Nach dem Ersten Weltkrieg veränderten sich die deutsch-chinesischen Beziehungen von Grund auf. Da Deutschland im Zuge des Versailler Vertrages unter anderem auch seiner chinesischen Musterkolonie Qingdao verlustig gegangen war, standen fortan ungleiche Verträge oder gar Kolonien nicht mehr zwischen beiden Ländern. Bereits 1921 schlossen sie einen „gleichberechtigten“ Handelsvertrag. Ein weiteres verbindendes Element war, dass Deutschland und China sich als „Außenseiter“ von Versailles von der Staatengemeinschaft gedemütigt und ungerecht behandelt fühlten. Auch befanden sich beide Länder nach dem Ersten Weltkrieg in einer politisch-gesellschaftlichen Krisen- und Umbruchsituation, welche das gegenseitige Interesse steigerte.
Die Intensivierung der Beziehungen, die erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und deren Hinwendung zu Japan ein Ende fand, vollzog sich nicht nur auf dem Gebiet der Außen- und Wirtschaftspolitik, sondern auch im Kultur- und Wissenschaftsbereich. Hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland noch der Topos der „gelben Gefahr“ dominiert, wurde China in den 1920er Jahren positiv gesehen. Es erschienen viele deutsche Publikationen über chinesische Philosophie und Kultur sowie deutsche Übersetzungen bzw. Nachdichtungen chinesischer Literatur. In der Kulturkrise nach dem Ersten Weltkrieg gewannen die alte ostasiatische und insbesondere die chinesische Philosophie und Literatur an Ansehen. Umgekehrt kamen in jenen Jahren viele chinesische Intellektuelle, Studenten und Künstler nach Deutschland, um westliche Literatur, Kunst und Technik zu rezipieren. Diese nahmen nach ihrer Rückkehr nach China häufig wichtige Positionen in Politik und Wissenschaft ein, in denen sie versuchten, die gesellschaftlichen und kulturellen Reformen voranzubringen.
Mit dieser Zeit des Umbruchs und der Transformation in beiden Ländern beschäftigt sich der vorliegende Sammelband. Er ist das Ergebnis einer Tagung, die im Juni 2010 an der Freien Universität Berlin in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Deutschlandstudien der Universität Peking stattgefunden hat. Sein Ziel ist weniger „eine historische Rekonstruktion der kulturellen Austauschbeziehungen zwischen China und Deutschland. Vielmehr richtet sich der Blick auf die Ebene der wechselseitigen Rezeption und Wahrnehmung.“ (S. 12) Von deutsch-chinesischer Annäherung wird in diesem Zusammenhang gesprochen, wobei diese nicht als eine zunehmende Verständigung oder Angleichung verstanden wird, sondern – etwas vage – als „gesteigerte gegenseitige Aufmerksamkeit“. Der Verdichtung der Annäherungen wird in verschiedenen kulturellen Bereichen wie Kunst, Literatur, Oper und Operette sowie Reiseberichte nachgegangen.
Den Auftakt bilden Überlegungen zum Kulturtransfer im Allgemeinen (Arnd Bauerkämper) und damit die altbekannte Frage, warum bestimmte Elemente einer anderen Kultur aufgenommen und auf welche Weise diese dann an das eigene kulturelle Umfeld angepasst werden. Bezüglich der deutsch-chinesischen Beziehungen wird in diesem Zusammenhang gefordert, gerade nicht nur das bilaterale Verhältnis zu betrachten. Vielmehr müsse eine Annäherung zwischen beiden Ländern stärker in einen multilateralen Interaktions- und Transaktionskontext gestellt werden. (S. 22) Dabei wird ausschließlich auf den Völkerbund als mögliche Schnittstelle verwiesen, jedoch nicht auf das internationale Beziehungsfeld im China der 20er und 30er Jahre.
Die Fallbeispiele offenbaren sehr unterschiedliche Wege des Kulturtransfers und damit sehr unterschiedliche Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster. Bei den chinesischen Künstlern Lin Fengmian und Li Jinfa etwa wirkte ihr Aufenthalt in den 20er Jahren in Berlin nachweislich auf ihre Werke zurück. (Dagmar Yü-Dembski) In diesen lassen sich jeweils expressionistische Elemente und Techniken, aber auch ein antibürgerliches Lebensgefühl ausmachen. Umgekehrt ließ sich der in Deutschland viel gelesene expressionistische Dichter Klabund bzw. Alfred Henschke vom kurz-prägnanten Stil der klassischen chinesischen Lyrik inspirieren. Auch bei ihm kann eine bestimmte Form ausgemacht werden, welche aus der anderen Kultur übernommen und Teil des persönlichen Schaffens wurde. Dies ließe sich zu Überlegungen ausweiten, ob, warum und inwieweit gerade der Expressionismus kompatibel mit der chinesischen Kultur war. Auch andere deutsche Schriftsteller richteten ihren Blick zeitweise und vorübergehend nach China. Einer von ihnen war Alfred Döblin, der sich in seinen in den 20er Jahren geschriebenen Essays sehr intensiv mit dem Konfuzianismus und dem Daoismus auseinandersetzte. (Luo Wei) Ein anderes Beispiel ist Gerhart Hauptmann, der angesichts der politischen Krise der Weimarer Republik nach Orientierung in der chinesischen Philosophie und Literatur suchte. (Peter Sprengel) Dabei verließ er streng nationalistisch-konservative Bahnen nicht.
Max Weber, der dem Konfuzianismus und Daoismus bekanntermaßen eine eigene Studie widmete, wandte sich China zu, weil er nachweisen wollte, dass die Wirtschaftsform des Kapitalismus nur in Ländern mit protestantischer Grundhaltung entstehen konnte. (Marco Haase) Sein Ziel war nicht die Beschreibung und Analyse Chinas, sondern die Darlegung eines Beweises für die Überlegenheit des parlamentarischen Regierungssystems. Auch in der Musik wurde China nicht um seiner selbst willen zum Thema. (Volker Mertens) Die Oper Turandot von Giacomo Puccini sowie die Operetten Die Gelbe Jacke und das Land des Lächelns von Franz Lehár hoben vielmehr Konflikte innerhalb der eigenen Gesellschaft besonders deutlich hervor, indem sie sie in ein fernes Land übertrugen. Erkenntnisse über China standen nicht im Mittelpunkt des Interesses.
Die Bedeutung der Goethe-Rezeption im China der 20er und 30er Jahre zeigt sich allein darin, dass Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit gleich zweimal ins Chinesische übersetzt wurde. Dabei lassen sich Unterschiede in der Rezeption feststellen: Diente Goethe in der Zeit der Selbststärkungsbewegung um 1900 noch als Beispiel für einen traditionalistisch ausgerichteten Modernisierer, so war es die Figur des Werther, interpretiert als Herausforderer traditioneller Werte, die in Vierten Mai-Bewegung 1919 im Vordergrund stand. (Michael Jaeger) Im Zuge dieser Bewegung entstanden dann auch neue literarische Formen wie die moderne chinesische Autobiographie sowie das Tagebuch und Ich-Erzählungen. (Hu Wei)
Eine ganz eigene Kategorie bilden die in der Weimarer Republik entstandenen China-Reiseberichte, da diese von deutschen Reisenden geschrieben wurden, die China aus eigener Anschauung kannten und sich berufen fühlten, einer breiteren Leserschaft von den dortigen aktuellen politischen Entwicklungen ein anschauliches Bild zu vermitteln. Dabei war die Darstellung von China erkennbar von den weltanschaulichen Positionen der Autoren geprägt. (Gregor Streim) So wurde etwa Sun Yatsens Reformprogramm als Vorbild einer antibürgerlichen Kulturrevolution interpretiert, die die westliche Zivilisation überwinden werde. Oder aber die chinesische Revolution als Synthese von Tradition und Moderne, von alter Kultur und kommunistischer Erneuerung konzipiert. Auch das Klischee des rückständigen Orients fehlte nicht. Eine Tendenz zur Exotisierung lässt sich gleichfalls an den Reiseberichten weiblicher Autorinnen ausmachen, die den Schwerpunkt auf die Beobachtung chinesischer Frauen legten und diese mit den Frauen der Weimarer Republik verglichen. (Almut Hille) In die 30er Jahre hinein führt die Untersuchung eines deutschen Romans über Shanghai, der die Stadt als Treffpunkt Heimatloser aus aller Welt beschreibt und sich dabei vor allem auf die dort lebenden, aus Deutschland eingewanderten Juden konzentriert. (Inge Stephan)
Ohne Frage erweitert der Sammelband gerade durch seinen interdisziplinären Zugang das bisher bekannte Spektrum der deutsch-chinesischen Beziehungen um Bereiche, die nicht im Zentrum historischer Forschungen stehen. Die Einzelstudien sind deshalb alle lesenswert. Allerdings reicht der Befund einer Annäherung verstanden als „gesteigerte gegenseitige Aufmerksamkeit“ zwischen Deutschland und China nicht aus, um den deutsch-chinesischen Beziehungen „näherzukommen“. Fraglich bleibt nicht zuletzt, ob es tatsächlich zu einer „Annäherung“ zwischen Deutschland und China gekommen ist oder ob es sich nicht vielmehr um die stereotype Wiederholung ähnlicher und typisierbarer Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster in unterschiedlichen Bereichen handelte. Dass sich zudem die Mehrheit der Autoren/innen mit der Wahrnehmung bzw. Rezeption Chinas in Deutschland befasst, ist kein Zufall. Denn China war aus deutscher Sicht wesentlich einzigartiger, exotischer und attraktiver als Deutschland aus chinesischer Sicht. Nach deutschem Verständnis verkörperte China den „Fernen Osten“, wohingegen Deutschland, aus chinesischer Perspektive, nur einen kleinen Teil des „Westens“ repräsentierte. Andere Länder Europas, aber auch die USA boten sich als Alternative an. Viele Chinesen, die in Deutschland studierten, hielten sich auch in anderen europäischen oder westlichen Ländern auf und können deshalb kaum als explizite Vermittler deutsch-chinesischer Kulturbeziehungen betrachtet werden. Aus diesem Grund sollten die deutsch-chinesischen Beziehungen tatsächlich vor dem Hintergrund eines internationalen Feldes analysiert werden.