Geschichtswissenschaft sei eine „Diskussion ohne Ende“ (Pieter Geyl), die „im Wechselspiel von sich wandelnden Perspektiven und Wertungen“ 1 geführt werde, konstatieren Wolfgang von Hippel und Bernhard Stier im Vorwort ihres Handbuchbandes der Geschichte Europas. Vollständigkeit hinsichtlich der Darstellung gesicherten historischen Wissens oder des Forschungsstandes sei „eigentlich nicht erreichbar“ 2, fahren die Autoren fort – und doch erfüllen Handbücher die anspruchsvolle Aufgabe einer Momentaufnahme des state of the art etwa der Historiographie Europas. Zu den von Historikerinnen und Historikern kontrovers debattierten Herausforderungen an eine zeitgemäße Geschichtswissenschaft zählt eben auch die – mit Erscheinen der neunbändigen, von Peter Blickle herausgegebenen und „den Schieder“ ablösenden Handbuch-Reihe einmal mehr rhetorische – Frage, ob man im Zeitalter der Globalisierung überhaupt noch Europas Geschichte schreiben solle?3 Und wenn ja, wie man dabei vorzugehen habe? Ereignis- oder strukturgeschichtlich? Transnational oder additiv vergleichend? Mit einem politisch-geographischen oder inhaltlich-thematischen oder einem beide Zugriffe verwirklichenden Gliederungsschema?
Die beiden Autoren des siebten Bandes der Geschichte Europas, die den konzeptuell vorgegebenen Zeitraum des Halbjahrhunderts zwischen 1800 und 1850 als „europäische Sinn-Einheit“ 4 zu behandeln hatten und damit im Wesentlichen den Bußmann-Band von 1981 ersetzen 5, optierten für die letztgenannte Gliederungsvariante. Der erste von fünf Teilen ihres Handbuchbandes kennzeichnet den „Charakter der Epoche“ und gehört zusammen mit dem dritten und dem fünften Teil, in denen es um „Gesamteuropäische Aspekte“ bzw. um „Die Epoche in der Forschung“ geht, zu den systematisch transnational dargebotenen Kapiteln. Der zweite Teil behandelt „Die europäische Staatenwelt – Vielfalt des Kontinents“ und stimmt bis auf die aufgewertete Stellung der Niederlande, Belgiens und der Schweiz, die neue Benennung „Balkanstaaten“ anstelle von Südosteuropa und das neu eingefügte Kapitel zu den europäischen Revolutionen mit Bußmanns Gliederung und Staatenfolge überein. Von einer knapp gehaltenen „Bibliografie“ als fünftem Teil wird das gut lesbare und tatsächlich handliche Handbuch abgeschlossen. Eine Zeittafel von 1789 bis 1849 soll „Erste Hilfe“ 6 bei der chronologischen Orientierung leisten.
Die vorgegebenen Jahreszahlen 1800 und 1850 umschließen ein Zeitalter mit dem Charakteristikum nach der Revolution ist vor der Revolution vom Ausklang der Französischen Revolution von 1789 bis zum Abschluß der Revolutionen von 1848/49; die Periodisierung leitet Teil 1 des Handbuchs ein. Die Autoren weisen darauf hin, daß die ersten fünf Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts angesichts der Übergänge, der Durchbrüche – vom „Durchbruch des Bürgertums“ 7 hatte etwa Eberhard Weis 1978 in seinem bis heute gültigen Standardwerk in der Propyläen-Geschichte Europas gesprochen – und Einschnitte keine „homogene europäische Epoche“ 8 bildeten; gleichwohl machten ihre Ereigniszusammenhänge ihren epochalen Charakter aus. Die prägenden Elemente oder, in dem von den Autoren in Anlehnung an Friedrich Schlegel glücklich gewählten Terminus, die „Signaturen des Zeitalters“ bündeln von Hippel und Stier in einem „undogmatisch gehandhabten Konzept der ‚Modernisierung‘“ 9. Die ausgemittelten Signaturen werden von den miteinander verflochtenen, in fast jedem Buchtitel über die Epoche enthaltenen Begriffen Revolution, Restauration und Reform angeführt; es folgen u.a. die Konstitution(en) als Sicherung des revolutionär oder reformerisch erreichten status quo der bürgerlichen Partizipation, die moderne, nach „Innen“ homogenisierende und nach „Außen“ abschließende Staats- und Nationsbildung, die damit verbundene Ideologisierung von Innen- und Außenpolitik, das Aufkommen politischer Schlagworte und moderner Weltanschauungsparteien, die je nach nationalem bzw. regionalen Standpunkt voneinander abweichenden, den gewählten Zeitraum in beide Richtungen überschreitenden demografischen und industriellen Revolutionen sowie weitere, Beharrung, Wandel und Innovation des Zeitalters kennzeichnende Prozesse. Der in diesem Zusammenhang auch angetippten „verstärkte[n] Europäisierung der Welt“ widmen sich zwei eigene Kapitel. Das erste beschäftigt sich mit der inneren Europäisierung, dem Europagedanken und der europäischen Selbstwahrnehmung, wobei sich letztere von ihrer Darbietung in Zedlers Universal-Lexicon in den 1740er Jahre bis zu derjenigen von Ersch/Grubers Allgemeiner Enzyclopädie ein Jahrhundert später kaum verändert hatte: Europa als nach der Entdeckung Australiens zweitkleinster Erdteil galt nicht nur lexikographisch als „Wiege der Kultur“, „Träger des […] Fortschritts“ und „Brennpunkt der Weltgeschichte“. 10 Das zweite, die Europäisierung der Welt diskutierende Kapitel trägt die Überschrift „Europa und ‚der Rest der Welt‘“. Das mag nach „Bayern grüßt den Rest der Welt“ klingen, stellt allerdings in klarer, von – hier wie generell – vorzüglichen Karten unterstützter Darstellung die europäischen Nationen in den größeren Zusammenhang der europäischen Globalisierung.
Der von Frankreich als erster der fünf Großmächte angeführte Teil 2 des Handbuchs über die europäische Staatenwelt ist gegenüber Schieders jeweils von Spezialisten verfassten Länderkapiteln knapper gefasst, deutlich auf die jeweiligen „‚Sonderwege‘ in die ‚Moderne‘“ 11 und zugleich auf die Einflüsse und Wechselwirkungen des dargestellten Landes mit den anderen europäischen Ländern konzentriert, wobei globale Bezüge nicht vergessen werden. Des Weiteren wird versucht, beiden Zugriffen durch die Berücksichtigung ereignis- und strukturgeschichtlicher Perspektiven gerecht zu werden. So wird Frankreich in seiner Eigenschaft als „revolutionärer Modernisierungsmotor Europas“ untersucht, während Großbritannien einerseits die „große Alternative“ zum politisch revolutionären Weg in die Moderne zu geben und andererseits als Ausgangspunkt der industriellen Revolution zu gelten hat. Alle den Einzelstaaten gewidmeten Kapitel führen bis an die „Epochenschwelle der Moderne“ (Rüdiger Hachtmann), die Revolutionen von 1848/49, die gesamteuropäisch beleuchtet und in Übereinstimmung mit der neueren Forschung als Modernisierungskrise Europas gedeutet werden. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stehen im Fokus der Darstellung, wobei im entsprechenden Schieder-Handbuchband etwa bei Spanien auch die geistigen und kulturellen Hintergründe und Zeitströmungen Berücksichtigung fanden.
Eben diese thematische Trias stellt auch Teil 3 in den Vordergrund der nun als „Gesamteuropäische Aspekte“ behandelnden Darstellung. Hier werden die bereits bei den „Signaturen des Zeitalters“ angesprochenen und in den Staatenkapiteln in nationaler Beleuchtung erörterten Entwicklungen vertieft, so die demografischen („Der Raum und die Menschen“), ökonomischen oder sozialen. „Staat und Politik“ bleibt nicht bei Herrschaftsformen oder zwischenstaatlichen Beziehungen stehen, sondern verweist auch auf die Folgen von Unruhen, sozialen Protesten oder den Konsequenzen religiöser wie politischer Verfolgung, Exil und Asyl. Wenn nun „Religion und Kultur“ – zwei der drei von Jacob Burckhardt als „weltgeschichtlich wirkmächtigsten Potenzen“ apostrophierten Themenfelder – hier das letzte Kapitel stellen, das als Spitzentaschentüchlein die in diesem Handbuch sorgfältig ausgebreitete Garderobe von Frau Europa vervollständigt, dann ist das ebenso bedauerlich wie die Tatsache, dass die Literatur, (bildende) Kunst und Musik umfassende „ästhetische Kultur“ immerhin ganz Europas als gerade einmal zehnseitige Marginalie daherkommen. Beides ist allerdings nicht den Autoren, sondern dem Gesamtkonzept der Reihe zuzurechnen.
Die Anlage des Handbuchs der Geschichte Europas führt zur mehrfachen Aufnahme und zur jeweils neuen Kontextualisierung grundlegender Themen des Jahrhunderts (z.B. Napoleon, Industrielle Revolution, Beziehungen zur außereuropäischen Welt). Davon und von dem ausgezeichneten, die Kapitel über Stichworte und Themenbereiche miteinander vernetzenden Verweissystem werden an spezifischen Fragen Interessierte und speziell Studierende besonders profitieren. Insgesamt bietet das vorliegende Band einen sehr gut verständlichen Zugang zur Geschichte Europas, es zeigt Entwicklungsphasen europäischer Politik und Europa im Verhältnis zu den anderen Kontinenten, gesamteuropäische Aspekte und Differenzen, orientiert über die neuere Forschung (Teil 4 zeigt „Die Epoche in der Forschung“) und verdient im besten Sinne seine Bezeichnung „Handbuch der Geschichte Europas“.
Anmerkungen:
1 Wolfgang von Hippel / Bernhard Stier, Europa zwischen Reform und Revolution 1800-1850, Stuttgart 2012, hier: Vorwort der Verfasser, S. 11.
2 von Hippel / Stier, Europa, S. 11.
3 Handbuch der europäischen Geschichte, hrsg. v. Theodor Schieder, 7 Bände, Stuttgart 1968-1987.
4 von Hippel / Stier, Europa, S. 13.
5 Walter Bußmann, Europa von der Französischen Revolution bis zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts (= Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 5, hrsg. v. Theodor Schieder), Stuttgart 1981. – Titelähnlichkeiten bestehen zu dem neuen, Dieter Langewiesche nach eigener Aussage mehr ergänzenden denn ersetzenden, gleichwohl als neuer Zugriff unverzichtbaren Band von Andreas Fahrmeir, Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution 1815-1850 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 41), München 2012.
6 von Hippel / Stier, Europa, S. 510.
7 Eberhard Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 1776 – 1847 (= Propyläen-Geschichte Europas, Bd. 4), Stuttgart 1978, 2. Aufl. 1981, ND 1992.
8 von Hippel / Stier, Europa, S. 15.
9 von Hippel / Stier, Europa, S. 15.
10 von Hippel / Stier, Europa, S. 31.
11 von Hippel / Stier, Europa, S. 109