A. Primi: Femmes de progrès

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Title
Femmes de progrès. Françaises et Allemandes engagées dans leur siècle 1848-1870


Author(s)
Primi, Alice
Series
Archives du féminisme
Extent
317 S.
Price
€ 20,29
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Annette Keilhauer, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Die unter der Betreuung der bekannten französischen Historikerin Michèle Riot-Sarcey entstandene Doktorarbeit betritt in mehrfacher Hinsicht Neuland: Zum einen wird der Zeitraum zwischen 1850 und 1870 in der Geschichte beider Länder oft als wenig interessanter Übergangsbereich zwischen zwei paradigmatischen Einschnitten der historischen Entwicklung angesehen. Zum anderen wird die Geschichte der Frauenbewegung bis in die jüngste Zeit meist entweder als Teil der Nationalgeschichte verortet, oder aber in einen als universell postulierten emanzipatorischen Rahmen gesetzt, dessen Gültigkeit erst seit kurzem problematisiert wird. Für die Rekonstruktion der historischen Rahmenbedingungen, der Strategien und der Ausformungen des Frauenrechtsdiskurses eine komparative Perspektive zu wählen, bietet insbesondere die Möglichkeit, die Zusammenhänge zwischen Geschlechterkonzeptionen, politischer Kultur und Diskursen über nationale Identität in beiden Ländern zu erkunden. Die Bedeutung von Geschlechterdiskursen für die Konstruktion nationaler Identität im 19. Jahrhundert ist in neueren Studien ein wichtiger Bereich intersektional orientierter Forschungen der Genderstudien geworden. Im deutsch-französischen Vergleich schließlich spielt die gegenseitige Bezugnahme bei der Ausbildung nationaler Identität eine besondere Rolle, wie ja zahlreiche Studien in der Tradition des deutsch-französischen Kulturvergleichs und Kulturtransfers seit vielen Jahren belegen.

Alice Primi führt in ihrer Studie die Ansätze von Riot-Sarcey weiter, die in ihren Forschungen zum französischen Frauenrechtsdiskurs vor allem die erste Jahrhunderthälfte in den Blick genommen hat. Die Revolution von 1848 hatte sowohl in Frankreich, als auch in Deutschland Frauen die Möglichkeit zur Wortergreifung gegeben, die anschließende Repression schien bisher allerdings Grund zu der Annahme zu bieten, dass jetzt auch die Frauen wieder zum Schweigen gebracht werden.

In der Tradition der historischen Genderforschung fragt Primi nach der ständigen Neudefinition und Neuverhandlung der Geschlechterverhältnisse, die natürlich nicht nur in den offiziellen und institutionellen Diskursen zu suchen ist, sondern mindestens ebenso in einer realen Praxis, die nicht aufhört, diese Diskurse zu hinterfragen und zu durchbrechen. Frauen, die das Wort ergreifen, um auf die eigene Situation und Benachteiligung hinzuweisen, sind in dieser Zeit in einem ständigen Dilemma gefangen: In einer Pendelbewegung zwischen Identifizierung und Distanzierung müssen sie einerseits auf die Spezifik der Situation der Frau immer wieder hinweisen, um die realen Gegebenheiten zu verbessern. Andererseits nehmen sie teilweise sehr bewusst die soziale Konstruktion weiblicher Rollenmuster wahr, die konstitutiv ist für die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und können diese nur sehr bedingt problematisieren. In Zeiten anziehender Zensur und realer Repression gegen jede Art von direkter Forderung nach sozialer Gerechtigkeit muss die Analyse natürlich ein sehr weites Verständnis politischer Intervention ansetzen, was Primi auch programmatisch tut.

Die Studie geht in drei chronologischen Schritten vor: Sie nimmt zunächst noch einmal die Öffnung von 1848 in den Blick, zu der zwar für beiden Länder schon ein Reihe von Studien existieren, die aber bisher nie eine vergleichende Perspektive eingenommen haben. Die Wortergreifung von Frauen in dieser kurzen Phase demokratischer Aktivität lässt sich in beiden Ländern durchaus vergleichen. Insbesondere aber die Hindernisse gleichen sich, sei es der weiterhin klare Ausschluss von Frauen von allen politischen Rechten, oder auch die männlich geprägte journalistische Kultur, die es Frauen sehr schwierig macht, ihre Positionen in diesem wichtigen Medium politischer Meinungsbildung zu Gehör zu bringen. Die Niederschlagung der demokratischen Bewegung führt denn auch in beiden Ländern zu einem weitgehenden Rückzug von Frauen aus der öffentlichen politischen Meinungsäußerung. Der zweite Teil befasst sich mit der „Zeit des Schweigens“, die sich bis in die 1860er Jahre ausweitet: Frauen engagieren sich jetzt eher taktisch und vermittelt in essayistischen und literarischen Publikationen. Die Beispiele von Fanny Lewald und Marie-Louise Gagneur zeigen das Entstehen einer engagierten Literatur in beiden Ländern, die die schwierige rechtliche und soziale Situation der Frau in fiktionalisierten Settings inszeniert und damit, wenn auch vermittelter, den Forderungen nach rechtlicher und sozialer Gleichstellung weiterhin eine Stimme gibt. Im dritten Teil schließlich spürt die Autorin der Wortergreifung von Frauen in beiden Ländern gegen Ende der 1860er Jahre nach. Die politische Liberalisierung ermöglicht eine neue Vehemenz der öffentlichen Intervention, die jetzt auch auf das Mittel der öffentlichen Rede und die Gründung von Vereinigungen zurückgreift. Auch die Internationalisierung, die in dieser Zeit zu beobachten ist, spielt eine wichtige, wenn auch teilweise ambivalente Rolle. Die Gründung der Association internationale des femmes (AIF) wird in der zweiten Jahrhunderthälfte noch über längere Zeit eine wichtige Rolle für die Vernetzung zwischen nationalen Initiativen spielen, während das Engagement von Frauen im Rahmen der Internationalisierung der Arbeiterbewegung sich eher als Sackgasse herausstellt.

Die Originalität der Studie besteht weniger in neuen Erkenntnissen zu den Entwicklungen in beiden Ländern, sondern vor allem in der konsequent vergleichenden Perspektive. Zu den grundlegenden Unterschieden zwischen beiden Ländern gehört die unterschiedliche Tiefendimension des Bürgerbegriffs, die auch den politischen Handlungsspielraum der Frauen je spezifisch begrenzt. In der französischen Tradition der „citoyenneté“ stehen schon seit der Französischen Revolution das republikanisch-demokratische Engagement und die egalitäre Ausrichtung nach innen im Zentrum, während in der deutschen Tradition der patriotische Einsatz für die angestrebte nationale Einigung dominant bleibt, dem sich auch die deutschen Frauen nicht entziehen können. In Frankreich sind Frauen schon seit der Revolution journalistisch aktiv, während in den deutschen Ländern diese Art der öffentlichen Wortergreifung vor den 1830er Jahren noch selten ist. Entscheidenden Anstoß für die Entwicklung nach 1848 geben utopische Gesellschaftsentwürfe der 1830er Jahre, die ihrerseits einen grundlegenden Unterschied zwischen beiden Ländern offenlegen: In Frankreich sind es fourieristische und saint-simonistische Entwürfe, die in einem Spannungsverhältnis zu christlichen Traditionen stehen und stark revolutionäres Potential besitzen; in Deutschland öffnen in den 1830er und 1840er Jahren die christlichen Reformbewegungen die Möglichkeit zum Engagement, wobei Frauen eine spezifische moralische und pädagogische Vorbildfunktion zugeschrieben wird. Zeitweise definieren sich so engagierte Frauen in Deutschland geradezu in bewusstem Kontrast zu französischen Traditionen, und grenzen sich explizit von den atheistischen und moralisch liberalen Tendenzen der französischen Saint-Simonisten ab. Dahinter scheint gelegentlich sogar das Schreckgespenst der moralisch verdorbenen französischen Aristokratin des Ancien Régime auf, die von deutscher Seite dann mitunter mit der „femme libre“ Saint Simons gleichgesetzt wird. In Frankreich bleibt dagegen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die starke Nähe zwischen Freimaurern und Frauenrechtskämpfern wichtig. Schließlich ist der Rückzug der Frauen im Zuge der Repression nach 1848 in Deutschland stärker als in Frankreich verknüpft mit der Stärkung der Rolle der Frau als Mutter und Erzieherin, so dass das Engagement der Frauen sich deutlicher in den Erziehungsbereich verlagert, als dies in Frankreich der Fall ist.

Die Studie ist durch ihre vergleichende Orientierung ein mutiger Schritt hin zu einer transnationalen Betrachtung der Geschichte der Frauenbewegungen. Sie hat eine beeindruckende Vielfalt von gut dokumentierten Archiven genützt und besitzt zudem einen sehr hilfreichen alphabetischen Index. Damit bekommt sie die Qualität einer Pionierstudie, die die traditionelle Dominanz der kompetitiven und teleologisch orientierten Betrachtung der internationalen Frauenrechtsbewegung zugunsten einer abgewogeneren historisch-vergleichenden Kontextualisierung unterschiedlicher und zugleich aufeinander Bezug nehmender Bewegungen verabschiedet.

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03.05.2013
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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