C. Schmidt-Rost: Jazz in der DDR

Cover
Title
Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers


Author(s)
Schmidt-Rost, Christian
Series
Jazz under State Socialism 3
Published
Frankfurt am Main 2015: Peter Lang/Frankfurt am Main
Extent
Price
€ 59,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Michael G. Esch, GWZO an der Universität Leipzig

Die Dissertation Schmidt-Rosts untersucht die Entwicklung der Wahrnehmung und Praxis von Jazz in der DDR und Polen. Die Untersuchung zweier Länder ermöglicht es, „nationale Prägungen“ innerhalb des „Sowjetsystems“, wie sie ein von Hans Lemberg 1984 herausgegebener Sammelband thematisierte, im Bereich der Kulturpolitik und hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Regierenden und Regierten herauszuarbeiten, was dem Autor bis zu einem bestimmten Punkt auch sehr gut gelingt. Schmidt-Rost erhebt darüber hinaus den Anspruch, eine transnationale Verflechtungsgeschichte zu schreiben. Eine solche Herangehensweise bietet sich angesichts der jüngeren Erkenntnis an, dass der „Eiserne Vorhang“ äußerst durchlässig war. Bei diesem speziellen Thema gilt dies in besonderem Maße: Immerhin handelt es sich um eine immer wieder neu mit Bedeutung aufgeladene Musikform, die in den USA entstand und von dort aus über Westeuropa in die Länder des Staatssozialismus gelangte. Konsequent teilt der Autor seine Darstellung in drei Teile: Zunächst untersucht er, auf welche Weise und durch wen Jazz über die Blockgrenze in die untersuchten Länder gelangte. Als nächstes fragt er nach Aneignungsprozessen auf zwei Ebenen: Bei Musikern, die zunächst amerikanische Spielweise zu imitieren versuchten und schließlich eigenständige Elemente und Praktiken entwickelten, und ihren Fans sowie bei den Verwertern, also den Veranstaltern und staatlichen Kulturbürokratien, die zwischen Förderung, Verbot/Vermeidung, Zulassung, Nutzung lavierten.

Schmidt-Rost argumentiert, Jazz sei zunächst als antifaschistische Musik auch im Verwaltungsbereich der Roten Armee gefördert worden, bis er im beginnenden Kalten Krieg als Musik des imperialistischen, dekadenten Hauptgegners USA zunächst unerwünscht, dann sogar verboten gewesen sei. Nach einer gewissen Lockerung der Haltung der Kulturbürokratien ab 1953 sei es in der DDR 1956 zu einer erneuten Verhärtung gekommen, nachdem zwei zentrale Förderer des Jazz, Rudorf und Lukasz, im Jahre durch politische Äußerungen Jazz und seine Liebhaber insgesamt politisch verdächtig hätten werden lassen. Eine Anerkennung von Jazz als legitimer musikalischer Praxis sei daher erst Anfang der 1970er-Jahre in Form des Free Jazz erfolgt. In Polen dagegen sei nach einem ersten offiziellen Jazzfestival in Sopot 1956 Jazz nicht nur geduldet, sondern sogar als polnischer Qualitätsexportartikel und Devisenquelle staatlicherseits gefördert und als „Ventil für gesellschaftliche Spannungen“ (S. 122f.) genutzt worden. Der Autor schreibt eine Geschichte der Durchsetzung von Jazz durch freiheitsliebende, individualistische Einzelakteure gegen zunächst aufgeschlossene, dann bornierte oder überpädagogisierende und schließlich ausbeuterische Kulturbürokratien: Jazz, dessen Wert als kulturelles Gut an und für sich er für gegeben hält, konnte sich als Ausdruck von Freiheit, Emotion und Kreativität durchsetzen, weil geschickte Einzelpersonen Spielräume zu nutzen und Freiräume aufzumachen verstanden. Dazu gehörte eine transnationale Vernetzung, die wiederum dazu beitrug, Jazz zu einer universellen Sprache zu machen und in diesem Sinne bis in das Mutterland des Jazz zurückwirkte.

Die Arbeit ist reich an Details und Einsichten, die geeignet wären, einige Mythen der wissenschaftlichen und autobiographischen Literatur auszuhebeln. Dazu gehört sicherlich die von Teilen der Forschung und einigen damaligen Akteuren betriebene Stilisierung der Jazzer zu Widerständigen, die die Musik der Freiheit gegen kommunistische Repressivität setzten: Schmidt-Rost zeigt zum einen sehr deutlich, dass die meisten Akteure unpolitisch waren. Er zeigt zum anderen, dass die Ablehnung der Regierungen gegen den Jazz kein Ausdruck einer systematischen Politik war: Selbst in der DDR, wo es die Jazzer zu bestimmten Zeiten schwer hatten, ihrer Leidenschaft nachzugehen, gingen Maßnahmen gegen Konzerte, Plattenvorträge und dergleichen immer von einzelnen Funktionären ausgingen. Da Schmidt-Rost von einem prinzipiell monolithischen Herrschaftsblock ausgeht, kann er sich dies nur als Unsicherheit und Inkonsequenz erklären, nicht als Strukturmerkmal des östlichen Regimes.

Eine der größeren Schwächen dieser insgesamt lesenswerten Arbeit besteht daher auch darin, dass sich der Autor zwar um Nüchternheit und Objektivität bemüht, gleichwohl aber schon in den Begrifflichkeiten Frontstellungen des Kalten Krieges fortführt: Bei den westlichen Staaten ist von „Regierungen“ die Rede, bei den östlichen von „Regimes“ und „Herrschenden“. Schmidt-Rost weiß um die politische Bedeutung, die der Rundfunk für die innenpolitische Formierung und die Detabilisierung des Gegners in West und Ost hatte (S. 25), sieht aber nur das östliche Radio als „Transmissionsriemen“ für die herrschende Ideologie, während das westliche Radio bloß den „Klang der Freiheit“ verbreitet habe (S. 28). Es gehört zu dieser Epistemologie und zu seiner mangelnden Kenntnis des Jazz, dass er betont, Jazz sei als amerikanisch-imperialistische Dekadenz abgelehnt worden. Tatsächlich verhielt es sich etwas anders: Ähnlich wie die westdeutsche Kulturkritik, aber auch die amerikanische Jazzkritik, unterschied die DDR-Musikwissenschaft zwischen „authentischen“, kommerzialisierten und dekadent-artifiziellen Musikstilen. Gefährlich war der Jazz – in West wie Ost – vor allem als musikalische Untermalung der sittlichen Gefährdung der Jugend, als Ausdruck ungezähmter Wildheit und anscheinend ungezügelter Sexualität: Clara Zetkin meinte in der SED-internen Debatte über Jazztanz, sie habe derlei seinerzeit im Bett gemacht.1

Auch der Autor deutet diesen Nexus zumindest für Polen an, leuchtet ihn aber nicht aus: „Ausschreitungen“ in Sopot führten dazu, dass der legitime Konsum der Konzerte auf Studierende beschränkt wurde, von denen ekstatische Ausbrüche (damals) nicht zu erwarten waren. Die in der VR Polen geübten und geförderten Spielweisen setzten diese Domestizierung musikalisch fort: Das Komeda-Quintett spielte ab den späten 1950er-Jahren einen Jazz, in dem der praktisch vollständig entsexualisierte hochartifizielle Cool Jazz eines Dave Brubeck mit Versatzstücken aus der europäischen und insbesondere polnischen Klassik und Romantik vermengt wurden. Schmidt-Rost übersieht zudem, dass auch diese Entwicklung in Polen und der DDR zwar ungleichzeitig, strukturell aber parallel verlief: Der Anerkennung des Free Jazz, die der Autor auf die frühen 1970er-Jahre datiert, gingen bei Akteuren wie dem von ihm zitierten Ernst Ludwig Petrowsky seit 1964 Plattenveröffentlichungen voraus, die an Cool und Modal Jazz orientiert waren.2 Wichtig ist dies aus mehreren Gründen: Zum einen zeigt sich die von Schmidt-Rost konstatierte Aneignung und Neuerfindung des Jazz hier im musikalischen Material auch der sehr kleinen DDR-Szene. Zum anderen aber – und dies bleibt unberücksichtigt – erfolgte die Akzeptanz von Jazz genau da, wo er sich nicht mehr als ekstatische Massenmusik darstellte, sondern als Minderheitenmusik mit einem transnational postulierten und akzeptierten Kunstwillen. Dabei sieht der Autor sehr klar, dass die Aneignung und Förderung des Jazz in der VR Polen die Zugehörigkeit zu Europa und den Willen zur Modernität zum Ausdruck brachte. In der DDR wurde genau dieser aber überschattet: Durch die Prekarität der staatlichen Existenz angesichts eines weiteren deutschen Staates, durch die Offenheit der Grenze bis 1961, durch den letztlich nationalistischen, auch in der BRD feststellbaren Drang zur Abwehr unerwünschter äußerer Einflüsse, die die Wiederherstellung einer akzeptablen nationalen Identität nachhaltig stören könnten.

Es wäre reizvoll gewesen, die Frage, die die Arbeit stellt, umzukehren: Warum gab es eigentlich (und von wem?) den Wunsch, aus den USA (und später Großbritannien) stammende Musikstile in den realsozialistischen Ländern zu rezipieren? Auch Schmidt-Rost beschränkt sich in aller Regel auf den Hinweis, Jazz, Blues und Rock seien als „Musik der Freiheit“ von den Fans als Gegengift zur unerträglichen kommunistischen Repressivität aufgesogen worden. Implizit bedeutet die schrittweise Übernahme solcher Musikstile in der staatlicherseits regulierten Musikproduktion damit einen kulturellen Sieg einem emotional, ideologisch und letztlich auch musikalisch überlegenen Konzept. Damit wird aber übersehen, dass die Rezeption dieser Musikstile auch in den „freien“ westlichen Gesellschaften in hohem Maße unerwünscht, von vielen ProtagonistInnen als Ausdruck von Nonkonformität oder gar von Opposition und/oder Widerstand aufgefasst und von Musikern, Kritikern und Veranstaltern als kulturelles Gut erst durchgesetzt wurde.3 Dass letzteres gelang, ist kein Nachweis objektiver Qualität des beworbenen Produkts, sondern Ergebnis einer diskursiven Vermittlung.

Nimmt man diese Einsicht ernst, dann war die Entwicklung hin zu einer Anerkennung von Jazz alles andere als zwangsläufig. Anerkennung, Kommerzialisierung und Integration des Jazz in die Hochkultur waren auf der einen Seite – dies zeigt Schmidt-Rost recht überzeugend – das Werk interessierter, hoch engagierter, transnational agierender Akteure. Sie waren auf der anderen Seite – hier bleibt die Studie etwas dünn – Ausdruck einer spezifischen, den Jazz mit teilweise sich widersprechenden Bedeutungen aufladenden Entwicklung. Diese war Teil der in jüngerer Zeit thematisierten Cold War Cultures ebenso wie einer Kulturrevolution einschrieb, die in Ost und West unter anderen Bedingungen, aber aus ähnlichen Gründen und letztlich (wenn auch ungleichzeitig) in ähnlichen Formen verlief. Keinesfalls handelte es sich um ein zunehmendes Nachgeben der östlichen Regimes gegenüber der Überlegenheit westlicher Freiheitsmodelle. Vielmehr wurden beide gesellschaftlichen Systeme in Prozessen transformiert, die durch die Existenz des ideologischen Gegenübers angetrieben wurden.4 Dieser Wandel reagierte zudem auf einen Wunsch nach „Authentizität“ und Ekstase, der in allen modernen Gesellschaften in je spezifischer, soziokulturell kontingenter Weise von meist jungen Menschen artikuliert wurde und ähnliche soziokulturelle Ursachen hatte, auf den unterschiedliche Regimes aber in unterschiedlicher Weise reagierten. Dieser Prozess ließe sich – so viel macht Schmidt-Rosts Studie deutlich – besonders gut an Musikformen wie dem Jazz und den an sie anschließenden Subkulturen, ihren sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen und Wirkungen aufzeigen. Eine konsequent blockübergreifende Betrachtung würde dann nicht mehr übersehen, dass Musiken, die im Osten Ausdruck des Wunsches nach amerikanischem oder westlichem Lebensstil gewesen sein sollen, im Westen von den Protagonisten gerade als Ausdrucksformen von Protest oder Widerstand genau gegen diesen Lebensstil eingesetzt wurden.5 Und schließlich ließe sich so das Problem lösen, dass Schmidt-Rost im Grunde keine Antwort auf die Frage geben kann, was genau am Umgang des östlichen Regimes mit Jazz spezifisch war, weil eben der Vergleich mit dem westlichen Regime fehlt.

Die Arbeit Schmidt-Rosts deutet die historische Relevanz eines solchen Themas weit über anekdotisches Interesse hinaus an. Die Andeutungen paralleler Entwicklungen, die sich in seiner Studie finden, zeigen aber vor allem, dass zum tatsächlichen Verständnis der Entwicklung und gesellschaftlichen Bedeutung von Kulturpolitik eine systematische blockübergreifende Kontextualisierung und ein vollständig transnationaler Zugang erforderlich wären. Die Geschichte des Jazz, seiner Formensprache, Praxis und Rezeption wäre nicht mehr bloß Reservoir für antitotalitäre Bildungsarbeit (S. 247f.), sondern eine Möglichkeit zur kritischen Untersuchung der beiden politisch-kulturellen Systeme und ihrer soziokulturellen Implikationen im Vergleich und in ihrer Verflechtung. Das Beispiel des Jazz und der ihm nachfolgenden widerborstigen populären Musikformen hätte insofern besonderen Reiz, als wir es mit einer Zeit zu tun hatten, in der Musik als Identitätsmarker, Ausdrucksmittel und Politikum größere Bedeutung hatte als jemals zuvor oder danach.

Anmerkungen:
1 Uta G. Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000, S. 158. Vgl. auch Grace Elizabeth Hale, A Nation of Outsiders. How the White Middle Class Fell in Love with Rebellion in Postwar America, New York 2011.
2 Z.B. Dorothy Ellison & Manfred Ludwig-Sextett: Jazz mit Dorothy Ellison und dem Manfred Ludwig-Sextett, Amiga 850047, 1964.
3 John Gennari, Blowin' Hot and Cool. Jazz and its Critics, Cambridge (Mass.) 2006.
4 So nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998; ders., Ungewöhnliche Menschen. Über Widerstand, Rebellion und Jazz, München 2001.
5 Vgl. hierzu am Beispiel avantgardistischer Rockmusik in der ČSSR meinen Aufsatz: Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse: Plastic People, Velvet Underground und das Verhältnis zwischen westlicher und östlicher Dissidenz 1965-1978, in: Beata Hock (Hrsg.), Doing Culture under State-Socialism: Actors, Events, and Interconnections (= Comparativ 4/2014), S. 39-57.

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02.12.2016
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