Deutschland betrat den Kreis der europäischen Kolonialmächte nicht nur vergleichweise spät, sondern tat sich auch lange Zeit schwer, die Geschichte des Kolonialismus als qualitativ wichtigen und prägenden Teil der eigenen Nationalgeschichte zu begreifen und im Rahmen einer postkolonialen Erinnerungskultur kritisch aufzuarbeiten. Dies hat sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten jedoch glücklicherweise grundlegend geändert. Neuere Herangehensweisen im Gefolge von Susanne Zantops einschlägiger Studie „Colonial Fantasies“ betonen, dass der deutsche Kolonialismus nicht allein durch seine (kurze) Realgeschichte verstanden werden kann, sondern im Rahmen einer vielfältigen und weitaus umfangreicheren Geschichte des kulturellen Imaginären situiert werden muss, die sowohl die Alltagskultur wie die nationalen Identitätsentwürfe prägte.1 Untersuchungen zu kolonialen Werbemotiven, Postkarten, afrodeutschen Kolonialmigranten oder der Entstehung der nationalsozialistischen „Afrika-Schau“ aus der Tradition der Wilhelminischen Völkerschauen haben seitdem unser Verständnis des deutschen Kolonialismus enorm erweitert, indem sie den konstitutiven Einfluss der überseeischen Kolonien auch vor Ort im „Eigenen“ ganz konkret sichtbar werden ließen.2
Nur wenige Untersuchungen haben sich bislang jedoch in dieser Perspektive der deutschen Filmgeschichte angenommen. Assenka Oksiloff verfolgt in ihrem Buch „Picturing the Primitive“ etwa die Wechselwirkungen zwischen der Ethnologie in Deutschland und dem frühen deutschen Kino, und in meiner eigenen Studie „Die unheimliche Maschine“ untersuche ich das Weimarer Kino als Projektionsfläche des kolonialen Revisionismus und rassischer Diskurse.3 Nun liegt endlich Wolfgangs Fuhrmanns Studie „Imperial Projections“ in Buchform vor – ein Meilenstein in der Erforschung des frühen deutschen Kinos wie der deutschen Kolonialkinematografie. Das Buch basiert auf einer 2003 an der Universität Utrecht verteidigten Dissertation. Seitdem hat sich Wolfgang Furhmann, Oberassistent am Filmwissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich, mit einer Reihe von Aufsätzen auch international einen Namen als Historiker transnationaler Filmbeziehungen gemacht. Fuhrmanns wichtige Untersuchung unterhält zwar einen Dialog mit Ansätzen der Postcolonial Studies und der selbstreflexiven, kritischen Anthropologie, doch der eigentliche Fokus liegt anderswo: auf der archivgestützten, empirischen Rekonstruktion des deutschen Kolonialfilms im Kontext neuerer Forschungen zum frühen Kino und der Bedeutung nicht-fiktionaler Formate und der „non-theatrical exhibition“ in den ersten zwei Jahrzehnten der Filmgeschichte. Jeder, der mit der spärlichen Quellenlage zu diesen Themen vertraut ist, ahnt, dass die Forschung, auf die „Imperial Projections“ aufbaut, der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen glich – abgesehen von einigen kurzen Aufsätzen des belgischen Filmhistorikers Guido Convents konnte Fuhrmann auf keinerlei Sekundärliteratur zum Thema zurückgreifen; von den 50–60 Kolonialfilmen, die Fuhrmann im Untersuchungszeitraum identifiziert hat, sind nur die wenigsten erhalten.
Fuhrmann selbst spricht von einem „doppelten Fokus“: zum einen untersucht „Imperial Projections“ das zeitgenössische Verhältnis von Kinematografie und Kolonialismus, etwa die Rolle tagespolitischer Ereignisse für die Produktions- und Aufführungsstrategien (Herero-Rebellion, Reichstagswahlen), die Interaktion von Filmoperateuren und -vorführern, Filmgesellschaften und kolonialen Vereinen und Institutionen (wie der „Deutschen Kolonialgesellschaft“ [DKG] oder dem Reichskolonialamt) oder die Frage, wie der deutsche Kolonialismus repräsentiert und von verschiedenen Publikumssegmenten verstanden wurde. Zum anderen liefert „Imperial Projections“ einen Beitrag zum Verständnis der „Ästhetik der Ansicht“ in frühen nicht-fiktionalen Formaten (wie etwa dem Reisefilm) und der wissenschaftlich nur wenig erschlossenen Geschichte der Distributions- und Vorführungspraktiken im deutschen Kino vor dem Ersten Weltkrieg. Durch diese Einsicht, dass das frühe Kino nicht mit den Mitteln der traditionellen Filmanalyse (die den Film als abgeschlossenen „Text“ begreift) verstanden werden kann, weil Filmaufnahmen nur ein Teil eines umfassenderen, ortsspezifischen Programms waren, stellt sich „Imperial Projections“ in eine medienarchäologische Traditionslinie der „New Film History“. Diese reicht von der als Inaugurationsmoment wichtigen FIAF (Fédération Internationale des Archives du Film)-Konferenz 1978 in Brighton über Tom Gunnings Arbeiten zum „Cinema of Attractions“ bis hin zu Joseph Garncarz’ faszinierender Monografie „Maßlose Unterhaltung“.4
„Imperial Projections“ untersucht sowohl kommerzielle wie nicht-kommerzielle Akteure und Aufführungskontexte und ist in fünf chronologische Teile unterteilt. Teil eins widmet sich dem Wirken des Altenburger Unternehmers, Bierbrauers und Restaurantbesitzers Carl Müller, der zwischen 1904 und 1906 zweimal nach Afrika reiste und dort Film- und Bildaufnahmen anfertigte. Seine Filmaufnahmen dienten jedoch ganz unterschiedlichen Zwecken und wurden in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zur Aufführung gebracht: sie sollten sowohl koloniale Interessenverbände bei der Propagandaarbeit unterstützen wie seine kommerziellen Imperativen folgende Erlebnisgastronomie in Altenburg popularisieren. Teil zwei untersucht die Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) und stellt fest, dass um 1908/09 die Verwendung des Films durch die DKG quantitativ zurückging – nicht weil das Interesse des Publikums an Aufnahmen aus den Kolonien schwand, sondern weil die neu entstandenen kommerziellen Kinos dieses Interesse einfacher befriedigen konnten. Daneben stellt Teil zwei den Amateurfilmer, Forstassistenten und Schutztruppenangehörigen Robert Schumann vor, der seine Filme über den Herero-Aufstand in Namibia 1907 sowohl im Berliner Wintergarten-Varieté wie in den Ortsgruppen der DKG zur Aufführung brachte. Teil drei untersucht den Zusammenhang von Kolonialismus, Ethnologie und Film am Beispiel Karl Weules, neben dem Österreicher Rudolf Pöch einer der wichtigsten Pioniere der „visuellen Anthropologie“ im deutschsprachigen Raum. Fuhrmann verweist dabei sowohl auf den Einfluss der Kinoreform-Bewegung in Diskussionen um die „wissenschaftliche“ Verwendung des Kinematografen wie auf die Nähe zwischen ethnografischen und pornografischen Blick. Teil vier zeigt, wie nach dem Scheitern der DKG-„Kinematografenkampagne“ kommerzielle Anbieter sich der kolonialen Kinematografie annahmen. Neben Filmen, die die ökonomischen, infrastrukturellen und zivilisatorischen „Fortschritte“ des Deutschen Kolonialismus propagandistisch zur Darstellung brachten, standen dabei Reisefilme, die eine „idealized cinematographic geography“ (Janet Lynn Peterson) inszenierten und die technische Mobilität des Kinoblicks feierten. Besonders faszinierend ist hier das Kapital zum „Comeback“ Robert Schumanns, der nach 1913 mit seiner „Deutschen Jagd-Film-Gesellschaft“ Filme über die Großwildjagd in Tansania in die Kinos brachte. Doch nicht alle Zuschauer waren von derartigen Aufnahmen, die das Töten von Tieren in Echtzeit festhielten, gleichermaßen begeistert: Tier- und insbesondere Vogelschützer zeigten sich kritisch; zugleich versuchten sie jedoch selbst, das neue Medium für ihre Propagandazwecke einzuspannen. Der fünfte, letzte Teil konzentriert sich auf die koloniale Filmpropaganda während des ersten Weltkriegs. Fuhrmann diskutiert hier das Schaffen des Großwildjägers Hans Schomburgks, der seine Filmaufnahmen bis in die 1950er-Jahre in immer neuen Formen kompilierte und stellt die „Deutsche Kolonialfilm-Gesellschaft“ (DEUKO) vor, die am Ende des Krieges drei melodramatische Spielfilme über den Krieg in den Kolonien herstellte.
In seinem Modelcharakter kann die Bedeutung von Fuhrmanns Buch für die deutsche Filmgeschichtsschreibung kaum hoch genug angesiedelt werden. „Imperial Projection“ liefert nicht nur die erste, schlüssige Gesamtdarstellung eines vergessenen und verdrängten Kapitel der deutschen Filmgeschichte; das Buch verdeutlicht auch, was eine moderne, methodisch reflektierte und empirisch gestützte Filmhistoriografie zu leisten vermag.
Anmerkungen:
1 Susanne Zantop, Colonial Fantasies: Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770–1870, Durham, NC 1997.
2 David Ciarlo, Advertising Empire: Race and Visual Culture in Imperial Germany, Cambridge, MA 2011; Joachim Zeller, Bilderschule der Herrenmenschen: koloniale Reklamesammelbilder, Berlin 2008; Felix Axster, Koloniales Spektakel in 9×14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich, Bielefeld 2014; Robbie Aitken / Eve Rosenhaft, Black Germany: The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge 2013; Lewerenz Susann: Die Deutsche Afrika-Schau (1935–1940). Rassismus, Kolonialrevisionismus und postkoloniale Auseinandersetzungen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt am Main 2006.
3 Assenka Oksiloff, Picturing the Primitive: Visual Culture, Ethnography, and Early German Cinema, New York 2001; Tobias Nagl, Die unheimliche Maschine: Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009.
4 Joseph Garncarz, Maßlose Unterhaltung: Zur Etablierung des Films in Deutschland 1896–1914, Frankfurt am Main 2010.