V. Kaiwar: The Postcolonial Orient

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Title
The Postcolonial Orient. The Politics of Difference and the Project of Provincialising Europe


Author(s)
Kaiwar, Vasant
Published
Chicago 2015: Haymarket Books
Extent
415 S.
Price
€ 129,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Matthias Middell, Universität Leipzig

Vasant Kaiwar ist seit vielen Jahren als erfolgreicher Lecturer an der Duke University tätig und widmet sich postkolonialer Geschichtsschreibung in Theorie und empirischen Untersuchungen. Er gehört seit mehr als 30 Jahren zu den Herausgebern des South Asia Bulletins, das seit 1993 unter dem Namen „Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East“ figuriert und zu den Pionieren einer regionenvergleichenden Untersuchung der Geschichte nach dem Kolonialismus gehört. Der vorliegende Band, dessen Hardcover Version 2014 bei Brill in der Historical Materialism Book Series erschien, ist die Frucht eines intensiven Austausches 2008 an der Pariser Maison des Science de l’Homme mit Sucheta Mazumdar und Thierry Labica sowie eines Forschungsseminars an der EHESS u.a. mit Samir Amin, Daniel Bensaid, Georges Labica, Jean-Jacques Lecercle und Stathis Kouvelakis. Vielleicht bedurfte es dieses Umwegs über die französische Hauptstadt, um die notwendige kritische Distanz zur nordamerikanischen Debatte über den Postkolonialismus einzunehmen, die dieses Buch auszeichnet. Denn darum geht es: In Fortsetzung des mit Mazumdar und Labica herausgegebenen Sammelbandes „From Orientalism to Postcolonialism“1 vertieft er die Unterscheidung zwischen den ersten beiden Generationen postkolonialer Historiografie, die eine „agenda of development and distributive justice“ verfolgten und auf die spezifische politökonomische Situation der sogenannten Dritten Welt und eines „capitalist imperialism“ reagierten, und der jüngeren Entwicklung, in der mehr und mehr Fragen der kulturellen Differenz in den Vordergrund getreten seien.

Die verratene (Erwartung einer) Revolution ist die fundamentale Erfahrung, von der Kaiwar wie viele andere postkoloniale Denker ausgehen, unter denen Dipesh Chakrabarty in seinem wirkmächtigen Aufsatz von 1992 am deutlichsten die Kritik an den kolonialen Herrschaftseliten und ihren lokalen Gegenüber ausgedrückt hat. Die Erwartung, dass die entstehenden middle classes in den politisch unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien eine ähnliche emanzipatorische Rolle spielen würden wie die revolutionäre Bourgeoisie des späten 18. Jahrhunderts in den USA und in Frankreich, wurde ein ums andere Mal enttäuscht und lud zu einer Kritik ein, in der die historische Meistererzählung von der bürgerlichen Revolution als Voraussetzung einer viel weitergehenden demokratischen und sozialen Emanzipation dekonstruiert wurde. Die soziale Differenzierung unter den Bedingungen der zu Ende gehenden Kolonialherrschaft produzierte keine Kraft, die eine breite Koalition der Emanzipationswilligen anführte und einen kompletten Bruch mit den Privilegierungen und Marginalisierungen der Kolonialepoche riskieren wollte. Weil die Eliten der postkolonialen Gesellschaften ihre profitable Position, die sie bereits unter der Dominanz des Kolonialismus erobert hatte, nicht aufgeben wollten, blieben die Subalternen in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Sie waren nun mit der Internalisierung der Meistererzählung von der europäischen Überlegenheit konfrontiert, die sie vordem in den Kolonialschulen kennengelernt hatten. Die kulturelle Hegemonie der nationalistischen Eliten gründete sich auf die Anerkennung eines scheinbar uneinholbaren Vorsprungs des Westens auf dem Weg in die Moderne. Die Konsequenz war eine Einladung zum fatalistischen Ertragen der ungerechten Wohlstandsverteilung und gleichzeitig eine Externalisierung der Schuld für diese Lage, bei der dem kolonialen Erbe alles Elend der Gegenwart zugeschrieben werden konnte. Dagegen erhoben die Subaltern Studies ihre Stimme und diskutierten die strategischen Optionen, um aus dieser verfestigten Hegemonialkonstellation herauszufinden. Zwei Wege schienen besonders erfolgversprechend: Einerseits gelte es den Subalternen eine Stimme zu geben und damit die sozioökonomischen Realitäten in den sogenannten Entwicklungsländern zur Geltung zu bringen. Und andererseits gelte es einen Eurozentrismus zurückzudrängen, der zwar Europas historischen Exzeptionalismus betont, ihn aber zugleich zum Vorbild für jegliche Entwicklung (v)erklärt.

Die Frage, die im Hintergrund von Kaiwars Buch steht ist nun, was passiert, wenn dieses Programm im Westen, das heißt in Westeuropa und in den USA, rezipiert und weiterformuliert wird, wie das seit den späten 1980er-Jahren mehr und mehr der Fall ist.

Der Verfasser bringt das originale postkoloniale Programm in Stellung gegen jenen Postkolonialismus, wie er sich an nordamerikanischen Ivy-League Universitäten entfaltet hat. Er verweist nachdrücklich darauf, dass die politökonomische Analyse dabei sehr weitgehend in den Hintergrund getreten ist zugunsten eines primär kulturalistischen Ansatzes, der sich allein auf das Problem des Eurozentrismus konzentriert und sich dessen leerem Universalismus entgegenstellt. Damit werden Modernen in der sogenannten Dritten Welt nicht mehr allein an einem westlichen Modell gemessen, sondern ihre Alternativität betont: „An insistence on difference is the crux of the project of ‚provincializing‘ Europe.“ (S. X)

So richtig die Kritik an der mangelnden Differenzierungsfähigkeit früherer westlicher sozialwissenschaftlicher Theorien gewesen sei, habe dies eben zum Verschwinden jeder sozioökonomischen Analyse der Lage in der sogenannten Dritten Welt geführt. Dabei will Kaiwar weder einen ökonomischen Determinismus verteidigen noch die mathematischen Modellierungen der Mainstream-Wirtschaftswissenschaften übernehmen, aber das völlige Desinteresse an politischer Ökonomie „in some metropolitan postcolonial circles“ erscheint ihm zugleich als ein Verrat am ursprünglichen Anliegen der Subaltern Studies, der sozialen Lage der Subalternen zu größerer Anerkennung zu verhelfen, während die Idee der zahlreichen Modernen aus seiner Sicht ablenkt von der Tatsache, dass diese Modernen auf einem Globus voller Verflechtungen und unter einem gemeinsamen kapitalistischen Regime existieren: „A critique of the term economism has become shorthand for a critique of any literature that still insists on focusing on the broad range of political-economic concerns having to do with the polarising impact of capitalism on the world scale.“ (S. X)

Dies ist lange vor den Wahlentscheidungen des Jahres 2016 in den USA geschrieben, aber man gewinnt den Eindruck, dass der Verfasser hier antizipiert, wie der Linken über ihrer Konzentration auf Probleme der kulturellen Differenz das Thema einer traditionellen Kapitalismus- und Ungleichheitskritik abhandengekommen ist und dies schließlich von populistischen Bewegungen sehr erfolgreich aufgegriffen wird.

Kaiwars Buch ist eine detaillierte Analyse zum Kulturtransfer postkolonialen Denkens aus seinem (vornehmlich indischen) Herkunftskontext in verschiedene akademische Milieus in den USA. Er geht den Mittlern nach, die in höchst prominenten Positionen nordamerikanischer Spitzenuniversitäten das importierte Programm an den neuen Kontext anpassten und es damit zu einem Element akademischer Hegemonie machten, die sowohl zurück in die sogenannte Dritte Welt als auch nach Europa ausstrahlte und dort wiederum Rezeptionsprozesse auslöste.

Der erste Teil des Buches beschreibt und periodisiert die Ankunft des Postkolonialismus in den USA und bringt sie mit dem Ende des „kurzen 20. Jahrhunderts“, dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der sogenannten Zweiten Welt in Verbindung. Teil 2 schaut auf den Herkunftskontext der Subaltern Studies in Indien und erläutert, wie sich das Programm des Postkolonialismus langsam herausgebildet und im Dialog mit der indischen Gesellschaft konsolidiert hat. Der anschließende Teil erörtert die zwei Schlüsselbegriffe der postcolonial studies (Kolonialismus und Moderne) und situiert sie in einem breiten Strom historiografischer Auseinandersetzung. Darauf folgt unter dem provozierenden Titel „Provincializing Europe or Exoticising India“ eine Auseinandersetzung mit den einflussreichen Aufsätzen von Dipesh Chakrabarty und Ranajit Guha, die dem heutigen „metropolitanen“ Postkolonialismus das Gepräge geben. Hier geht es Kaiwar, ebenso wie im anschließenden Teil über den Gebrauch bzw. Missbrauch Marxscher Texte und Ideen um das Freilegen der inneren Widersprüche im Postkolonialismus. Den Bogen schließt die These, dass der buchtitelgebende postkoloniale Orient nach 1989 zur Arena für Kämpfe um Anerkennung kultureller Differenz geworden sei. Er ist also weniger eine konkrete geografische Einheit, als vielmehr ein imaginierter Raum, in dem um die strategischen Perspektiven der Subalternen gerungen wird.

Das Buch ist notwendigerweise mit Herzblut geschrieben, denn der Verfasser gehört zum gleichen Milieu, das er einer ausführlichen Kritik unterzieht. Mit der Verlagerung des postkolonialen Orients haben sich die Sensibilitäten, die für die USA entscheidend sind, in den Vordergrund geschoben. Der metropolitane Postkolonialismus verhandelt notwendigerweise Problemlagen der Metropole. Hierin liegen sein Interesse und seine Begrenzung. Die Erwartung, Subaltern Studies, die teilweise aus Indien in die USA transportiert wurden, hätten die gleiche Stoßrichtung und die gleichen programmatischen Ziele wie ein Postkolonialismus der 1980er-Jahre in Indien, verkennt die Einsicht der Kulturtransferforschung, dass der Transfer nicht durch den Einfluss eines bestimmten kulturellen Musters motiviert wird, sondern eben durch ein empfundenes und artikuliertes Defizit in der rezipierenden Kultur in Bezug auf eben dieses kulturelle Muster. Im metropolitanen Postkolonialismus wird demzufolge die Neuausrichtung eines Teils (!) der westlichen akademischen Elite auf eine globale Vernetzung mit der ehemaligen Dritten Welt verhandelt. Es geht um die Überwindung des Eurozentrismus aus Sicht derjenigen, die ihn aus einer westlichen Perspektive erlernt und gelehrt haben. In dieser Überwindung spielen indische Intellektuelle eine offenkundig sehr wichtige Rolle, da sie die nötige Übersetzungsleistung zwischen einem Leiden am Eurozentrismus und der Formulierung einer alternativen Epistemologie erbringen können. Hierfür erhalten sie (zu Recht) große akademische Anerkennung.

Kaiwars Polemik zielt nicht auf diese Leistung, die er als wichtigen Schritt durchaus anerkennt. Er artikuliert vielmehr das massive Unbehagen daran, dass der metropolitane Postkolonialismus sich immer weiter von den Erfahrungen, von den Leiden und Verletzungen der Subalternen außerhalb des Westens entfernt hat. Und diese Erfahrungen lassen sich nicht allein intellektuell mit einer verfeinerten Analyse kultureller Differenzen bearbeiten, sondern sie haben mit den gravierenden ökonomischen Ungleichheiten zu tun, die sich ständig in einer scheinbar allein von der unsichtbaren Hand des Marktes getriebenen Weltwirtschaft reproduzieren.

Vasant Kaiwar hat ein wichtiges Buch geschrieben. Seine Unterscheidung zwischen einem metropolitanen und einem Postkolonialismus, der direkt mit den Erfahrungen der Menschen in der sogenannten Dritten Welt verbunden ist und seine Produktionbedingungen „vor Ort“ nicht camoufliert, bildet eine wichtige Differenzierung, die uns hilft zu verstehen, dass bei der globalen Zirkulation des Wissens Argumente in einem geänderten Kontext neue Wirkungen entfalten.

Anmerkung:
1 Sucheta Mazumdar / Vasant Kaiwar / Thierry Labica, From Orientalism to Postcolonialism: Asia, Europe and the Lineages of Difference, Abingdon 2009.

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16.12.2016
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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