Internationalismus in seinen verschiedenen Spielarten hat die Historiker in den letzten Jahren zusehends bewegt und eine Menge von Aufsätzen und Monographien hervorgebracht, die sich mit internationalen Organisationen undKonferenzen, grenzüberschreitenden Netzwerken und transnationalen sozialen oder politischen Bewegungen sowie dem Personal dieser formalen oder informellen Organisationsstrukturen beschäftigen. Dabei stellt sich allen Autoren die Frage nach dem Verhältnis der ab den 1870er Jahre sichtbar wachsenden internationalistischen Gesinnung zu Staats- und Nationsbildung, imperialistischem Wettstreit und zwei Weltkriegen, die in der Historiographie die Wahrnehmung deslangen 19. und des kurzen 20. Jahrhunderts lange Zeit geprägt haben.
Der Titel des Buches von Glenda Sluga weist bereits daraufhin, dass es hier genau um diese für Historiker mit transnationalen oder globalen Themen zentrale Frage geht, ob und wie Internationalismus denkbar ist in einer Epoche, die lange Zeit unter dem Stichwort Nationalismus verhandelt wurde. Die Stärke des Buches liegt im analytischen Zugang: Nationalismus und Internationalismus werden nicht als Gegensätze konzipiert, sondern als zwei eng miteinander verwobene Art und Weisen, über Modernität, Politik und Fortschritt nachzudenken, die nur um den Preis eines unausgewogenen Geschichtsbildes voneinander getrennt werden können. Eine Konsequenz dieses Zugangs ist methodischer Natur, da Sluga Internationalismus analog zur Nationalismusforschung als „invented“ und „imagined“ konzipiert und diese Konstruktionsprozesse ins Zentrum ihrer Analyse stellt. Mit der Hypothese des Buches gehen zudem einige Grundannahmen einher, die auf eine Korrektur geläufiger, idealistischer Vorstellungen von Internationalismus zielen. Denn mit der Ausgangsthese, dass Internationalismus kein Hirngespinst weniger Idealisten ohne politische oder gesellschaftliche Relevanz gewesen, sondern von vielen Zeitgenossen als komplementäre Strategie zur nationalen Politik aufgefasst wurde, geht eine begriffliche Präzisierung einher. Internationalismus ist bei Sluga bürgerlich-liberal, anti-proletarisch und obwohl auch anti-koloniale Bewegungen in ihrer Darstellung eine prominente Rolle spielen, beschreibt sie den ‚Mainstream-Internationalismus‘ als geprägt durch das gleiche Denken in Kategorien zivilisatorischer Differenz und rassischer Ungleichheit wie es Nationalismus und Imperialismus eigen war.
Sluga setzt ihr Programm in vier großen Kapiteln und einem Epilog um, die vom späten 19. Jahrhundert an schlaglichtartig die Jahrhundertwende, die Zwischenkriegszeit, das Ende des Zweiten Weltkriegs, die 1970er und 1980er Jahre und schließlich die von ihr sogenannten „postinternational nineties“ abdecken. Das erste Kapitel „The International Turn“ begibt sich in das Feld internationalistischer Bewegungen an der Jahrhundertwende und Sluga beeindruckt mit der Breite ihres Wissens. Sie skizziert die Entstehung einer liberalen Meistererzählung, die den Internationalismus des 20. Jahrhunderts als eine spezifische Haltung patriotischer, aber international gesinnter Bürgerinszenierte. Auf der Strecke blieben in dieser Definition, so Sluga, die Anfänge des Internationalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, nämlich Kommunismus und dietechnische Regulierung neuer Kommunikations- und Transporttechnologien. Besondere Bedeutung verleiht sie dabei den Haager Friedenskonferenzen und internationalen Konferenzen wie dem Universal Race Congress, die das problematische Verhältnis von Klasse, Nation und Rasse auf die internationale Agenda setzten. Hier argumentiert Sluga, dass Pazifisten, Sozialreformer und anti-koloniale Bewegungen – gleichermaßen von den neuen Disziplinen Soziologie und Psychologie inspiriert – die kulturelle und politische Bedingtheit moderner Gesellschaften hervorhoben, diese Einsicht aber mit einem Denken verknüpften, das zivilisatorischen Fortschritt,imperialeHierarchien und nationaleSouveränität pries. Den Ersten Weltkrieg skizziert Sluga als einen ersten Höhepunkt internationalistischer Hoffnungen und Visionen, als einen „state of mind“, der auf internationales Recht und nationalen Patriotismus als Grundlagen einer internationalistischen und friedlichen Weltordnung baute.
Das zweite Kapitel „Imagine Geneva, Between the Wars“ schreibt die Tendenz der letzten Jahre fort, dem Völkerbund eine wichtige Rolle im internationalen Geschehen der Zwischenkriegszeit einzuräumen. Sluga stellt fest, dass trotz der Ausblendung religiöser Rechte, der Fortschreibung kolonialer Herrschaft mittels des Mandatssystems und der Dominanz nationaler Souveränität als Grundprinzip des Völkerbunds dieser internationalistisches Denken und Aktivitäten institutionalisierte und damit Internationalismus einen festen Platz in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zuwies. Die dem Völkerbund eigene Ambivalenz zwischen dem Primat nationaler Entscheidungen und der gleichzeitigen Institutionalisierung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Themen als grenzüberschreitendes Sujet macht Sluga am Genfer Generalsekretariat und seiner internationalen Beamtenschaft fest. Einerseits war diese von nationaler Loyalität entbunden, andererseits bestanden die Generalsekretäre des Völkerbunds und der Internationalen Arbeitsorganisation in den 1920er Jahre auf ein gefestigtes Maß an nationalem Patriotismus, weil nur das ein adäquates Verständnis internationaler Politik erlaube.
Im dritten Kapitel „The Apogee of Internationalism“ beschreibt Sluga entgegen geläufiger historiographischer Annahmen die frühen 1940er Jahre als einen Höhepunkt internationalistischer Visionen und den Zweiten Weltkrieg als Katalysator, der weltweit die Hoffnung in die friedensstiftende Kraft internationaler Institutionen geschürt habe. In diesem Kapitel fordert sie außerdem die Interpretation von 1945 als Zäsur heraus, indem sei einerseits institutionelle Kontinuitäten zwischen der Vor- und Nachkriegszeit hervorhebt und andererseits die Entstehung der UN aus dem Geist des Vorkriegsinternationalismus erklärt. Dafür richtet sie den Blick auf die Komplexität und Kontingenz der Weltordnungsentwürfe, wie sie bis ca. 1948 kursierten. Damit will sie zeigen, wie nah Hoffnungen zum Beispiel auf die Gleichstellung von Rasse und Geschlecht in der UN Charta oder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an einer Realisierung waren, um dann an der tief verwurzelten Verwandtschaft von Internationalismus mit zivilisatorischen Paternalismus und Imperialismus zu scheitern.Das zeigt sie unter anderem an den beiden ‚Vätern‘ der Menschenrechtserklärung von 1948, H. G. Wells und René Cassin, und an Ralph Bunche, dem ersten Direktor der UN Division of Trusteeship. Denn, so Sluga, Bunche war selbst afroamerikanischer Herkunft, vehementer Kritiker des Kolonialismus und früher Wegbegleiter von W.E.B. DuBois. Sein vor diesem Hintergrund widersprüchliches Eintreten für die Trusteeships erklärt Sluga über die Funktion der frühen UN als „intersection of competing international aspirations and expectations of political equality and social change.“ (S. 94). Beim Thema Menschenrechte zeigt Sluga, dass es die Themen Rasse, Empire und Geschlecht waren, um die bei der Konzeption des UN-Internationalismus am meisten gestritten wurde. Aber auch hier setzte sich ein imperialer Internationalismus durch. Die UN erhielt nur wenig Handlungsbefugnis im Bereich der Menschenrechte, während diese vielmehr als Gegenpol zum souveränen Nationalstaat öffentlichkeitswirksam diskutiert wurden. Die Abkehr vom Internationalismus im Kalten Krieg beschreibt Sluga anhand der Unesco. Hier geht es um das (bis heute andauernde) Verschwinden des Slogans „one world“ aus dem Repertoire der Unesco im Zuge einer sowjetischen Kampagne gegen Kosmopolitismus , der als spezifisches Merkmal dieser Organisation galt, und den Generalverdacht von McCarthy, die Unesco sei kommunistisch infiltriert und unterwandere die USA mit Projekten zur Schulbuchrevision. Aber auch hier zeigt sich, dass ein Großteil der frühen Bildungsprogramme „Fundamental Education“ in Afrika auf Julian Huxleys (der erste Generaldirektor der Unesco) Teilnahme am Colonial Office Advisory Committee on Native Education to East Africa in den 1930er Jahren zurückging, dessen personelle und institutionelle Kontinuitäten diese Programmlinie der Unesco durchdrangen.
Auch im letzten Kapitel „What is the International?“ argumentiert Sluga, dass die UN der 1970er Jahre zu Unrecht von der Historiographie marginalisiert worden ist. Dabei stützt sie sich zum einen auf die wachsende Präsenz von NGOs bei Versammlungen oder Organisationen der UN. Diese trugen aktiv zu einer politischen Aufwertung sozialer und wirtschaftlicher Themen als globale Sujets bei, etablierten ein globales Problembewusstsein und funktionierten vor allem als Mittler zwischen der UN und der nationalen Ebene. Zum anderen verweist Sluga auf die Bedeutung der Bewegung der Blockfreien Staaten sowie der Dekolonialisierung, die Sluga am Versuch der UNCTAD 1974 festmacht, eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu lancieren. Obwohl letztere scheiterte argumentiert sie, dass beide Bewegungen Kernprinzipien des Internationalismus auf UN-Ebene zum Durchbruch verhalfen. Damit meint sie eine Konzeption von Internationalismus, die auf Freiheit und Gleichheit von Staaten und Nationen basiert, die Unantastbarkeit staatlicher Souveränität festschreibt und den (nachhaltigen) Umgang mit natürlichen Ressourcen sowie eine faire Verteilung dieser Ressourcen im globalen Maßstab anmahnt und als Garant dafür zugleich den Nationalstaat einsetzt. Durch die Dekolonialisierung, so Sluga, entwickelte sich die UN zu dem Forum, in dem Staatlichkeit verknüpft wurde mit Ungleichheit, kultureller Differenz und der Rolle von Ethnizität im internationalen Gefüge.Der Epilog greift schließlich die anfänglich postulierte Parallelität zwischen der historischen Analyse von Nationalisierungsprozessen und Prozessen der Internationalisierung noch einmal auf und plädiert dafür, dass die Geschichte des Internationalismus „maps pro found lyon to the genealogy of nations and nationalism“. Deswegen ist es nötig, so Sluga, das gesamte Spektrum von Akteuren, politischen Visionen, Handlungsoptionen sowie Konzepten und Agenden, die Internationalismus im 20. Jahrhundert ausgezeichnet haben, auf die gleiche profunde Art und Weise zu analysieren, wie für die nationale Ebene geschieht.
Mit diesem Buch hat Glenda Sluga eine wichtige Studie zum Internationalismus im 20. Jahrhundert vorgelegt, die Historiker in diesem Feld zur Kenntnis nehmen müssen und die allen weiteren Arbeiten zum Thema in methodischer und konzeptioneller Hinsicht den Weg weist. Gerade der Epilog verweist mit einer kritischen Analyse historiographischen Denkens seit den 1980er Jahren auf die Motive und blinden Flecke, die die Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren zur Entdeckung der Nation führte, während das internationalistische 19. und 20. Jahrhundert aus dem Blick gerieten, und eröffnet damit eine große Forschungsagenda. Leser können sich an einer enorm kenntnisreichen und unterhaltsamen Lektüre freuen, die viele neue Einsichten eröffnet und gewohnte Sichtweisen durch einprägsame Beispiele auf den Kopf stellt. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Fülle an Details öfters und präziser synthetisiert und damit die Gefahr verringert worden wäre, in der Vielfalt der Erzählungen das übergeordnete Narrativ aus den Augen zu verlieren.