Unter den vielen Büchern über die Demokratie ragt die „deep history“, die David Stavasage anbietet, heraus. Zwar arbeitet der Politikwissenschaftler am liebsten mit „Datenmaterial“, selbst für die ältesten Zeiten menschlicher Zivilisation, die er in seine Analyse einbezieht. Quellenkritik ist sein Geschäft nicht, doch es wäre kleinlich, ihm das vorzuhalten. Die Stärken des Buches liegen darin, idealtypisierende und differenzierende Zugänge so zu verzahnen, dass Leser*innen lernen, in der longue durée demokratische von autokratischen Herrschaftsformen zu unterscheiden und (Dis-)Kontinuitäten zu verstehen.
Stasavages Demokratiegeschichte profitiert von der großen Zeitspanne und der globalen Ausrichtung, wobei sie keine „global history“ im heutigen Sinne darstellt. Das Buch handelt weniger von Vernetzungen und Verbindungen, sondern davon, wie sich Herrschaftsverbände in der ganzen Welt seit den Urzeiten der Geschichte politisch verwalteten. Konsequent werden „prähistorische“, vorkoloniale oder vormoderne Herrschaftsformen pointiert in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden beschrieben. Mehr als ein Nebeneffekt, sondern geradezu Telos der Darstellung ist die Provinzialisierung Europas als Tempel der klassischen westlichen Demokratieerzählung (samt ihrer fundierenden Texte). Nicht mehr nur die attische, sondern auch und vor allem tribale Demokratien in Afrika, Asien und den Amerikas begegnen im ersten Teil des Buches. Stasavage nennt sie alle „early democracies“ und hält sie für eine Art Normalfall menschlicher Herrschaftsorganisation. Demokratie, so seine provokante These, „comes naturally to humans“ (S. 25), müsse aber hergestellt werden (stelle sich also nicht von alleine ein). Ziel seines Buches ist es einerseits, darzulegen, wieso Demokratie welthistorisch gesprochen so eine wahrscheinliche Form des Regierens darstellte, und andererseits zu erklären, warum sich dann die moderne Demokratie zuerst in Europa und den Vereinigten Staaten entwickelte, obwohl „early democracy“ in vielen Regionen verbreitet war.
Der Glorifizierung und Normalisierung der westlichen Demokratie, gekennzeichnet durch Menschen- und Bürgerrechte, Gewaltenteilung und Repräsentationsprinzip, entzieht Stasavage so die Grundlagen. Provokant, aber überzeugend stellt er heraus, dass für viele Formen von „early democracy“ in den Regionen der Welt ausgerechnet dann Schluss war, als sie mit Europäern in Kontakt kamen. Während das kolonisierende Europa sich Gesellschaften unterwarf, die demokratischer organisiert waren als die Metropolen – etwa im Falle des abgestuften Rätesystem mit breiter, auch weiblicher Partizipation im Nordamerika des 17. Jahrhunderts –, habe sich die moderne Demokratie ausgerechnet in Europa entfalten können, weil dort die relative Ressourcenarmut mit einer verhältnismäßig schwachen Staatlichkeit einherging. Im Vergleich zu Mesopotamien oder China war Europa, so Stasavage, quasi unterentwickelter, und deshalb lagen hier demokratische Herrschaftsformen näher.
Die Thesen des Autors gründen auf einem analytischen Demokratiebegriff, der eng und anschlussfähig zugleich ist, sodass er diachrone Vergleichbarkeit herstellen kann. Demokratie ist für den Autor eine Form des Regierens, bei der die Herrschenden auf den Konsens der Beherrschten angewiesen sind. In Abgrenzung von autokratischen Formen (nicht aber zwingend von oligarchischen), fasst er „democratic governance“ als jegliche Form des beratschlagenden Regierens durch ein Organ auf, das aus mehr als einer Person besteht („governing in a collaborative fashion“, S. 7). Überdies sind demokratische Systeme für ihn offen für die breite Partizipation, die sie aber auch abgestuft und situativ organisieren können, während sich „hierarchical political systems“ durch einen absoluten Herrscher auszeichnen, der nicht auf die Mitsprache oder Konsultation der Vielen setzt. Leitend für Stasavages Ansatz ist es, die Entstehung und den Niedergang demokratischer und autokratischer Systeme integrativ zu betrachten, um die zugrundeliegenden Faktoren zu verstehen und schließlich zu erklären, wie es zur „political divergence“ zwischen Europa und anderen Teilen der Welt kam, die nicht zwingend in der Geschichte der Demokratie angelegt war. Diesem Prozess widmet sich der zweite Teil des Buches, während sich der dritte der modernen Demokratie zuwendet.
„Early democracy“, die Stasavage im antiken Mesopotamien und Indien wie auch im präkolonialen Zentralafrika und Nordamerika ausmacht, ist dadurch charakterisiert, dass Versammlungen und Räte die Macht tribaler Führer begrenzten und dass „the people“ oder Teile davon an der Regierung teilhatten, ob auf direkte oder indirekte Weise, meist aber im Medium der Beratschlagung, Information oder konsensualen Bekräftigung der Herrschaft. Zentral ist laut Stasavage, dass „early democracy“ nicht neben, sondern anstelle von Staatsbürokratien existierte (in aller Regel in tribalen Gesellschaften). Daraus erklärt sich dann auch die pragmatische Notwendigkeit für Herrscher, mit den Beherrschten zu kooperieren: Ihnen stehen nicht genügend Ressourcen zur Verfügung, um autokratisch zu regieren. Dazu benötigen sie Staatsbürokratien, besetzt mit Personen, die ihnen gegenüber treu und folgsam sind und von ihnen kontrolliert werden – wohingegen Herrschende in demokratischen Systemen mit Räten und anderen Organen lediglich primi inter pares sind.
Wenn „early democracy“ über die Zeit vielerorts zu ende ging, dann lag das u.a. am territorialen Wachstum der Herrschaftsverbände. Überhaupt problematisiert Stasavage das Verhältnis von „scale“ und (moderner) Demokratie. Wie andere Politikwissenschaftler erkennt er einen Zusammenhang zwischen kleinen Herrschaftsverbänden und funktionierender demokratischer Selbstverwaltung. Ein anderer Grund für den historischen Niedergang von „early democracy“ war die Entwicklung neuer Methoden, mit denen Herrschende auf die wirtschaftlichen Ressourcen ihres Territoriums zugreifen konnten. Indem sie etwa durch Schrift oder neue Vermessungstechniken ihr Wissen und ihre Kommunikationsreichweite erhöhten, machten sie sich von der Kooperation mit den lokalen Produzenten unabhängig – ein Schritt auf dem Weg hin zur Autokratie, die sich auf die Staatsbürokratie stützte. Das funktionierte besonders gut in wohlhabenden Regionen, wo intensiv (nicht extensiv) Ackerbau betrieben wurde und Herrschende durch die relativ einfache Allokation von Ressourcen Macht zentralisieren und Herrschaft bürokratisieren konnten, wie in China oder Mesopotamien. Demgegenüber sei der „decline of early democracy“ in Europa gebremst gewesen, nicht wegen der kommerziellen Revolution (die es auch in China gab), sondern weil sich auf den politisch und ressourcenmäßig diversifizierten Territorien nach dem Untergang des Römischen Imperiums nicht gut starke neue Bürokratien aufbauen ließen – anders als in China. Es war also, ironischerweise, die Rückständigkeit Europas, die das Fundament für den Aufstieg der modernen Demokratie legte. Das europäische Hoch- und Spätmittelalter steht dann mit seinen Stadtrepubliken und kommunalen Selbstverwaltungsrechten für eine Zeit des Übergangs von den Traditionen der „early democracy“ zu den Prinzipien moderner Demokratie, insbesondere dem Repräsentationsprinzip.
Stasavages Argumentation ist, bei aller Holzschnittartigkeit, die Detailstudien sicherlich korrigieren und differenzieren könnten, eine wohltuende Alternative zur modernen eurozentrischen Demokratiegeschichte mit ihrem immanenten Überlegenheitsgestus gegenüber der Vormoderne wie auch dem Rest der Welt. Sich selbst demokratisch zu verwalten, ist mit Stavasage kein Proprium des modernen Westens, sondern ein relativ wahrscheinlicher Vorgang in der Menschheitsgeschichte, der auf praktischen und ökonomischen Notwendigkeiten, der Begrenztheit natürlicher Rohstoffe und nicht zuletzt auf Kommunikationsbedingungen beruht. Ideologische Faktoren treten demgegenüber in den Hintergrund. Ins Reich der Mythen verbannt Stavasage die Annahme, der Islam habe im Mittleren Osten den Niedergang früher demokratischer Formen mit sich gebracht. Mit Hinweis auf das Konsultationsgebot der shura im Koran argumentiert Stavasage, erst die Eroberung Ägyptens und Mesopotamiens habe den Auf- und Ausbau starker, zentralisierter Staatlichkeit erlaubt und damit den Weg zu autokratischer Herrschaft in der islamischen Welt geebnet.
Staat und Gesellschaft sind Begriffe, deren Historizität im Buch stärkere Reflexion verdient hätte. Südostasien ist quasi absent in der Argumentation. Die primäre Verwendung westlicher Quellen und Beobachtungen für die Beschreibung nicht-westlicher Formen von Demokratie und Autokratie ist eine perspektivische Verzerrung, die Stavasage nicht mitdenkt. Irritierend sind anachronistische Analogieschlüsse, etwa von den politischen Praktiken der Beduinenstämme aus der „recent past“ auf die Herrschaftsformen der prä-islamischen Beduinen oder aus der autokratischen Vergangenheit Chinas auf dessen autokratische Zukunft. Der Glaube an Pfadabhängigkeiten unterschätzt das kulturelle Reservoir für Wandel, doch immerhin trägt Stavasage ihn relativierend vor: China stelle keine Abweichung vom europäischen Standard dar, sondern schlicht eine sehr stabile „alternative route for governance“.