Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist in seinen Schutzdimensionen und in seiner normativen Kraft ebenso umstritten wie der ihm zugrunde liegende Volksbegriff Gegenstand kritischer Kontroversen – nicht nur in der Völkerrechtswissenschaft – bleibt. Der Streit freilich ist nicht nur theoretischer Natur, sondern hat, wie in jüngerer Zeit etwa durch die Unabhängigkeit des Kosovo gezeigt, eine eminent politische Relevanz. W. Danspeckgrubers Schlussbeitrag verdankt der hier anzuzeigende, von J. Fisch herausgegebene Sammelband die diesbezüglich besonders eindrückliche Feststellung: „Since the French Revolution and the Napoleonic era, self-determination has become one of the most central issues in international politics” (S. 311). Nicht minder pointiert verweist der Herausgeber in seiner Einleitung auf die „Suggestiv“- und zugleich „Sprengkraft“ eines Begriffs, der, auch nachdem er sich semantisch durchsetzen und konzeptionell verfestigen konnte, anhaltenden Widerstand provoziert und in seiner „Bedeutung immer wieder abgeschwächt“ (S. VII) – oder, so mag man ergänzen, ideologisch aufgeladen wird. Etwa W. Wilson und W. I. Lenin hatten mit ganz unterschiedlicher ideologischer Stoßrichtung den Selbstbestimmungsgedanken nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auf die Weltbühne gehoben. Die „letzten Gründe“ selbstbestimmter Freiheit liegen indes jenseits aller Ideologien. Das Anliegen einer Tagung, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Idee (respektive das Ideal) der Selbstbestimmung hin denkt, versteht sich daher (fast) von selbst: Herkunft und Begriff des Selbstbestimmungsrechts bedürfen historischer Analyse, philosophischer Vergewisserung und nicht zuletzt politisch-sozialer Kontextualisierung. In den „Schriften des historischen Kollegs“ liegen nunmehr die reichen Erträge einer hochkarätig besetzten Tagung vor, deren Lektüre nicht nur dem Völkerrechtler mit Nachdruck empfohlen sei.
Schon der programmatisch gewählte Titel von Tagung und Band verrät einen spezifischen konzeptionellen Zugriff auf das Thema. Für J. Fisch geht es dem Selbstbestimmungsrecht primär um ein „stabile, abschließende Verteilung der Welt“ unter den Völkern. Es mag kein Zufall sein, dass neben dem genuin völkerrechtlichen Anliegen der Stabilität in den internationalen Beziehungen mit dem Verteilungsbegriff – jedenfalls implizit – auch eine Gerechtigkeitsbedingung anklingt. Eine gerechtigkeitsorientierte, jedenfalls dynamische „Neu-Verteilung“ der Welt ist mit der Entkolonisierung keineswegs obsolet geworden. Gerechtigkeitsorientiert legt denn auch G. Kohler seinen Einleitungsbeitrag zum Grundlagenteil (Selbstbestimmung, individuell und kollektiv. Oder: Rousseaus Problem) an, wenn er die Selbstbestimmung an die Idee der Gleichheit der Menschen (S. 4ff.) rückbindet und Hobbes gegen Aristoteles, Rousseau und Hobbes wiederum gegen Locke stellt. Die Selbstbestimmung des Kollektives Volk, weil immer auch mit der Exklusion der Nichtzugehörigen verbunden („Wer ist das Volk? Und wer sind die anderen?“, S. 18), berührt letztlich die entscheidende Frage, wie Einzel- und Gemeinwille aufeinander zu beziehen sind (S. 20). O. Yasuaki löst die Selbstbestimmungsidee aus einem primär westlichen Kontext und skizziert aus zivilisationsübergreifender Perspektive („from a trans-civilizational perspective“) die Konturen einer Globalgeschichte des Selbstbestimmungerecht, die jeden Versuch einer eurozentrischen (oder „Euro-America-centric“, S. 36) Völkerrechtskonzeption in die Schranken weist.
Stärker von Europa her denken – aus historisch guten Gründen – die beiden ersten Beiträge des zweiten Kapitels. H. Duchhardt ergründet aus der Dichotomie von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung das Vorfeld von Selbstbestimmung im 18. Jahrhundert, H. Steiger reflektiert über Das natürliche Recht der Souveränität der Völker anhand der großen Debatten im Kontext der Französischen Revolution (1789-1793) und bezieht sich damit auf das „universelle Recht der Freiheit und der Souveränität des Volkes“ (S. 80), das er als legitimatorischen „Urgrund“ (S. 84) des modernen Selbstbestimmungsrechts verortet. Dem stellt J. Fisch die Herausbildung des modernen Begriffs des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Amerika gegenüber. In ihrer Staatswerdung leben gerade die USA das Selbstbestimmungsrecht und zugleich limitiert die amerikanische, insbesondere die hispano-amerikanische Konzeption der Selbstbestimmung derer „anarchische Freiheit“ anhand harter Kriterien: Entkolonisierung, uti possidentis und Sezessionsverbot (S. 109).
Das dritte Kapitel ist der Zeit der Weltkriege gewidmet. Die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts greifen die Idee des Selbstbestimmungsrechts auf ihre je spezifische Weise auf, dazu J. Dülffer. War die Selbstbestimmung – trotz Wilsons und Lenins (ideologischer) Anstrengungen – in den Friedensverhandlungen von 1919 kein prominentes Kriterium, verbindet sie sich nach 1945 mit der Entscheidung für freiheitliche Regierungen, der Forderungen nach freien Wahlen und damit der konsequenten Bekämpfung noch fortlebender faschistischer Tendenzen (S. 139). Weitere historische Konkretisierung leisten die Beiträge von Cattaruzza und S. Zala (Wilsons Vierzehn Punkte und Italien in der europäischen Ordnung am Ende des Ersten Weltkrieges) und M. Frey (Selbstbestimmung und Zivilisationsdiskurs in der amerikanischen Außenpolitik 1917 bis 1950). Das vierte Kapitel vermisst das 20. Jahrhundert dann anhand der Völkerrechtsentwicklung unter der Ägide der Vereinten Nationen. P. Hilpold fragt nach neuen Perspektiven für die humanitäre Intervention, R. Leemann hinterfragt die menschenrechtliche Konzeption kollektiver Selbstbestimmung, angelegt in den beiden universellen Menschenrechtspakten aus dem Jahre 1966, anhand von Individualbeschwerden vor dem UNO-Menschenrechtsausschuss und H.-J. Heintze richtet seinen Blick auf das Selbstbestimmungsrecht indigener Völker im Spannungsfeld von Minderheitenrechten einerseits, den Rechten der Völker unter Kolonialherrschaft andererseits (S. 251).
Das Schlusskapitel knüpft, verbunden mit der Frage nach der Zukunft, methodenbewusst an neuere rechtliche und politikwissenschaftliche Ansätze an. S. Wolff (The Emerging Practice of Complex Power Sharing) entfaltet das Konfliktlösungsmodell der so bezeichneten „Konkordanzdemokratie“ und benennt Anforderungen an Institutionen in Konfliktgesellschaften (Einräumung von weitreichender Autonomie, etwa auf regionaler Ebene, anstatt stabilitätsgefährdender Sezessionsbestrebungen; effektive Minderheitenrechte; differenzierte Streitschlichtungsverfahren etc.). K. Roepstorff spricht sich aus für ein Understanding Self-Determination as Non-Domination und vollzieht den Schritt von Government-Strukturen Governance-Modellen. Schließlich verbindet W. Danspeckgruber Selbstbestimmungsfragen mit Globalisierungsdiskursen.
Was die hier nur schlagwortartig verkürzt vorgestellten Einzelbeiträge, bei aller Heterogenität in Thema und Methode, überzeugend bündelt, ist nicht nur die ihnen gemeinsame entwicklungsgeschichtliche Reflexionsebene. Es ist auch jene häufig nicht hinreichend akzentuierte Prämisse, die J. Fisch schon in seiner Einleitung (S. XIX) explizit macht: „Das regulative Prinzip der Selbstbestimmung ist die Herrschaftsfreiheit.“ Von dieser „anarchischen“ Seite her entwickelt die Selbstbestimmung ihre teils produktive, teils destruktive Dynamik. Diese Dynamik stellt die „Verteilung der Welt“ immer neu in Frage. Der vorliegende Sammelband sucht Antworten und stellt zugleich vermeintliche Gewissheiten in Frage. Er präsentiert die Ergebnisse eines ebenso anspruchsvollen wie anregenden interdisziplinären Rechtsgesprächs. Nur ein Wunsch des Lesers bleibt offen: Er wäre bei diesem Rechtsgespräch gerne dabei gewesen.