A. Niederberger u.a. (Hrsg.): Globalisierung

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Title
Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch


Editor(s)
Niederberger, Andreas; Schink, Philipp
Published
Stuttgart 2011: J.B. Metzler Verlag
Extent
450 S.
Price
€ 49,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Tobias Werron, Universität Bielefeld

Das zu besprechende Buch gehört zu den Einführungsbüchern zum Thema Globalisierung, deren Zahl in den letzten Jahren dermaßen gewachsen ist, dass man bereits von einem eigenen Genre der geistes- und sozialwissenschaftlichen Literatur sprechen kann. Zu den nicht weiter kritisierbaren Merkmalen von Einführungsliteratur gehört, dass sie keine streitbaren Thesen oder neuartigen Forschungsresultate präsentiert, was sie grundsätzlich zu einem undankbaren Rezensionsgegenstand macht. Ich möchte diese Besprechung daher zum Anlass für eine kurze Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen des hier einschlägigen Typus des Genres der „Globalisierungseinführungen“ selbst nehmen.

Innerhalb dieses Genres kann man grob vier typische Formate unterscheiden: Erstens fachwissenschaftliche Einführungen, die in das Thema aus der Sicht bestimmter Autor/innen einführen 1, zweitens fachwissenschaftliche Überblicke, die den Forschungsstand einer bestimmten Disziplin (z.B. „Globalisierung der Wirtschaft. Eine wirtschaftsgeographische Einführung“2) oder einer bestimmten Theorierichtung darstellen 3; drittens Anthologien von Originaltexten aus einer oder mehreren Disziplinen, die von den Herausgebern für wichtig befundene Beiträge in Originallänge oder gekürzter Form zusammenfassen 4; schließlich inter- bzw. multidisziplinäre Einführungen, die Autor/innen aus verschiedenen Disziplinen und eine Vielfalt von Forschungsthemen versammeln.5 Zum letzteren Typus zählt das vorliegende Buch.

Wer über einige Vorkenntnisse verfügt und am Forschungsstand bestimmter Fächer oder der Sichtweise bestimmter Autoren interessiert ist, dem sind logischerweise eher die ersten beiden Typen zu empfehlen, weil sich eine Einführung im engeren Sinne dann ja erübrigt. Wer sich aber dem Thema erstmals nähert, sollte bedenken, dass es sich bei Globalisierung um ein Forschungsthema handelt, das von sich aus keinen eindeutigen disziplinären Zuschnitt hat – insbesondere keinen primär wirtschafts- oder politikwissenschaftlichen. Das gilt schon wegen der thematischen Vielfalt von Globalisierungsprozessen (in Wirtschaft, Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst, Sport; Organisationsformen; kulturelle Differenzen usw.), aber auch wegen der historischen Dimension des Themas, die bei engem Verständnis mindestens bis ins 15./16. Jahrhundert zurückreicht (nach Jürgen Osterhammels hilfreicher Unterscheidung: die ‚history of globalization‘), bei breiterem Verständnis mindestens bis in die sog. Achsenzeit (‚global history‘).6 Wer sich ein grundlegendes Wissen über Globalisierung erarbeiten will, tut daher gut daran, sich nicht ohne Bedenken einer bestimmten Disziplin anzuvertrauen. Insofern liegt der Gedanke nahe, dass Bücher mit interdisziplinärem Anspruch – wie das vorliegende – sich zum Einstieg in das Thema besonders gut eignen müssten.

Erfüllt das vorliegende Buch diese Erwartung? Die Herausgeber erläutern die Konzeption des Bandes in der Einleitung zunächst mit dem plausiblen Hinweis, dass die Forschung unter dem Titel Globalisierung nur Berechtigung habe, wenn sie zeigen könne, „dass es Phänomene, Entwicklungen und Überlegungen gibt, die mit der angestammten Terminologie bzw. entsprechenden Analyseinstrumentarien nur unzureichend erfasst werden können“ (S. 6). Diesem Anliegen versucht das Buch gerecht zu werden, indem es im ersten Teil („Phänomene der Globalisierung“) zunächst eine Vielzahl von Themengebieten der Globalisierungsforschung anspricht, von Ökonomie und Politik und Recht über Sozialverhältnisse und kollektive Gewalt und Natur bis zu Technik, Religionen, Wissenschaft und Geschlechterverhältnissen. Im zweiten Teil „Globalisierungsforschung in Kultur- und Sozialwissenschaft“ kommen dann die Vertreter/innen von insgesamt 12 Disziplinen zu Wort (darunter auch die Geschichtswissenschaft, hier vertreten durch Andreas Eckert, der vor allem die Erträge der Forschung über das späte 19. Jahrhundert hervorhebt und dazu auffordert, andere Epoche ebenso intensiv zu untersuchen; und die Soziologie, vertreten durch Jörg Dürrschmidt, der mehr Aufmerksamkeit für Alltagsphänomenologie und lokale „Wiedereinbettungstendenzen“ anmahnt). Der dritte und letzte Teilbehandelt schließlich sechs „Kernthemen der Globalisierungsdiskussion“: (1) „Allgemeine Kontroversen“ (über ökonomische und politische Globalisierung), (2) „Ökonomisch-soziale Kontroversen“ (u.a. Hunger und Armut, Migration und Flucht, normative Modelle globaler Gerechtigkeit), (3) „Politische Gestalt und politische Konsequenzen“ (u.a. über „alte und neue Kriege“, globale Regulierungsformen, globales Strafrecht), (4) „Identität, Gemeinschaft und Religion“ (u.a. zu religiösem Fundamentalismus und politischem Islamismus, Urbanisierung und Landflucht), (5) „Neue Technologien und Ökologie“ (Naturverhältnisse, Netzwerke, Internet, Gentechnologie, Klimawandel) und schließlich (6) „Globalisierungskritik“ (Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit, Kritische Theorie, Postkolonialismus, Kultur). Der Band wird von einem verdienstvollen ausführlichen (387–424) Glossar der beiden Herausgeber abgeschlossen.

Vergleicht man dieses Programm mit anderen Einführungen, fällt auf, dass es einen gewissen politisch-ökonomischen Schwerpunkt aufweist und dass stärker ‚kulturelle‘ Themen wie Kunst, Massenmedien, Tourismus und Sport weder unter den ‚Phänomenen der Globalisierung‘ im ersten Kapitel aufgeführt, noch sonst prominent vertreten sind. Insgesamt ist zudem eine gewisse Präferenz nicht nur für politisch-ökonomische Themen, sondern auch für globalisierungskritische (d.h. anti-neoliberale) Positionen erkennbar. Der Vielfalt der beteiligten Autor/innen und Disziplinen entspricht es, dass sich die einzelnen Beiträge kaum zu einer gemeinsamen Sichtweise zusammenfügen (insofern wäre im Untertitel treffender von einem ‚multidisziplinärem‘ statt von einem ‚interdisziplinärem‘ Handbuch die Rede); andererseits gestattet dies, dass sehr unterschiedlichen Stimmen zu Wort kommen, von soziologisch-weltgesellschaftstheoretischen Perspektiven (einer der ausführlichsten Beiträge von Hauke Brunckhorst: „Politik“; Boris Holzer über „Netzwerke“) über kritisch-theoretische (Alex Demirovic: „Sozialverhältnisse“, David Strecker: „Kritische Theorie der Globalisierung“), philosophisch-kantische (Francis Chevenal: „Philosophie“) bis hin zu marxistisch inspirierten Perspektiven (Thomas Seibert: „Globalisierungskritik und globalisierungskritische Bewegungen“).

Die Gefahr, unter dem Label Globalisierung nur altbekannte Disziplinweisheiten zu verkünden, wird dabei nach meinem Eindruck durchweg vermieden, zudem sind die Beiträge sorgfältig redigiert und durch das ausführliche Glossar auch auf eine solide Wissensbasis gestellt. Insgesamt kann man den Band daher als erste Annäherung an die heutige Globalisierungsdiskussion empfehlen, am besten wohl ergänzt durch einen Band wie das „Lexikon der Globalisierung“7, in dem kulturelle Themen, kulturwissenschaftliche und sozialanthropologische Fragestellungen etwas prominenter vertreten sind. Die Vermutung, dass sich solche multidisziplinären Überblicksdarstellungen zum ersten Einstieg in die Globalisierungsliteratur eignen, findet sich durch diese Lektüre also durchaus bestätigt.

Vertrautheit mit dem Globalisierungsdiskurs wird sich freilich nur einstellen, wenn man anschließend auch die anderen Typen von Einführungsliteratur zu Rate zieht, also Anthologien mit Originaltexten sowie fachwissenschaftliche Überblicke und Einführungen, um sich von dort zu spezifischer Forschungsliteratur vorantastet. Folgt man diesem Pfad, werden auch Differenzen und Spannungen zwischen den Fachperspektiven und Autor/innen sichtbar, die in multidisziplinär angelegten Einführungen wie dieser, in der die Disziplinen nebeneinander stehen, aber kaum in Dialog und Streit eintreten, eher verborgen bleiben. Ein mögliches Spannungspotential lässt sich bereits an der Liste der hier aufgenommenen Fächer erkennen, von denen einige thematisch definiert sind (Wirtschaft, Politik, Recht, Religion, Literatur, Geographie, Gender), während andere Querschnittsfächer sind, die alle diese Themen aus einer eigenen Fachtradition heraus ebenfalls in den Blick nehmen können (Soziologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft, je nach Verständnis auch Ethnologie und Medien- und Kulturwissenschaft). Generell gibt es keinerlei Versicherung dagegen, dass Disziplinperspektiven und -grenzen, die sonst den Dialog zwischen den Disziplinen strukturieren und behindern, nicht auch den wissenschaftlichen Globalisierungsdiskurs strukturieren und behindern, ja es spricht sogar einiges dafür, dass bestimmte Spannungen an Globalisierungsfragen noch deutlicher hervortreten.

Eine Spannung, die mich als historischen Soziologen umtreibt, die aber auch für die Leser/innen von „geschichte.transnational“ von besonderen Interesse sein dürfte, ist folgende: Eine historische Forschungsperspektive vorausgesetzt, gehört es m.E. zu den entscheidenden Kriterien für die Beurteilung von Globalisierungsliteratur, ob sie dem im Mediendiskurs geläufigen Vorurteil, dass Globalisierung vor allem als Auflösung oder Bedeutungsverlust des Nationalstaats zu verstehen ist, entgegenkommt (wie es bei vielen ‚präsentistischen‘ Vertretern in der Soziologie und Politikwissenschaft der Fall ist), oder ob sie die historische Einsicht ernstnimmt, dass Globalisierung und Nationalstaatssystem (inkl. der allmählichen Ablösung formaler Imperien im 20. Jahrhundert) seit dem 18. Jahrhundert Hand in Hand entstanden und in wechselseitiger Beziehung verbunden sind.8 Mit ‚präsentistischen‘ Sichtweisen eng verbunden, und ebenso fragwürdig, ist zudem die Tendenz, Phänomene, die aufgrund geschärfter Aufmerksamkeit heute auffallen, als „neu“ zu bezeichnen, obschon eine historisch und räumlich umsichtige Analyse häufig zeigen kann, dass sie eben nur vorher nicht so stark aufgefallen waren (eine Kritik, die der Politikwissenschaftler und historische Soziologe Klaus Schlichte im vorliegenden Band eindrücklich am Thema „Alte und neue Kriege“ vorführt). In dieser Hinsicht bietet das vorliegende Buch kein konsistentes Bild, weil die historische Perspektive zwar in Einzelbeiträgen (wie dem von Schlichtes) vorkommt, nicht aber alle Beiträge anleitet. Dieses Manko teilt es freilich mit den meisten, wenn nicht allen Einführungsbüchern zum Thema. Der Wunsch nach einer Auseinandersetzung mit dieser Spannung und nach einer konsequenten Verknüpfung von gegenwartsdiagnostischen Forschungsinteressen einerseits und historischer Forschungsperspektive andererseits bezeichnet einstweilen wohl eine Zukunftsaufgabe, die über die Ambitionen eines Einführungsbuches hinausgeht und insofern die Grenzen des hier besprochenen Genres sprengt. Wer sich dem sozial- und kulturwissenschaftlichen Globalisierungsdiskurs heute annähert, sollte aber wissen, dass diese Herausforderung existiert und dass der Umgang mit ihr maßgeblich darüber entscheiden wird, ob es eine inter-disziplinäre – nicht lediglich multidisziplinäre – Globalisierungsforschung mit eigenem Profil und eigenen Erkenntnischancen geben kann.

Anmerkungen:
1 Frank J. Lechner / John Boli, World culture. Origins and consequences, Malden, MA 2005; Boike Rehbein / Hermann Schwengel, Theorien der Globalisierung, Konstanz 2008; Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung, 5. Aufl., München 2007.
2 Ernst Giese u.a., Globalisierung der Wirtschaft. Eine wirtschaftsgeographische Einführung, Paderborn 2011.
3 So für soziologische Theorien der Weltgesellschaft siehe: Theresa Wobbe, Weltgesellschaft, Bielefeld 2000.
4 Roland Robertson / Kathleen White (Hrsg.), Globalization. Critical concepts in sociology, 6 Bde., London 2003; Frank J. Lechner / John Boli (Hrsg.), The globalization reader, 4. Aufl., Malden, MA 2012.
5 Fernand Kreff / Eva-Maria Knoll /Andre Gingrich (Hrsg.), Lexikon der Globalisierung, Bielefeld 2011; George Ritzer (Hrsg), The Blackwell Companion to Globalization, Malden, MA, Oxford 2007.
6 Jürgen Osterhammel, Globalizations, in: Jerry H. Bentley (Hrsg.), The Oxford Handbook of World History, Oxford 2011, S. 89–104.
7 Kreff; Knoll; Gingrich, Lexikon zur Globalisierung, siehe Anmerk. 5.
8 In diesem Sinne z.B. Michael Mann, Has globalization ended the rise and rise of the nation-state?, in: Review of International Political Economy 4 (1997), S. 472–496.

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11.10.2013
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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