Dieses Buch, eine Sammlung von Aufsätzen von Gerald Stourzh aus gut einem halben Jahrhundert, ist Zeugnis einer wunderbar „altmodischen“, eindrucksvollen, umfassenden Gelehrsamkeit. Ein neuer autobiographischer Essay erklärt die ungewöhnliche thematische Breite der Essays. Sie behandeln Aspekte amerikanischer (18.-20. Jh.), österreichischer (19. und 20. Jh.) sowie transkontinentaler Geschichte (seit dem frühen 17. Jh.). Ihr Schwerpunkt liegt auf der politischen Ideengeschichte, sie beziehen aber auch Fragen der Struktur- und vor allem Kultur-, Rechts-, Institutionen- und Wirtschaftsgeschichte mit ein.
Der dritte Themenkomplex (Kap. 12-14) ist genuin transkontinentale europäisch-amerikanische politische Ideengeschichte. Ihr Verf. zieht Parallelen, vergleicht, fragt nach wechselseitigen transatlantischen Impulsen. Es geht um die Veränderungen im politischen Denken der letzten 200 Jahre, die in den USA (Kanada bleibt weitgehend ausgeblendet) und (West)Europa den Prozess des Überganges von hierarchischen Strukturen, die den Menschen in unveränderbare gesellschaftliche Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse einbinden, zu einer Kultur der Gleichheit hervorbringen und begleiten, des Überganges von „Status gradation“ zu „Status equalization“ (S. 294), das ist vor allem: zu einem Zustand gleicher Rechte. Stourzh analysiert die Entstehung einer Kultur der (Individual-)Rechte („culture of rights“), die im Laufe dieses Prozesses „fundamentalisiert“ und „konstitutionalisiert“ werden (S. 308 ff., S. 318 ff.), und die Zusammenhänge all dessen mit der Herausbildung des modernen liberalen Staates und der liberalen Demokratie. Tocquevilles Denken über Gleichheit hat für diese Entwicklungen bedeutende Erklärungsansätze geliefert (Kap. 14). Kap. 12 untersucht verschiedene Impulse, die diesen Wandel hervorgebracht haben, u.a. den christlichen Gedanken der Gleichheit vor Gott, der Statusdifferenzen unwichtig erscheinen ließ – aber, so ist zu ergänzen, mit dem vor allem im amerikanischen Puritanismus stark ausgeprägten Begriff des „calling“ sie zugleich rechtfertigte und zementierte.
Als wichtige Beiträge zur Herausbildung der spezifisch amerikanischen liberalen verfassungsbasierten Demokratie diskutiert Stourzh (S. 311ff.) insbesondere den Republikanismus: politische Teilhabe; den Föderalismus: der Bundesstaat kann als Rekursinstanz für den einzelnen Bürger dessen Rechte auch gegen die Einzelstaaten schützen; das Konzept der Normenhierarchie: die geschriebene Verfassung als „fundamental“ oder „paramount law“ ist der unmittelbare Ausdruck der souveränen originären Macht des Volkes, sie steht über dem einfachen Gesetz, denn der Gesetzgeber übt nur eine von jenem abgeleitete „delegierte“ Macht aus, deshalb können Gerichte („judicial review“) Gesetze als „null and void“ verwerfen, soweit sie der Verfassung widersprechen (Hamilton im Federalist 78, Marbury v. Madison 1803, vorbereitet von Vattel oder Otis,); und schließlich die „Konstitutionalisierung“ von Individualrechten, d.h. ihre Inkorporierung in jenes „paramount law“ der Verfassung (England dagegen kennt zwar fundamentale, aber keine konstitutionalisierten Individualrechte). – Die europäischen Beiträge zu diesem Prozess werden ausgiebig berücksichtigt (S. 324 ff.).
Stourzh verfolgt dieses Thema in Kap. 3 (im Abschnitt US-Geschichte) weiter (es würde deshalb eigentlich besser zur „transkontinentalen Geschichte“ passen). Er analysiert hier die Begriffs- und Wortgeschichte „constitution“ vom frühen 17. Jh. in England bis zum ausgehenden 18. Jh. in USA, ein verwirrender Weg, in den Stourzh viel Klarheit bringt: commonwealth, form/frame of government, constitution als “body politic”, als Beschreibung der Verfasstheit oder Beschaffenheit einer Gesellschaft, dann “laws of constitution“, die entsprechende Inhalte regeln, deshalb meist als „constitutions“ (Plural), schließlich „fundamental Constitutions (of Carolina/for Pennsylvania“), die dann während und nach der Revolution in das Konzept einer geschriebenen Verfassung, eines „fundamental“ oder „paramount law“, die bereits erwähnte Normenhierarchie, münden: „a constitution paramount to the government“ (Madison Federalist 53, zit. 99). – Das Desaster von Weimar beruhte ja u.a. darauf, dass man dort die beiden Arten von Macht gleich setzte und so der schleichenden Verfassungsänderung Tür und Tor öffnete.
Je eine Gruppe von Essays behandelt sodann Fragen primär anglo-amerikanischer und österreichischer Geschichte. Für den Rezensenten als (Nord)Amerikahistoriker ist die zweite Gruppe besonders interessant, weil sie ihm Neues erschließt und faszinierende Einblicke in eine politische Ordnung und kulturelle Welt gewährt, die, trotz aller Problematik, Beiträge zu einer relativ stabilen Ordnung in einer multi-ethnischen oder multi-nationalen Gesellschaft geleistet und ein reiches kulturelles – inzwischen versunkenes – Leben ermöglicht hat. Man lese parallel zu den Kapiteln 7 und 8 über die Bukovina die wunderbaren kulturhistorischen Städtebilder von Karl Schlögel über das kulturelle, d.h. vor allem jüdische Leben, die Rolle des Yiddischen, etwa in Czernowitz.
Stourzh analysiert dabei nüchtern-realistisch die Spannungen und Widersprüche in der alten Doppel-Monarchie: Einerseits tastet sich das rechtliche Gleichheitsprinzip der modernen liberalen Demokratie langsam voran. Kap. 9 demonstriert das an den emanzipierenden Wirkungen der Rechtsgleichstellung im Staatsgrundgesetz von 1867 für die jüdische Bevölkerung in vielen Lebensbereichen, in beiden Reichshälften, bis zu ihrer Beseitigung im Nationalsozialismus (Verbindung zum transatlantischen Komplex); andererseits forciert die zusätzliche Spannung zwischen dem kulturell und politisch offeneren „eigentlichen“ Österreich (Wien) und seinem imperialen Anspruch gegenüber der östlichen Reichshälfte die Neigung, Menschen nach ihrer ethnischen und nationalen Gruppenzugehörigkeit („Volksstamm“) zu sortieren. Das Problem „Ethnisierung der Politik“ (S. 153), heute „identity politics“, wird an der Sprachen- und Nationalitätenpolitik festgemacht.
Stourzh sieht die damalige österreichische Lösung durchaus skeptisch (Kap. 5 und 6): den Versuch einer Befriedung nicht durch territoriale (Gefahr „ethnischer Säuberungen“), sondern durch institutionelle Trennung (z.B. in den Schulen). Skeptisch weil der „Staatsbürger“ durch den „Volksbürger“ ersetzt wurde (S. 176). Die Habsburger Monarchie sei letztlich gescheitert an der zunehmenden Spannung zwischen abnehmender Problembewältigungskapazität ihrer politischen Institutionen und den zunehmenden inneren Spannungen und Widersprüchen, einschließlich jener, die sich aus den wirtschaftlichen Wachstumsfolgen ergaben (S. 146 f.)
Ein kulturhistorisch reiches Kapitel (Nr. 10) behandelt die Problematik der Konversion anhand so herausragender Figuren wie G. Mahler und K. Kraus. – Etwas aus dem Rahmen (dieses Bandes, nicht der Arbeitsbreite von G. Stourzh, er hat dazu das Standardwerk in mehreren Auflagen geschrieben) fällt das Kap. 11 über die Wiedergewinnung der österreichischen Souveränität nach dem 2. Weltkrieg mit der Verpflichtung auf die immerwährende Neutralität durch den Staatsvertrag in Verbindung mit dem Verfassungsgesetz von 1955.
Der erste der Amerika-historischen Beiträge (Kap. 1-4) deutet B. Franklin eher aus seinem pragmatischen, leicht pessimistischen Menschenbild denn als die übliche quintessentielle Verkörperung von Aufklärungsoptimismus und gewinnt ihm dadurch interessante sehr menschliche Züge ab. Auch hier der Topos „Gleichheit“ (S. 54-56); Franklin nimmt den (o. erw.) Gedanken von „government“ und “representatives“ als „trustee of the people“ bzw. deren bloße Machtdelegation an erstere vorweg (S. 58). – Kap. 2 beleuchtet die Bedeutung des „Tory“ oder Positivisten („bloßen Kompilators“) William Blackstone, vielleicht vor Locke, für die Ausformung (in den späteren USA) des Gedankens eines Naturrechts auf Revolution gegen den Monarchen, der seine Pflichten aus dem wechselseitigen Schutz- und Unterwerfungsvertrag mit „the people“ durch „public oppression“ verletzt hat und deshalb vom Volk vertrieben werden kann – in der Form der „Abdankung“ nach dem Vorbild der Glorious Revolution.
Wenn der Rezensent am Kap. 4 über Charles Beard’s Außenpolitik weniger Gefallen findet, so nicht weil die intellektuelle Leistung des Verfassers hier geringer einzuschätzen wäre – einfach deshalb weil angesichts der mehr als 50 Jahre seit dem Erscheinen der Arbeit und der abnehmenden Bedeutung Beards das Interesse an seinem Weg vom New Deal-Anhänger und liberalen Internationalisten zum FDR-Kritiker und („Neo“-) Isolationisten an Aktualität verloren hat.
Einige Abschnitte aus Teil III gehören systematisch wiederum zum Amerika-Teil I. So fragt Stourzh (S. 321ff.), warum Verfassungsstreitigkeiten um den Schutz indivi-dueller Rechte in den USA trotz eines wachsenden „kulturellen Relativismus“ und schwindender Bindungswirkung „moralischer Normen“ besonders - aber eigentlich überhaupt erst - im 20.Jh. und nach 1945 ein „major feature of America’s ‚culture if rights’“ geworden seien (S. 322). Für die historischen Wurzeln der breiten institutionellen und emotionalen Unterstützung für den Supreme Court sei noch auf das Buch von S. Levinson: verwiesen: Constitutional Faith 1988. Man könnte hier ergänzen: Die Verdichtung der sozialen Verhältnisse infolge Urbanisierung und Industrialisierung seit dem späten 19. Jh. haben zu mehr staatlichen Maßnahmen und daraus resultierenden Konflikten geführt, die den Bedarf an Verfassungsrechtsschutz steigen ließen.
Ein faszinierendes, intellektuell stimulierendes Buch für Historiker und neugierige Laien mit Interesse an USA, Österreich/Osteuropa und transatlantischen geistigen Austauschprozessen.