Die Aleviten, zuvor in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, traten in der Türkei und der deutschen Diaspora seit Ende der 1980er-Jahre verstärkt nach aussen und begannen ihre Anerkennung als legitime religiös-kulturelle Gemeinschaft, die sich stark vom sunnitischen Islam unterscheidet, einzufordern. Seitdem haben sich Aleviten auf nationaler und internationaler Ebene organisiert, und sind mittlerweile auch einer deutschen Öffentlichkeit – zumindest vage - bekannt.1 Der von dem Anthropologen Martin Sökefeld herausgegebene Band ist der erste wissenschaftliche Sammelband der sich gezielt mit den Aleviten in Deutschland befasst, das Alevitum in Deutschland aus kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven umfassend beleuchtet, und somit einen wichtigen Beitrag zur türkischen Migrationsgeschichte in Deutschland leistet. Der Band umfasst inklusive der Einleitung acht Kapitel, ein (mit zwei Seiten etwas kurz geratenes) Glossar, sowie Autorenbeschreibungen.
Wie der Herausgeber, selbst einer der besten Kenner der Aleviten ın Deutschland, in seiner Einleitung, die einen konzisen Überblick über die Geschichte der alevitischen Bewegung in Deutschland bietet, betont, ist es Anspruch des Bandes, “eine Bestandsaufnahme der alevitischen Bewegung in Deutschland und ihrer Konsequenzen” zu bieten. Dies ist meines Erachtens im Wesentlichen auch gelungen. Der inhaltliche Schwerpunkt der Beiträge liegt, basierend auf ethnographischen Studien, auf Fragen alevitischer Identitätsbildung im Kontext von Migration und religiös/kulturell/politischer Abgrenzungsprozesse gegenüber Sunniten und deutscher Mehrheitsgesellschaft. In der Einleitung verortet Sökefeld diese Zusammenhänge kompetent und hilfreich - speziell für eine mit der Materie nicht vertraute Leserschaft - in ihren deutschen und transnationalen Zusammenhängen, und führt in dominante Themen alevitischer Identitätsbildung ein. Es folgt ein Kapitel von Béatrice Hendrich, das sich anhand von Einzelinterviews mit alevitischer Erinnerungskultur beschäftigt. In den vorgestellten Interviews werden Themen alevitischer Geschichte, Migrationserfahrungen, und das Leben in Deutschland subjektiv gedeutet und anschaulich gemacht. Der Vorteil der biographischen Mikroanalyse ist, dass sie eine Pulsmessung alevitischer Sensibilitäten jenseits der stark ideologisierten öffentlichen Diskurse über alevitische Identität ermöglicht. Jedoch erlaubt Hendrich’s Auswertung dieser an sich interessanten Beschreibungen aufgrund des geringen Umfangs (vier Interviewpartner als Grundlage der Analyse) nur bedingt allgemeine Schlussfolgerungen. Eines der Schmuckstücke des Bandes ist der ausführliche Beitrag von Robert Langer über alevitische Rituale im Kontext von Migrations- und Urbanisierungsprozessen. Der Beitrag veranschaulicht am Beispiel sich verändernder Ritualpraktiken die Dynamiken zwischen Dorf und Stadt sowie zwischen Herkunftsland und deutscher Diaspora, und beleuchtet die Rolle alevitischer Rituale – und speziell deren zunehmende Standardisierung - in der (Neu-)Bestimmung alevitischer Identität. Darüber hinaus bietet Langer einen hervorragenden Überblick über alevitische Ritualformen, der auch für Spezialisten hilfreich ist. Ein weiterer interessanter Beitrag ist die Medienanalyse von Kira Kosnick, die alevitische Programme im Offenen Kanal Berlin untersucht. Wie auch in anderen Beiträgen wird hier deutlich wie sehr die (Neu-)Bestimmung alevitischer Identität durch Abgrenzungsprozesse gegenüber sunnitıschen Muslimen und deutschem Umfeld geprägt ist. Wie Kosnick zeigt, kann die Darstellung des Alevitums als eines „alternativen“, mit privatisierter, deutscher Religionskultur leicht zu vereinbarenden Islam dabei auch zu einer Verstärkung anti-islamischer Vorurteile beitragen (126f.). In ihrer Analyse argumentiert die Autorin des weiteren überzeugend gegen die von einem statischen Kulturbegriff ausgehende These, dass sich türkische MigrantInnen, und als solche auch AlevitInnen, strukturbedingt in einer Identitätskrise befänden, weil angeblich weder in türkischer noch in deutscher Kultur richtig zuhause.
Dass die Erforschung von Identitätsprozessen einen dynamischen Identitäsbegriff erfordert zeigen auch die folgenden Kapitel von Hülya Taşcı und Halil Can, die sich schwerpunktmässig mit der Situation der zweiten, respektive dritten Generation türkeistämmiger Aleviten in Deutschland befassen. Taşcı’s Beitrag analysiert Interviews mit AlevitInnen der zweiten Generation in Bezug auf sprachliche, ethnische, und religiös-weltanschauliche Grenzziehungsprozesse innerhalb sich differenzierender alevitischer Identitäten.
Can’s Fokus ist spezifischer, und thematisiert am Beispiel einer über mehrere Jahre angelegten Drei-Generationen Studie sich in Relation zu biographischen Einschnitten verschiebende Identitätskonstruktionen – hier mit dem Fokus auf der dritten Generation. Die Studie gibt Einblick in die beeindruckende Differenz und das gleichzeitige Nebeneinander von extrem unterschiedlichen Positionen zum Alevitum innerhalb der untersuchten zaza-alevitischen Familie: Atheismus findet sich hier neben traditioneller Frömmigkeit, und es zeigt sich eindruckvoll die Dynamik alevitischer Identitätsbildung, insbesondere auch, wie sehr sie reaktiv gegenüber Erfahrungen der Ausgrenzung und Diskriminierung von sunnitischem als auch deutschem Umfeld angelegt ist. Der nachfolgende Beitrag des Herausgebers geht auf das wichtige Thema der Positionierung des Alevitums zum Islam ein und benennt und kontextualisiert hierzu unterschiedliche Positionen (die sich von Deutungen, die das Alevitum als “wahren Islam” definieren, bis hin zu Deutungen, die darum bemüht sind, Bezüge zum Islam gänzlich zu vermeiden, erstrecken). Während ich mit der deskriptiven Beschreibung des Autors übereinstimme, bin ich der Meinung, dass die Frage der Beurteilung des Alevitums in Bezug auf sein Verhältnis zum Islam auch erfordert, die in deutschen und türkischen Diskursen dominanten Begriffe von Religion und Islam selbst mit in die Analyse einzubeziehen. So sollte zum Beispiel nachgefragt werden weshalb es so selbstverständlich erscheint, das Alevitum über Begriffe von Religion und Islam zu definieren und was diese Definition selber bewirkt. Zwar verweist Sökefeld hier und in seinen anderen Arbeiten durchaus auf den Einfluss bestimmter Religions- und Identitätsdiskurse auf alevitische Identitätsbildungsprozesse, jedoch sollte die Diskussion auch die Frage der Folgen einer Beurteilung des Alevitums über den Vergleich mit einem implizit als Maßstab gesetzten Islam- und/oder Religionsbegriff miteinbeziehen. Generell bin ich der Auffassung, dass in der Kontextualisierung des Alevitums zu schnell bestimmte Stereotypen der Darstellung relativ unkritisch übernommen werden (zum Beispiel Thesen bezüglich der alevitischen Geschichte als Leidensgeschichte und die befreiende Wirkung der Republik), und auch der normierenden Wirkkraft der Begrifflichkeit, mit der das Alevitum beschrieben wird (zum Beispiel als „heterodox“ und „synkretistisch“), zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der letzte Beitrag des Bandes, verfasst von David Shankland und Atila Çetin, gibt nochmals einen generellen Überblick über die Aleviten in Deutschland und Transformationsprozesse im Zuge von Migration- und Postmigrationserfahrungen. Im Zusammenhang des vorliegenden Bandes ist dieser Beitrag relativ generell angelegt und liest sich fast wie eine Zusammenfassung.
Der Band ist interessant nicht nur für ein in dem Thema Alevitum in Deutschland schon belesenes Publikum, sondern kann durchaus auch als Einstiegsliteratur dienen. Er liefert einen wichtigen Beitrag zur Islam- sowie Migrationsforschung in Deutschland, und wird zweifelsohne wohl aufgenommen werden. Was bei der Gesamtbetrachtung vor allem der anthropologischen Studien ersichtlich wird, ist, wie sehr die beschriebenen Prozesse alevitischer Identitätsbildung nicht nur von der Auseinandersetzung mit primär türkischstämmigen Muslimen sondern, in der Regel weit weniger beachtet, auch von der Auseinandersetzung mit einer deutschen Mehrheitsgesellschaft geprägt sind, in der Aleviten entweder (als Türken und Muslime wahrgenommen) ähnliche Erfahrungen der Ausgrenzung und Diskriminierung wie türkischstämmige Muslime machen, oder aber im Gegensatz zu letzteren als “bessere Muslime” (weil demokratisch/liberal/säkular/modern) idealisiert werden. In anderen Worten, der Band macht deutlich, wie sehr die “alevitische Frage” in Deutschland auch zu einer deutschen Frage geworden ist und wie sehr alevitische Identitätsbildung reaktiv auf religiöse und kulturelle Vorurteile der deutschen Mehrheitsgesellschaft reagiert, gegenüber denen sich alevitische Einzelpersonen sowie Verbände positionieren müssen. Indem er die Wirkung von Ausgrenzungserfahrungen von Aleviten thematisiert, hält der Band somit auch der deutschen Gesellschaft einen kritischen Spiegel vor, der manche zum Nachdenken anregen mag.
Anmerkung:
1 Cirka 10-15 % der Bevölkerung der Türkei sind alevitischer Abstammung, davon ca. zwei Drittel Türkisch- und ein Drittel Kurdischsprachig (unter den kurdischen Aleviten ist des weiteren zwischen Zaza- und KurmancisprecherInnen zu unterscheiden). In Deutschland leben schätzungsweise ca. 300-500.000 Menschen mit alevitischem Hintergrund.