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Title
The NGO Moment. The Globalisation of Compassion from Biafra to Live Aid


Author(s)
O'Sullivan, Kevin
Published
Extent
300 S.
Price
£ 22.99
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Lia Börsch, Professur für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, Universität Freiburg

Nichtstaatliche Akteure wurden in der historischen Forschung lange Zeit eher nachgeordnet behandelt. Seit den Fragestellungen nach einer „Global Community“1 haben Studien zu Nichtregierungsorganisationen (NGOs) jedoch zugenommen. Bisher spielen sie besonders in globalhistorischen Untersuchungen und Forschungen zum Humanitarismus eine Rolle sowie in der Menschenrechtsgeschichtsforschung.2 Die Mehrzahl der Studien stellt dabei einzelne Organisationen ins Zentrum der Analyse. Deutlich seltener sind Versuche, eine problembezogene Geschichte mehrerer Organisationen über einen längeren Zeitraum hinweg zu schreiben.3 Hier setzt die Studie von Kevin O’Sullivan an.

O’Sullivan untersucht die Geschichte westlicher Entwicklungshilfe sowie humanitärer NGOs vom Nigerianischen Bürgerkrieg 1967 über die Flüchtlingskrise in Südasien Anfang der 1970er-Jahre, im Kontext der Formulierung der UN-Deklaration zum „Establishment of a New International Economic Order“ (NIEO) von 1974 bis zur Hungerkrise in Äthiopien 1984. Diese Phase begreift O’Sullivan als „NGO-Moment“ und sieht darin eine entscheidende Entwicklungs- und Transformationsphase nicht-gouvernementaler Hilfe, bei der NGOs vor dem Hintergrund eines Wandels der Beziehungen westlicher Gesellschaften zur „Dritten Welt“, zu einem Vehikel für westliches Mitgefühl verbunden mit einem gewissen Maß an Verantwortungsgefühl gegenüber der Wahrung von Freiheitsrechten wurden. Innerhalb dieses Prozesses habe sich der Sektor von dem Label der reinen Wohltätigkeitsverbände gelöst und NGOs stiegen zu Experten für Hilfeleistungen und gefragten Kooperationspartnern in der Durchsetzung internationaler politischer Programme und in der Folge zu prominenten Akteuren in der internationalen Politik auf. O‘Sullivan untersucht, wie diese Transition zu erklären ist. Hierfür analysiert er die Praktiken britischer, irischer und kanadischer Organisationen, dabei neben War on Want, Christian Aid, Oxfam und Save the Children die regionalen kanadischen Organisationen der beiden letztgenannten sowie die irische Organisation Concern.

In vier Abschnitten geht der Autor dem Transformationsprozess nach, der immer wieder sowohl von lokalen Einflussfaktoren als auch von globalen Zusammenhängen geprägt war. Aus der Dekolonisierung entstanden für NGOs neue Zugangsmöglichkeiten, indem sie auf bereits etablierte Infrastrukturen zurückgreifen konnten. Hierbei konstruierten sie anhand der Sprache einer „scientific rationality“ ein auf universellen Bedürfnissen basierendes Modell der Intervention. Über die Ausweitung des Hilfsverständnisses von punktueller Katastrophenhilfe zu Entwicklungshilfeprojekten längerer Dauer, entstand vor Ort eine Form der „Aid Community“, welche die langfristige Rolle der NGOs festigte. Ende der 1960er-Jahre war für den Wandlungsprozess von NGOs das Aufkommen einer neuen Generation von Helfern entscheidend, die traditionelle Vorstellungen von „Hilfe“ in Frage stellten und in der Beseitigung globaler Ungleichheit den Ansatzpunkt für ihr Engagement sahen. Auseinandersetzungen über die NIEO von 1974 führten zur Verortung des Sektors in reformerischen statt revolutionären Ansätzen und es gelang, eine Vielzahl politischer Stimmen in die NGO-Bewegung aufzunehmen. Stark wurde die neue politische Prominenz außerdem befördert durch einen Wandel im Entwicklungshilfeverständnis politischer Entscheidungsträger zu Beginn der 1970er-Jahre. NGOs erhielten fortan eine bedeutende Rolle in Programmen westlicher Regierungen. O‘Sullivan beschreibt die Verbindung zwischen Staaten und NGOs als eine „close yet distanced relationship“, in der die Organisationen mehr Umsetzungsmöglichkeiten ihrer eigenen Programme erhielten und parallel Staatsinteressen durchsetzten. Wandlungsprozesse in den westlichen Gesellschaften beeinflussten schließlich auch das Aufkommen eines „populist Humanitarianism“. Weiterhin spielten Spannungen im Rahmen des Ost-West-Konflikts für den Entwicklungsprozess eine Rolle. Um diese zu umgehen, plädierten NGO-Vertreter während der Krise in Bangladesch für ein Modell der Intervention mit einem auf essenzielle Bedürfnisse fokussierten Konzept, losgelöst von „der Politik“. Auf diese Weise gelang die oftmals nicht unproblematische Zusammenarbeit mit postkolonialen Regierungen, die wiederum zur Währung für die Überzeugung westlicher Unterstützer wurde. In Kambodscha erreichte Oxfam 1979 als erste NGO ein Abkommen über Hilfslieferungen mit der Regierung in Phnom Penh, worüber der NGO wiederum besondere Aufmerksamkeit unter westlichen Beobachtern zukam.

O‘Sullivans NGO-Geschichte liest sich als ein Beschleunigungs- und Verdichtungsprozess, der seinen Endpunkt in den 1980er-Jahren in der breiten Popularisierung von NGO-Arbeit in westlichen Gesellschaften erreichte. Die einzelnen Etappen dieser Beschleunigung kann der Autor überzeugend darlegen. O’Sullivan verfolgt bei alledem eine ausgewogene Darstellung. Zwar seien NGOs oftmals eher Mitläufer als Anführer internationaler Debatten gewesen und hätten zu den Profiteuren der Änderungen des internationalen Systems gehört; dennoch dürfe man sie nicht als passive Akteure von Globalisierungsprozessen begreifen. Ihre Aktionen halfen, das System zu formen. Ferner seien sie keine reinen politischen Funktionsinstrumente, vielmehr habe sich eine starke Allianz aus NGOs und Geldgebern gebildet. Gleich zu Beginn widmet sich O’Sullivan aber auch der komplexen Verflechtung zwischen imperialen Vorstellungen von Wohltätigkeit und der Entwicklung der von den NGOs angewandten Praktiken. Die Annahme, dass NGOs in Biafra intervenieren sollten, sieht er verknüpft mit einer paternalistischen Vision von Hilfe. Im Folgenden verdeutlicht O’Sullivan immer wieder Reflexionsprozesse und Richtungswechsel in den Organisationen selbst. Einige Änderungsprozesse waren ferner von den Akteuren in der „Dritten Welt“ geprägt, erkennbar an den Einflüssen lokaler Aktivisten auf die NGO-Praktiken in El Salvador. Der NGO-Sektor war demnach „not simply a legacy of empire and rearranging colonial patterns of a decolonized world, it was also a rejection of imperialism and a product of anti-colonial activism“ (S. 181).

O’Sullivan hat eine klug argumentierende NGO-Geschichte vorgelegt, in der er die Entstehung des NGO-Sektors anhand einzelner Entwicklungsmomente in größere historische Prozesse von den 1960ern bis in die 1980er-Jahre einbettet und zudem aus breiter geographischer Perspektive in den Blick nimmt. Gleichzeitig setzt er die Praktiken und Handlungsmaxime immer wieder in Beziehung mit früheren Phasen zivilgesellschaftlichen Handelns, wie der Anti-Sklaverei-Bewegung, dem Internationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts oder imperialen Vorstellungen von Nächstenliebe. Dies ist besonders interessant vor dem Hintergrund, dass in den vergangenen Jahren in Forschungsdebatten Fragen der Periodisierung innerhalb des 20. Jahrhunderts und die Bedeutung länger zurückreichender Traditionslinien eine entscheidende Rolle gespielt haben. Bei O’Sullivan entsteht somit trotz der hervorgehobenen Bedeutung des „NGO-Moments“ am Ende ein Geschichtsbild, in dem historische Kontinuitäten moralischer Rahmenmuster in den Praktiken nicht-staatlichen Handelns auch weit über den Untersuchungszeitraum hinaus erkennbar werden. Eine Reihe von Erkenntnissen, wie die Bedeutung der Krise in Biafra oder jene der Hungerkrise in Äthiopien sowie Professionalisierungsprozesse von NGOs oder deren Popularisierung auf breiter gesellschaftlicher Basis in den 1980er-Jahren, sind nicht ganz neu.4 Auch fällt es leicht, je umfassender Studien angelegt sind, auf Auslassungen hinzuweisen. So spielt die französische Organisation Médecins sans frontières, die eine Reihe von Debatten prägte, nur vereinzelt eine Rolle. Die Bedeutung der Medienbeziehungen wird mehrfach hervorgehoben, die Zusammenarbeit zwischen Medien und NGOs sowie die medialen Berichterstattungen jedoch nicht gezielt untersucht. Der Einbezug einer NGO aus dem postkolonialen Raum hätte zu einer noch breiteren Untersuchungsperspektive beigetragen. Die NGO-Geschichte ist demnach noch lange nicht erschöpft, aber mit Kevin O’Sullivans Studien liegt nun ein weiterer gewichtiger Beitrag dafür vor.

Anmerkungen:
1 Akira Iriye, Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley 2004.
2 Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 2015; Barbara J. Keys, Reclaiming American Virtue. The Human Rights Revolution of the 1970s, Cambridge, Mass. 2014.
3 Matthias Kuhnert, Humanitäre Kommunikation. Entwicklung und Emotionen bei britischen NGOs 1945–1990, Berlin 2017; Nick J. Crowson / Matthew Hilton / James McKay (Hrsg.), NGOs in Contemporary Britain. Non-State Actors in Society and Politics Since 1945, Basingstoke 2009; Matthew Hilton / Jean-François Mouhot (Hrsg.), The Politics of Expertise. How NGOs Shaped Modern Britain, Oxford 2013.
4 Lasse Heerten, The Biafran War and Postcolonial Humanitarianism. Spectacles of Suffering, Cambridge 2019; Eckel, Ambivalenz des Guten, S. 423–434; Benjamin Möckel, The Material Culture of Human Rights. Consumer Products, Boycotts and the Transformation of Human Rights Activism in the 1970s and 1980s, in: International Journal for History, Culture and Modernity 6 (2018), S. 76–104; Florian Hannig, Am Anfang war Biafra. Humanitäre Hilfe in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 2021.

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21.04.2023
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