende Darstellung der Studien-Erfahrungen Hoffmann-Nowotnys und des Sozialhistorikers Rudolf Braun in den USA sowie des Soziologen Peter Heintz in Lateinamerika, die dort Diskussionen über Race, Minderheiten und globale Abhängigkeiten aufnahmen.
Das zweite Kapitel hat „politische Aufbrüche“ zwischen 1965 und 1981 zum Gegenstand. Im Blickpunkt stehen zivilgesellschaftliche Initiativen und Cluster, so das evangelische Studien- und Tagungszentrum Boldern, die „Mitenand“-Initiative, aber auch das wirtschaftsliberale „Komitee Schweiz 80“. Mit der Verankerung des Begriffs „Integration“ in der gesellschaftlichen Praxis konstatiert Espahangizi eine „Bifurkation politischer Debatten“ (S. 106): Die Solidarität mit der „Dritten Welt“ und das Engagement in der „Entwicklungshilfe“, die zum Teil auf weltgesellschaftliche Vorstellungen zurückgingen, rückten von einer binnenstaatlichen „Integrationspolitik“ weg. Den chronologischen Endpunkt des Kapitels markiert die Volksabstimmung am 4. April 1981, als die Forderungen der „Mitenand“-Initiative für eine liberalere „Ausländerpolitik“ mit 83 Prozent der Stimmen abgelehnt wurden.
Das dritte Kapitel diskutiert „ethnologische Verschiebungen“ in den Jahren 1976 bis 1991. Der Wandel „von einer ‚Sozio-Logik‘ zu einer ‚Ethno-Logik‘ der Migration“, wie Espahangizi es an anderer Stelle pointiert bezeichnet (S. 349), wird in großer argumentativer, transnationaler und disziplinärer Breite analysiert. Neben gesellschaftlichen Praxisfeldern, in denen schon früh kulturelle Faktoren als relevant anerkannt waren, etwa in Bezug auf Sozialisation, Schule und Bildung, steht vor allem der Wandel in der Ethnologie, die verstärkt die „eigene Gesellschaft“ und deren Umgang mit „Minderheiten“ in den Blick nahm. Ausführlich diskutiert Espahangizi das Konzept der kulturellen Differenz als Teil der Beschreibungssprache der Migrationsforschung, als Teil nationalstaatlicher Grenz- und Selektionspolitiken sowie als Forderung von Bürgerrechtsbewegungen nach dem „Recht auf kulturelle Andersheit“ (S. 162). Letzteres analysiert er anschaulich anhand kultureller Straßenfeste, deren Performanz ethnischer Vielfalt „letztlich deutungsoffen“ (S. 229) sei. So wie sich Espahangizi gegen pauschale Deutungsansätze eines „Othering“ oder kulturell definierten Rassismus wendet, so nimmt er aber auch das beliebte Selbstbild kultureller Vielfalt in der Schweiz, das sich auf Sprachregionen und Konfessionen bezieht, ins Visier. Treffend spricht er von der „Doppelstruktur einer sichtbaren offiziellen eidgenössischen Vielfalt und einer unsichtbar gemachten marginalisierten Vielfalt ‚der Anderen‘“ (S. 241).
Im vierten Kapitel über „globale Verschiebungen“ von 1983 bis 1993 stehen Flucht und Asyl sowie die Diskussion über eine „multikulturelle Gesellschaft“ im Fokus. Dabei gewannen strukturfunktionalistische Erklärungen für weltweite Ursachen von Migration wieder an Bedeutung, etwa in der Wissensproduktion des Schweizer Bundesamts für Statistik. Gegenüber den zahlreich präsentierten wissenschaftlichen und behördlichen Modellen, Berichten und Bevölkerungsszenarien verdient eine Diskussionsrunde im Schweizer Fernsehen (DRS) von 1992 hervorgehoben zu werden, als es zu einem Schlagabtausch zwischen dem deutschen CDU-Politiker Heiner Geißler als Befürworter einer „multikulturellen Gesellschaft“ und Schweizer Wissenschaftler:innen kam, darunter dem vielfach aktiven Hoffmann-Nowotny. Letzterer prägte die Vorstellung einer „neuen Völkerwanderung“, die an Weltsystem-Theorien anknüpfte, aber auch „Sorgen vor einer Invasion fremder, weniger entwickelter Kulturen“ abrief (S. 315). Hier zeigt Espahangizi deutlich die Schwierigkeiten einer vermeintlich „neutralen“ strukturfunktionalistischen Sicht auf Migration.
Das fünfte Kapitel identifiziert „institutionelle Verdichtungen“ von 1991 bis 2005 vor dem Hintergrund einer internationalen Angleichung der Statistiken und Debatten über Migration und Integration. Ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel dominieren wissenschaftliche und behördliche Dokumente die Darstellung, doch leuchten auch prägnante Praxisbeispiele auf, etwa die Aushandlung neuer Subjektivitäten in „Migrantinnen-Foren“ und anderen weiblichen Netzwerken. Scharfsichtig arbeitet Espahangizi die als schmerzlich empfundene Diskrepanz zwischen eigenem, oft höherem Bildungshintergrund und alltäglichen rassistischen Zuschreibungen heraus, aber auch den „schmalen Grat zwischen Empowerment bzw. ‚advocacy‘ für die eigene Peergroup und Abgrenzung gegenüber anderen, zwischen Solidarisierung und Entsolidarisierung“ (S. 413).
Das Fazit der Arbeit bietet eine Reflexion des eigenen Forschungsinteresses und familiärer Erfahrungen mit Migration. Letzteres zeigte sich auch in rund einem Dutzend Abbildungen aus dem „Familienarchiv Espahangizi“. (Der Vater des Autors emigrierte 1967 aus Iran in die Bundesrepublik; S. 437.) Das ist in seiner Transparenz beeindruckend, aber für die Rezension einer wissenschaftlichen Arbeit nicht ganz leicht, wenn sachliche und persönliche Ebenen so ineinander verwoben sind. Einige Diskussionspunkte seien dennoch angeführt. Die französischsprachige Schweiz ist punktuell mit Akteuren und Initiativen genannt, doch ist nicht ganz klar, ob deren Beitrag zur Schweizer Migrationsdebatte tatsächlich so marginal war oder ob dies an der arbeitsökonomischen Begrenzung der Studie liegt. Näheres Hinsehen verdient auch das Verhältnis von Quellen- und Analysesprache. Eine stetige begriffliche Reflexion über mehr als 400 Seiten konsequent zu leisten, ist eine Herausforderung. Es verwundert aber doch etwas, wenn ohne sprachliche Distanzierung von „Fremdarbeiterfrage“ (S. 82, S. 104, S. 192; in Anführungszeichen dagegen auf S. 145), „Wurzeln“ (S. 65) oder „Abstammung in dritter Generation“ (S. 52) die Rede ist. Konzeptionell relevant wird es, wenn Espahangizi sich gegen einen „menschheitsgeschichtlich überdehnten und naturalisierten Migrationsbegriff“ wendet (S. 442) und die Frage, wer Migrant bzw. Migrantin ist, eng an die Selbst- und Fremdbezeichnungen knüpft. Da diese in der Schweiz frühestens ab den 1980er-Jahren zu fassen sind, scheint die von der jüngeren Migrationsforschung erhobene Forderung, „migrantische“ Perspektiven stärker zu berücksichtigen, erst ab diesem Zeitpunkt anwendbar. Dies steht in gewissem Widerspruch zum Untersuchungszeitraum und zur Einleitung der Arbeit, wo im Einklang mit dem reflexive turn der Migrationsforschung postuliert wird, dass die „historischen Kategorien der Subjektivierung und Identifizierung […] ein zentraler Gegenstand der Migrationsgeschichte“ seien (S. 21). Letztlich werden in der Arbeit Selbstsichten und Selbstbezeichnungen von Migrant:innen (im analysesprachlichen Sinne) eher knapp behandelt; das Schwergewicht liegt auf dem Sprechen und Schreiben der Schweizer Wissenschaft, der Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen über Migration.
Wohltuend unaufgeregt im Duktus, positioniert sich Kijan Espahangizi klar und kritisch in den aktuellen Debatten der Migrationsforschung, die er am sorgfältig ausgearbeiteten Fall der Schweiz überzeugend zu historisieren und transnational zu kontextualisieren versteht. Das Werk bietet mit vielen bemerkenswerten und treffenden Analysen zugleich ein hervorragendes Fundament für eine europäisch vergleichende Migrations- und Wissensgeschichte.
Anmerkung:
1 Als Beispiele aus der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft seien genannt: Bettina Severin-Barboutie, Migration als Bewegung am Beispiel von Stuttgart und Lyon nach 1945, Tübingen 2019; Christoph Lorke, Liebe verwalten. „Ausländerehen“ in Deutschland 1870–1945, Paderborn 2020; mit wichtigen Kapiteln zu Migration und Ethnizität auch Christiane Reinecke, Die Ungleichheit der Städte. Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik, Göttingen 2021.