Wachtel (Northwestern-University in Evanston/Illinois), legt eine übersichtliche und knappe Studie zur Geschichte des Balkans vor, mit chronologischer Tabelle, Empfehlungen für weitere Lektüre, Websites sowie einem Index. Er bestimmt den Raum zwischen Karpaten und Kreta als Balkan, legt aber den Schwerpunkt der Darstellung südlich der Donau. Chronologisch gliedert er den Ablauf in fünf Perioden: von der Vorgeschichte bis Byzanz, Mittelalter, Osmanische Herrschaft, langes 19. Jahrhundert (1775 – 1922), 20. Jahrhundert.
Inhaltlich organisiert er den Stoff entlang des Weges von den Imperien zur Nationsbildung. Die Vielfalt der religiösen und ethnischen Differenzen spielte in den Imperien keine große Rolle, aber im 19. Jahrhundert „begannen einige aus der Region stammende aber in Europa erzogenen Eliten die westeuropäischen Ideen von Nation und Nationalstaat der bestehenden Mischung von Völkern über zu stülpen …“ (S. 7). Da Nationen (west-)europäischer Art nicht vorhanden waren, mussten sie geschaffen werden; und sobald das erreicht war, endete die Geschichte Balkans und begann die Geschichte Südosteuropas – spätestens also mit der Auflösung Jugoslawiens.
Wachtel hat Empathie für diese Welt der Grenzländer und kulturellen wie sprachlichen, religiösen und imperialen Überschichtungen. Dabei betont er manchmal die Eigenständigkeit zu sehr, etwa bei der Darstellung des Verhältnisses von Patriarch und Kaiser in Byzanz – bis zum Investiturstreit war es ja auch in der lateinischen Kirche Gang und Gebe, dass der Kaiser in die Papstwahl eingriff, und auf der Ebene der Pfarrgemeinden war das Patronatsrecht des Adels im Westen prägender als im Osten. Da das Oströmische Reich länger Bestand hatte als die slawischen mittelalterlichen Königreiche, überschneiden sich in den folgenden Perioden die Darstellungen in ihrer Chronologie. Wachtel macht gut deutlich, wie diese mittelalterliche Geschichte vom späten 18. Jahrhundert an von den nationalistischen Eliten instrumentalisiert wird. Inhaltlich bleibt vor allem die Rolle der regionalen Großmacht Ungarn zu blass, die ja im 15. Jahrhundert auch Renaissance-Elemente verbreitete.
Das Osmanische Reich wird als „theokratische“ Herrschaft (S. 51) vor allem in ihrer bürokratischen und militärischen Macht aufgezeigt, die sie lange in die Lage versetzte, effektiven Bauernschutz anzubieten (was sie von der adligen christlichen Welt grundlegend unterschied). Die „Knabenlese“ erscheint bei Wachtel mehr als Instrument des Aufstiegs für einige kluge Konvertiten als eben als Zwangskonversion, was sie für die meisten Jungen und vor allem die Eltern denn doch blieb. Wachtel wird von der Empathie für das Imperium so weit getragen, dass er (S. 61) meint, die Osmanen hätten die Balkanvölker auch zwangsweise assimilieren können – was allerdings der von ihm gerade beschriebenen Struktur der Herrschaft gerade nicht entspricht. Die Rückzüge (in der Karte S. 52 muss es statt „easternmost region of the Ottoman Empire“ „westernmost“ heißen) wird dann vor allem in Termini der Auseinandersetzung Imperium vs. Nationen berichtet; andere Interpretationsansätze, etwa die in den 70er Jahren intensiv diskutierten Landbesitzrechte oder die neuere Imperiumsforschung, werden angetippt, bleiben dann aber eher liegen.
Wachtel macht sehr gut deutlich, wie im langen 19. Jahrhundert regionale Eliten daran gingen, Nationalsprachen zu schaffen und Nationenbildungen vorzubereiten. Er zeigt, worin das westeuropäische Programm der Nationenbildung bestand und inwiefern es an die Bedingungen des Balkans (wie übrigens ganz Osteuropas) angepasst werden musste, um wirksam zu werden – nicht die Staaten schufen sich Nationen, sondern zuerst musste man Nationen schaffen, und das in komprimierter Zeit. Wunderbar die Geschichte S. 88, in der drei streitende „jugoslawische“ Intellektuelle im 19. Jahrhundert in Dalmatien erfragen, was für eine Sprache einige Bauern reden, die (nachdem die Antwort „unsere“ den Befragenden nicht reicht) sowohl „slawisch“ akzeptieren, als auch sich bei „serbisch“ einordnen lassen sowie schließlich auf die Frage des Kroaten antworten: „ja, das haben wir vergessen, wir sind ja Kroaten und sprechen kroatisch.“
Die Homogenisierung der balkanischen Länder ging mit Zwangsumsiedlungen und Massakern zusammen, „von beiden Seiten begangen und wie gewöhnlich in Europa völlig den Türken zugeordnet“ (S. 84). Das Bild vom Türken als Barbaren wird ausgebaut, da man im Westen die alten christlichen Massaker verdrängt hat und die neuen nicht zur Kenntnis nimmt. Nach der Aufteilung der europäischen Türkei beginnen die jeweiligen nationalen Eliten, „denen die Lücke zwischen relativer politischer und kultureller Vorankommen und sozioökonomischer Rückständigkeit (in europäischen Termini selbstverständlich) schmerzlich bewusst ist“ Politiken des Aufholens, die in der Periode des sowjetischen Einflusses fortgesetzt werden. Erfolgreich sind die neuen Nationen vor allem in den Homogenisierungen – Muslime aus Bulgarien werden vertrieben, die überlebenden Juden aus Alt-Rumänien vergrault, in der Bukowina ein „Bevölkerungsaustausch“ organisiert. Nur Jugoslawien blieb multiethnisch und insofern das letzte Land des Balkan.
Der Schwerpunkt auf Kulturpolitik und Nationenbildung geht an anderen Erklärungsansätzen vorbei. Es liegt bei der Kürze des Textes sicher nahe, ein Interpretationsmodell in den Vordergrund zu stellen, aber zur akademischen Diskursivität sollte schon gehören, auch andere etwas auszuführen und dem Leser wenigstens die Literatur dazu zu nennen, aber weder systemorientiert kritische noch modernisierungstheoretische Interpretationen werden diskutiert; Ivan T. Berends „Von der Peripherie in die Peripherie“ 1 fehlt im Literaturverzeichnis genauso wie die systematische Wirtschaftsgeschichte von Lampe und Jackson.2 Dass nichtenglische Autoren nicht aufgeführt werden, ist man bei angelsächsischen Büchern gewöhnt, aber ein Blick in Kasers 3 Bücher z. B. hätte helfen können, die kurze Erwähnung der clans mit mehr Kenntnissen zu füllen, besonders weil Klientelbeziehungen zu den Konstanten der Geschichte der Region auch über das Ende des „Balkan“ hinaus zu gehören scheinen.
Das Herausragende an den Darstellungen der fünf Perioden sind die gut ausgewählten Bilder und die schönen, eindringlichen Auszüge aus der Literatur, von Polybios Bericht über die römische Gesandtschaft bei der illyrischen Königin Teuta bis zu den Zitaten aus Ivo Andrić. So entsteht bei aller Kürze ein abwechslungsreicher Text, der den Leser durch die Jahrtausende trägt. In die Weltgeschichte ist der Text allerdings fast nur über die Frage nach der Rolle der Nationen integriert.
Anmerkungen:
1 Ivan T. Berend, Central and Eastern Europe 1944–1993, Detour from Periphery to Periphery, Cambridge 1996.
2 John R. Lampe, Marvin R. Jackson, Balkan Economic History, 1550–1950. From Imperial Boderlands to Developing Nations, Bloomington/Ind. 1982.
3 Karl Kaser, Freundschaft und Feindschaft auf dem Balkan, Klagenfurt 2001.