"China and the Global Politics of Regionalization", herausgegeben von Emilian Kavalski, Dozent für Politik und Internationale Beziehungen an der University of Western Sydney, ist eine Sammlung von insgesamt fünfzehn Texten, die laut Einleitung Denkanstöße für eine neue wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der chinesischen Außenpolitik im Allgemeinen und mit dem Phänomen eines neuen von China praktizierten Regionalismus im Besonderen bieten sollen. Kavalski betont die Notwendigkeit einer Distanzierung von hegemonialen Sicht- und Herangehensweisen, sowie den Bedarf einer entsprechend angepassten, also „neuOrientierten (reOriented)“ Sprache der Internationalen Beziehungen (International Relations, IR) (S. 4). Als möglichen Ausweg aus der bisherigen, eingeengten Perspektive eines einzigen westlichen Modells der Regionalisierung nennt er den Analyseansatz der praxisorientierten Gemeinschaft (Community of practice) in Verbindung mit dem Konzept der internationalen Sozialisierung (international socialization), und weist auf dessen erfolgreiche Umsetzung in den Beiträgen des vorliegenden Bandes hin.
Um das konstatierte Defizit nicht-westlicher IR-Theorien (S. 3) auszugleichen und eine geeignete Kontextualisierung der im zweiten Teil des Bandes vorgestellten Fallbeispiele für von China ausgehende Regionalisierung zu gewährleisten, sind die Beiträge in Kapitel 2 bis 8 historischen, politikwissenschaftlichen und vergleichenden Hintergrundstudien gewidmet.
In Hinsicht auf historische Erklärungs- oder Deutungsansätze argumentieren die Beiträge durchaus unterschiedlich. Feng Zhang versucht in seiner Untersuchung der frühen Ming-Zeit über das „Tributsystem-Paradigma“ und die Prämisse einer rein konfuzianisch geprägten Grundhaltung hinauszugehen (S.20) und kommt zu dem Schluss, dass das so entstehende geschichtliche Bild einer Kombination aus Sozialisierung und Konfrontation zwar interessante Perspektiven eröffnet, aber keine direkten Rückschlüsse auf eine zukünftige Entwicklung der chinesischen Außenpolitik zulässt (S. 29). Shen Ding hingegen spricht im Titel seines Beitrags von einer „Verdeckten Regionalisierung ohne historische Wurzeln“, von einer historischen Tendenz zum Isolationismus (S. 35) und vom Fehlen eines jeglichen Regionalismus vor Reform und Öffnung.
Jeremy Paltiel und Yuan Jing-dong kommen aus ihren unterschiedlichen Blickwinkeln des Multilateralismus1 und des Nationalismus zu einem ähnlichen Ergebnis bezüglich der Motivation der chinesischen Außenpolitik, die nach Ansicht beider Autoren in erster Linie nach innen, also auf den Erhalt des Legitimationsanspruchs in der Volksrepublik China (VRC) selbst gerichtet ist (S. 58, S. 68). Insgesamt wird die bereits in der Einleitung als einer von vier dynamischen Aspekten der Außenbeziehungen identifizierte Verbindung zwischen außen- und innenpolitischer Entwicklung (S. 9) aber nur an wenigen Stellen des Buches ausführlich hergestellt. So verweist beispielsweise Zhang Yongjin auf den Einfluss der Globalisierung bzw. einer mit ihr einhergehenden kapitalistischen „hegemonialen Weltwirtschaftsordnung“ (S. 130) auf die Entwicklung des chinesischen Staates und seiner Institutionen.
Der Kontextteil des Sammelbandes schließt mit zwei vergleichenden Studien zum chinesischen Regionalismus. In Greg Andersons Text erfolgt der Vergleich mit den USA aus der Perspektive der internationalen Handelspolitik und ihrer wichtigsten Institutionen. In David Scotts Beitrag wird die EU nicht selbst als Regionalisierungsmodell, sondern vielmehr ihre Vernetzungsstrategie mit anderen Regionen der Welt als Vergleichsgegenstand herangezogen. Scott geht hier, ähnlich wie auch Paltiel und Yuan, bereits konkret auf einzelne regionale Beispiele ein, wodurch schon vorab ein Vergleichsrahmen für die in den Einzeldarstellungen des zweiten Teil des Sammelbandes getroffenen Aussagen zum chinesischen Engagement in Ostasien, Südostasien, Zentralasien, Afrika und Lateinamerika geschaffen wird.
Umgekehrt beinhalten auch die Regionen-spezifischen Beiträge jeweils eine starke historische Komponente. Yongjin Zhang hält gleich zu Beginn seines Beitrags zu China und Ostasien fest, eine durch konfuzianische Kultur und Tributsystem geprägte „chinesische Weltordnung“ (S. 125) sei zwar von den betroffenen Völkern oder Ländern nie als Region wahrgenommen und der Begriff Ostasiens von außen an sie herangetragen worden, die gemeinsame historische Erfahrung präge aber bis heute Identitäten und kulturelles Erbe in Ostasien - wenngleich nicht immer als einender, sondern durchaus auch als auch trennender Faktor (S. 126). Auch Kavalski verweist in seinem Text zu „Chinas Regionalisierung des afrikanischen Kontinents“ auf die oft nicht ausreichend beachtete Vorgeschichte einer „dogmatischen“ Phase der chinesischen Afrikapolitik in den 1950er- und -1960er-Jahren, die er jedoch klar von einer „pragmatischen Effizienz“ der späteren Entwicklung abgrenzt. Seine positive Einschätzung, die chinesische Regionalisierung Afrikas könne als „Geschichte einer nicht-westlichen Emanzipation (non-Western narrative of emancipation)“ (S. 188) gelesen werden, wird jedoch durch den abschließenden Aufruf zum fortgesetzten Abgleich diskursiver und anderer außenpolitischer Praktiken Chinas relativiert. Mit Vorsicht nähert sich auch Ralph Pettman dem chinesischen Engagement in Südostasien seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, indem er es gleichzeitig aus einer pessimistischen, einer optimistischen und einer interaktivistischen Perspektive beleuchtet und eine abwartende Haltung hinsichtlich einer Bewertung als chinesischer Regionalismus einnimmt.2
Neben den bisher genannten etablierten Beispielen für Regionalisierungsprozesse mit starkem Chinabezug enthält der Band auch drei Texte zu bisher weniger intensiv beforschten Fällen eines regionalpolitischen Engagements der VRC. Es sind dies Carrie Liu Curriers and Manochehr Dorrajs Beitrag zu einer auf dem gemeinsamen Widerstand gegen US-amerikanische Hegemonie und den gleichen energiepolitischen Überlegungen basierenden „community of practice“ im Nahen Osten, ein Text zu Chinas neuer Rolle in der Region des Süd-Pazifik von Jiang Yang, sowie eine Analyse der Wirtschaftsbeziehungen und militärischen Dynamik zwischen China und Lateinamerika von Julie M. Bunck.3 In den zwei letztgenannten Fällen rückt das außenpolitische Ziel einer diplomatischen Marginalisierung Taiwans ins Blickfeld. Die Annäherung und Kooperation zwischen der Volksrepublik China, Taiwan und Hong Kong hingegen wird im vorliegenden Band nicht als spezielle Form einer regionalen Vernetzung behandelt.4
Einige der Ergebnisse, zu denen die Autoren dieses Bandes kommen, entsprechen durchaus andernorts publizierten Erkenntnissen in Bezug auf Chinas Außenpolitik. Was die von ihnen verfassten Beiträge interessant macht, ist teilweise weniger, was sie dem Leser mitteilen, sondern wie sie dies tun. Wenn Stephen Aris die Praxis der „Shanghai Cooperation Organization“ mit dem erfolgreichen Modell einer „chinesisch inspirierten Vorstellung einer Wissensgemeinschaft (Chinese-inspired sense of shared knowledge)“ (S. 163) gleichsetzt, führt dies unweigerlich zur Überlegung, Chinas Sprache der internationalen Beziehungen könne eines Tages die bisher übermächtige Sprache des Westens im „globalen Stimmengewirr (cacophony of global voices)“ (S. 16) ersetzen. Und trotz Emilian Kavalskis Hinweis, der von ihm herausgegebene Band solle nicht als Argument für die Existenz eines alleinigen Modells der nicht-westlichen Regionalisierung, sondern vielmehr als Plädoyer für eine neue Pluralität in der IR-Theorie gelesen werden, stellt sich am Ende der Lektüre doch die Frage, ob die von ihm beschworene „Welt ohne den Westen (world without the West)“ (S. 3) auch tatsächlich eine Welt ohne Hegemonialmacht sein kann und wird.
Anmerkungen:
1 Die Nähe der Themenbereiche Regionalismus und Multilateralismus wird im Band von Wu, Guoguang / Helen Lansdowne (Hrsg.), China turns to multilateralism. Foreign policy and regional security, London 2008, in dem sowohl Paltiel als auch Yuan veröffentlicht hat, erkennbar.
2 Weniger verhalten scheint Pettmans Aussage, China habe „1949 die Unabhängigkeit erlangt“ (S. 151), die in dieser Form zu hinterfragen ist. Zu ergänzen wären seine Ausführungen auch dahingehend, dass die chinesische Abstammung beträchtlicher Teile der südostasiatischen Bevölkerung eine im Bereich der IR oft unterschätzte Relevanz für die kulturelle und wirtschaftliche Verbindung zwischen China und Südostasien besitzt.
3 Dass das Forschungsfeld China in Lateinamerika im Wachsen begriffen ist, geht nicht zuletzt aus einer Sondernummer der Zeitschrift China Quarterly mit 10 Aufsätzen unter dem Titel „From the Great Wall to the New World“ (CQ 209 [March 2012]) hervor.
4 Eine solche Betrachtungsweise wäre geeignet, die mehrfach kolportierte Ansicht, China sei in den 1990er-Jahren eine Regionalmacht ohne Regionalpolitik gewesen, zu widerlegen.