Die einstige Inkahauptstadt Cuzco gehörte schon früh im 19. Jahrhundert zu den beliebten Zielen europäischer und amerikanischer Reisender in Peru. Seit Ende der 1830er-Jahre wurden Besucher von der stolzen Besitzerin Ana María Centeno (1817–1874) durch die aus mehr als tausend präkolumbianischen Objekten bestehende Privatsammlung geführt. Dabei trafen sie auf eine lokale Salonkultur und eine Form bürgerlicher Öffentlichkeit, die sich kaum von jener in ihren Herkunftsländern unterschied. Denn die Angehörigen der peruanischen und chilenischen Eliten, die Altertümer sammelten, waren bestens mit Europa und Nordamerika vernetzt. Sie lasen nicht nur die gleichen Publikationen und verfolgten die gleichen archäologischen Debatten, sondern sie partizipierten auch als korrespondierende Mitglieder von Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften und durch eigene Publikationen daran (S. 59–67, 117–126, 165–168, 252f.). Trotzdem wurde die wichtige Rolle lateinamerikanischer, auch indigener Eliten bei der Erforschung der altamerikanischen Kulturen sowie bei der Herausbildung der Andenarchäologie von der Wissenschaftsgeschichte bisher weitgehend übersehen oder marginalisiert. Die meisten Untersuchungen zur Archäologiegeschichte des 19. Jahrhunderts waren bis in die jüngste Zeit eher biographisch oder disziplin- und institutionengeschichtlich ausgerichtet. Erst eine neue kritische, globalhistorisch ausgerichtete Archäologiegeschichte befasst sich nun mit dem Beziehungsgeflecht zwischen archäologischer Wissenschaft, Kolonialismus und (postkolonialem) Nationalismus.1
Die Geschichte des Sammelns hat ebenso wie die Geschichte von Materialität einen enormen Aufschwung erfahren, nicht mehr nur die fürstlichen Kuriositätenkabinette, sondern auch die ethnologischen Sammlungen in den Metropolen sind ins Blickfeld der Historiker/innen geraten.2 Die faszinierende Studie Stefanie Gängers zum antiquarischen Sammeln in Peru und Chile folgt nicht den breit ausgetretenen Spuren, die europäische Südamerikareisende und Forscher in den völkerkundlichen Museen und in der wissenschaftlichen Literatur über präkolumbianische Kulturen hinterlassen haben. Stattdessen begibt sie sich auf Spurensuche vor Ort, wertet die zahlreichen Korrespondenzen, Nachlässe und das lokale Schriftgut aus, um so die Praktiken des Sammelns zu untersuchen. Die Untersuchung fragt nach den ansässigen Sammlern/innen und wie sich diese Amateur/innen und Wissenschaftler die südamerikanische Geschichte der vorspanischen Zeit zu Eigen machten. Am Beispiel von vier Relikten aus der Vergangenheit untersucht Gänger diese Praktiken in ihrer sozialen und materiellen Dimension sowie in ihrer transkontinentalen Reichweite, die Arbeit gliedert sich entsprechend in vier Kapitel: thematisiert werden ein Inka-Stirnband (Kapitel 1), eine Knotenschnur (Kap. 2), der Araucanier Pascual Coña (Kap. 3) und ein mutmaßlicher Inka-Krug (Kap. 4). So geraten andere Zusammenhänge in den Blick als in einer herkömmlichen Archäologiegeschichte: Gesellschaftliches Beisammensein und die dabei geknüpften Verbindungen, das Streben nach sozialem Aufstieg und die Ökonomien der Freundschaft verbanden Sammler/innen und Wissenschaftler über den Atlantik hinweg und präfigurierten dabei oft den weiteren Weg der lokalen Sammlungen in die Museen der Metropolen. Der Staat als Akteur (Peru bzw. Chile) und die Ideologie des Nationalismus waren hierbei bis zum Salpeterkrieg (1879–1884) nur von untergeordneter Bedeutung. Archäologie und Sammlungen wurden privat finanziert und hatten noch wenig mit nationaler Traditionsstiftung zu tun. Das änderte sich mit der Niederlage Perus. Denn nun stritten Experten beider Länder um die Ausdehnung des als peruanisch deklarierten Inkareichs und die kulturelle Beeinflussung der Araucanier (Mapuche). Diese Nationalisierung der Archäologie und des Sammelns in Museen erzählt Gänger am Beispiel eines Kruges, der tief auf chilenischem Territorium gefunden wurde und dessen Ornamente auf Inka-Einflüsse schließen ließen (Kap. 4 „The Valvida Jug: Archeology over the War of the Pacific“, S. 203–250).
Dabei lässt sich die Autorin von der Vorgehensweise der Kulturanthropologie und der Archäologie inspirieren. Gänger geht davon aus, dass Artefakte Bedeutungsträger sind und folgt ihrem Weg durch Raum und Zeit. So werden die sich wandelnden kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedeutungen verfolgt, die diesen Objekten jeweils zukamen. Die Objektbiographien machen deutlich, auf welche Weise die Geschichte der Inka, der spanischen Kolonisation, der lokalen Sammler mit den wissenschaftlichen Zirkeln in Europa und den USA sowie deren Diskursen verbunden waren. Drei der vier Kapitel beginnen mit der Herkunft der Artefakte, ihrer zeitgenössischen Funktion und Bedeutung, bevor sie Teil einer Sammlung wurden, und am Ende berichten sie die Geschichte ihres Verbleibs oder Verlusts. Im ersten Kapitel (S. 28–100) erfahren wir am Beispiel eines Stirnbands der Inka (mascapaycha) von der frühen Sammelleidenschaft der Eliten aus Cuzco, die danach strebten, die verlorene Bedeutung der eigenen Stadt auf diese Weise gegenüber dem neuen Zentrum Lima zu kompensieren. Zugleich erwarben Sammler und Sammlerinnen wie Centano auf diese Weise ein beträchtliches kulturelles Kapital. Das hinderte jedoch ihre Erben später nicht daran, die mühsam aufgebauten Sammlungen bei Geldbedarf an europäische und amerikanische Museen zu veräußern; die Sammlung Centanos gelangte beispielsweise 1888 ins Berliner Völkerkundemuseum.
Die Biographie eines khipu, einer Knotenschnur aus den Anden, im zweiten Kapitel (S. 101–159) verweist auf ähnliche soziale und kulturelle Zusammenhänge und die Bedeutung transatlantischer Netzwerke. Hierbei wird aber auch herausgearbeitet, dass peruanische „Liebhaber“ und Sammler wie José Mariano Macedo aus Lima nicht nur die Entwicklungen der sich in Europa formierenden archäologischen Wissenschaft rezipierten, sondern etwa hinsichtlich der Dokumentation von Herkunft und von stilistischen Unterschieden solche sogar teilweise vorwegnahmen. Gerade Gründerfiguren der Andenarchäologie wie Max Uhle bestritten hingegen den wissenschaftlichen Wert der von „Amateuren“ zusammengetragenen Sammlungen und grenzen sich als „wissenschaftliche Archäologen“ strikt davon ab (S. 158f.). In ihren Sammelpraktiken vor Ort und in ihrem Bestreben entsprechende Sammlungen dem eigenen Museum einzuverleiben, waren solche Unterschiede hingegen weit weniger zu erkennen. Die Narrative der europäischen und amerikanischen Archäologen waren hingegen wissenschaftsgeschichtlich wirksamer, so dass die Forschungsleistungen der gebildeten Eliten in Lima und andernorts, ihre wissenschaftlichen Gesellschaften, ihre aktive Forschung und ihre großartigen Sammlungen lange übersehen wurden. Diese überkommene Sichtweise zu korrigieren, ist eine wesentliche Leistung dieser Untersuchung.
Das dritte der chronologisch und von Nord nach Süd (von Cuzco über Lima nach Chile) angeordneten Kapitel weicht insofern von den anderen ab, weil sie die Biographie eines Auracaniers Pascual Cuño zum Ausgangspunkt wählt. Dieser hatte in den chilenischen Feldzügen gegen die Mapuche überlebt und wurde nun als „Letzter seiner Art“ selbst zu einem archäologischen „Relikt“. Die Frage, ob man angesichts dieser (Selbst-)Inszenierung Cuños auch seiner Bezeichnung als „Relikt“ zustimmen möchte, ist sicherlich diskussionswürdig und mag verschiedene Stellungnahmen herausfordern. Bemerkenswert ist in jedem Fall, wie es ihm und anderen auf Missionsschulen und an Universitäten ausgebildeten Indigenas gelang, zu einer solchen Wahrnehmung beizutragen und diese mitzugestalten. Insgesamt lässt sich bereits vor der Jahrhundertwende beobachten, dass hierbei komplementäre Vorstellungen von Zeitlichkeit den transatlantischen Diskurs über die Inkas und die Araucanier prägten: Während man die Inka-Kultur als eine der europäischen Antike gleichwertige Hochkultur feierte und den Untergang der eben noch um ihre politische Autonomie kämpfenden, als „ursprünglich“ und „wild“ imaginierten Araucanier bedauerte und dabei die Ähnlichkeit mit den präkolumbianischen Vorfahren betonte, nahm man ihre lebenden Nachkommen als vergleichsweise degeneriert und deshalb dem Verfall preisgegeben wahr (S. 175–191). Allerdings gelang es gebildeten Indigenen wie Cuño, diese Situation als soziale Chance zu nutzen, um für sich selbst einen neuen Status in den Gesellschaften Perus und Chiles zu finden (S. 199ff.). Ihre Teilhabe und Mitgestaltung der Diskurse über Inkas und Araucanier unterläuft somit die historiographisch oft noch gängigen Gegenüberstellungen von Indios und Criollos, von Subalternen und Eliten, von primitiv und modern.
In dieser analytisch scharfen und gut geschriebenen Arbeit finden sich noch viele weitere, zum Nachdenken anregende Beobachtungen und Gedanken, die es zu einer sehr lesenswerten Lektüre auch für alle Nicht-Lateinamerikanisten machen, die sich für die Geschichte materieller Kulturen und des Sammelns oder für eine globale Wissensgeschichte interessieren.
Anmerkungen:
1 Beispielsweise: Margarita Díaz-Andreu, A World History of Nineteenth-Century Archaeology: Nationalism, Colonialism, and the Past, Oxford 2007.
2 Zu frühneuzeitlichen Sammlungen u.a.: Dominik Collet, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007; Patrick Nauris, Das Kuriositätenkabinett, Köln 2003. Stellvertretend für die Geschichte des ethnologischen Sammelns: Céline Trautmann (Hrsg.), Quand Berlin pensait les peuples, Paris 2004; Anja Laukötter, Von der „Kultur“ zur „Rasse“ – vom Objekt zum Körper. Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2007; Janneke van Dijk / Susan Legêne, The Netherlands East Indies at the Tropenmuseum Amsterdam, Amsterdam 2011.