Diese voluminöse Publikation, herausgegeben vom einschlägig ausgewiesenen Osnabrücker Historiker Jochen Oltmer (Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, IMIS), ist ein Indiz nicht nur für die Ausdifferenzierung heutiger Migrationsforschung, sondern ebenso für deren gesteigerte öffentliche Relevanz in einem neuen, vollends globalisierten „Jahrhundert der Flüchtlinge“. Im Gegensatz zu Begriffen wie „Völkerbewegung“, mit denen ältere Forschergenerationen diese Problematik zu beschreiben versuchten, dominiert inzwischen der Terminus „Migration“, also „Wanderung“.
Im Fokus des Handbuchs steht nicht Migration an sich, sondern deren Verhältnis zum Staat: „Staaten ermöglichen, beschränken, verhindern Migration“, so Oltmer (S. VII). Das ist richtig – und doch wäre zu fragen, wie diese methodische Staatszentrierung mit den vielen Migrationen umgeht, die von Staatszusammenbrüchen oder Staatsversagen geprägt sind. Schon das Vorwort macht aber deutlich, dass die Staatszentrierung methodisch durch eine andere Grundannahme relativiert wird – durch „das Agieren“ der Migranten selbst (S. VII). Man wundert sich, dass in dieser Polarität zwischen Migranten und Staaten die Vielfalt innerhalb der aufnehmenden Gesellschaften gar keine Rolle spielt. Und auch die „Handlungsmacht“ der Migranten scheint in der Folge lediglich in jenen Beiträgen, die Oltmer selbst verfasst hat, als analytische Kategorie wieder aufzutauchen.
Das Handbuch weist neben einer längeren Einleitung des Herausgebers 29 Beiträge auf, die in sieben „Teilen“ zusammengefasst werden. Diese Kapitel verbinden eine chronologische Anordnung mit einer Entwicklungstypologie von Staatlichkeit seit dem 17. Jahrhundert. Der Fokus liegt auf Deutschland, aber auch europäische Vernetzungen kommen vor; vermisst wird allerdings ein Beitrag zum Thema Staatlichkeit, Supra-Staatlichkeit (Europäische Union, Vereinte Nationen) und Globalisierung.
In seiner Einleitung definiert Oltmer Migration als räumliche Mobilität von Menschen, die „weitreichende Konsequenzen“ sowohl für die Lebensverläufe der Migranten als auch für die „Veränderungen sozialer Institutionen“ besitze (S. 7). Seine Unterscheidung, bei großräumigen Migrationen erfolge in der Regel ein Wechsel des Rechtsverbandes, was bei Binnenmigrationen nicht der Fall sei (ebd.), überzeugt nur bedingt: Das von Oltmer gewählte Beispiel der transatlantischen Migrationen des 19. Jahrhunderts trifft mit Blick auf die USA und lateinamerikanische Republiken zu, wäre jedoch zu ergänzen durch ähnlich weitreichende Migrationen innerhalb eines Imperiums, bei denen eben kein (völliger) Wechsel des Rechtsverbandes erfolgte.1
Oltmer fasst die Formenvielfalt von Migration tabellarisch zusammen (S. 11f.). Ein Problem dieser Typologie – und damit auch des Blicks heutiger Migrationsforschung auf die darin erfassten Phänomene – ist die bloße Aneinanderreihung ohne jede Gewichtung. Dass die Kategorie „Zwangs- bzw. Gewaltmigration“, die das 20. Jahrhundert mindestens so nachhaltig prägte wie „Arbeitsmigration“ oder „Wohlstandsmigration“, keine andere Gewichtung erhält als „Dienstmädchen- / Hausarbeiterinnenwanderung“ oder „Nomadismus“, ist sachlich schwer zu rechtfertigen. Immerhin wird deutlich, dass die „Handlungsmacht des Einzelnen zur Umsetzung eines Migrationsprojekts“ (S. 17) bei Zwangsmigrationen extrem eingeschränkt war – im Gegensatz zu Wohlstandsmigrationen (S. 17f.). Auch der Kriegs- oder Bürgerkriegskontext vieler Zwangsmigrationen wird zu Recht benannt (S. 18) und markiert eine entscheidende Differenz zu anderen Formen von Migration, was insbesondere mit Blick auf spezifische Opfer-Erfahrungen sehr ernstgenommen werden sollte. Dass neben Kriegen vor allem „Maßnahmen autoritärer Systeme“ für Zwangsmigrationen verantwortlich seien (S. 18), ist leider nur die halbe Wahrheit: Die schlimmsten Täter-Staaten – diejenigen Hitlers und Stalins – waren totalitär, nicht autoritär, und funktionierende Demokratien verursachten und verursachen mitunter ebenfalls Zwangsmigrationen: von den USA im 19. Jahrhundert über die USA und Großbritannien 1945 bis hin zu Israel. Treffend hingegen werden Migrationsfolgen der Kolonisation und Dekolonisation in den größeren Kontext von Fluchtbewegungen und Vertreibungen eingeordnet (S. 19).
Grundlegend sind Oltmers Darlegungen zu staatlichen Migrationsregimes (S. 20f.) und zu „Migration als Ergebnis von Aushandlungsprozessen“ (S. 23). Allerdings wäre die Polarität zwischen institutionellen und „individuellen“ Akteuren durch den Hinweis auf die an anderer Stelle erwähnten, hier aber nicht einbezogenen Migranten-Netzwerke (S. 13f.) zu ergänzen, denn die „Handlungsmacht (Agency)“ (S. 20) von Migranten ist keineswegs nur individualisiert.
Wenn die einzelnen Epochen von Staatlichkeit am deutschen Fallbeispiel durchdekliniert werden, kommt bei Oltmer das Kaiserreich allzu schlecht weg. Die Behauptung, dass die polnische Minderheit zwar nicht an Binnenmigration gehindert, aber primär als „reichsfeindlich“ eingestuft worden und daher „informellen Integrationsbarrieren“ ausgesetzt gewesen sei (S. 31), vermittelt ein schiefes Bild: Die Kategorisierung der Polen als „Reichsfeinde“ wurde von preußisch-protestantischen Konservativen und „Alldeutschen“ getragen, auch von Bismarck und einem Teil der preußischen Bürokratie, aber keinesfalls von der gesamten deutschen Öffentlichkeit und auch nicht von der Mehrheit im Reichstag. „Informelle Integrationsbarrieren“ behinderten den polnischen Adel am Berliner Hofe ebensowenig wie die Binnenmigration und Arbeitsaufnahme polnischer Arbeiter im Ruhrgebiet, die sich freilich in polnischen Vereinen häufig selbst abgrenzten, um ihre kulturelle Assimilation zu bremsen. Diese der Integrationsforschung geläufige Kategorie migrantischer Selbstabgrenzung (Segregation) wird im gesamten Handbuch – mit Ausnahme des Beitrags von Alexander Schunka (S. 122) – nicht systematisch reflektiert.2 Dass die relative Polenfeindlichkeit der preußischen Regierung in Ausweisungspolitik gegen polnische und jüdische Zuwanderer mit fremder Staatsangehörigkeit mündete, ist richtig, doch von einer „systematischen Integrationsblockade“ (S. 31) wird kaum gesprochen werden können, wenn man den zeitlich und regional begrenzten Charakter dieser Massenausweisungen in Rechnung stellt. Erst recht nicht empirisch gestützt und zudem unglücklich ausgedrückt ist Christiane Reineckes Behauptung von „in Teilen quasi-kolonialen Verhältnisse[n] in den ostpreußischen Provinzen“ (S. 345), womit die polnisch dominierten Ostprovinzen Preußens gemeint sein dürften.
Vollends falsch liegt wiederum Oltmer mit seiner schwarzen Legende vom Ersten Weltkrieg, denn das von ihm präsentierte „Ergebnis des übersteigerten imperialen Machtstrebens der europäischen Staaten – und insbesondere Deutschlands“ lässt für einige andere Staaten, nicht aber im Falle des kriegführenden Kaiserreichs umstandslos die Diagnose zu, der Weltkrieg habe „mit seinem extremen Nationalismus die Fremdenfeindlichkeit“ gesteigert „sowie die Ausgrenzung und zum Teil auch die staatlich betriebene […] Austreibung von Minderheiten“ bewirkt (S. 32). Die entscheidenden ethnischen „Säuberungen“ gingen damals vom Osmanischen und vom Russischen Reich aus, während sich Deutschland im Falle des Genozids an den Armeniern feige, aber ambivalent verhielt und bei seinen eigenen „Säuberungs“-Plänen über Planspiele erfreulicherweise nicht hinausgelangte. Vor diesem widersprüchlichen, aber eben nicht extremen Hintergrund sah sich die polenfeindliche Politik in Preußen zwischen 1914 und 1918 durch eine polenfreundliche Bündnispolitik des Reiches ausgebremst3, und die ostjüdische Zuwanderung nach Deutschland nahm nicht nur erheblich zu, sondern wurde auch durch eine gelockerte Einbürgerungspolitik begleitet, sodass im europäischen Vergleich der Wechsel der Staatsbürgerschaft ausgerechnet im kriegführenden Kaiserreich als „am wenigsten problematisch“ erscheint.4 Andreas Fahrmeir formuliert denn auch in seinem Handbuch-Beitrag zum Kaiserreich im Gegensatz zu Oltmer: „Es wäre gänzlich unrichtig, das Deutsche Reich einer pauschalen Abwehrpolitik gegenüber Ausländern zu bezichtigen, die über kontinentaleuropäische Normen hinausgegangen wäre.“ (S. 339)
Die vielfach wertvollen Beobachtungen diverser Einzelbeiträge können hier nicht angemessen gewürdigt werden. Hinzuweisen ist etwa auf die von Karl Härter konstatierte Schubwirkung der napoleonischen Kriege um 1800 sowohl für die Zunahme der Zahl von Migranten und der Arten von Migration (erstmals kamen politische Flüchtlinge in großer Dimension ins Spiel) als auch für die Durchschlagskraft staatlicher Migrationssteuerung mittels Bündelung und Zentralisierung von Staatlichkeit (S. 85). Alexander Schunka rechnet mit guten Gründen konfessionell motivierte Migrationen überwiegend zur Kategorie der Zwangsmigration (S. 127). Andreas Fahrmeir verweist auf den Einfluss der Französischen Revolution für die Etablierung eines rigiden, zentralisierten Systems der Migrationskontrolle durch Pass- und Visumzwang (S. 224). In den 1860er-Jahren erfasste ein west- und mitteleuropäischer Trend zur Lockerung des Pass-Systems auch Preußen und andere deutsche Staaten (S. 242). Nunmehr wurde für einige Jahrzehnte – wie Bettina Hitzer zeigt – Freizügigkeit zur maßgeblichen migrationspolitischen Parole in den expandierenden Industriegesellschaften. Uwe Plaß befasst sich mit der transatlantischen Migrationsbewegung, an der zwischen 1816 und 1914 nicht weniger als sechs Millionen deutsche Auswanderer teil hatten – primär aus ökonomischen Gründen, weniger wegen politischer Verfolgung oder religiöser Diskriminierung (S. 292f.). Für die Zeit nach 1918 wendet sich Herausgeber Oltmer in etlichen eigenen Beiträgen unterbelichteten Themen wie der Rückführung von Kriegsgefangenen aus Deutschland und der Flüchtlingspolitik der Weimarer Republik zu. Außerdem behandelt er die Zuwanderung von Deutschen aus nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gebieten – eine Zuwanderung, deren Dimension er auf „rund 1 Million“ schätzt (S. 463), was etwas zu niedrig gegriffen sein dürfte.5 Ärgerlicher ist, wenn Oltmer die von rigider französischer Zwangsausweisung betroffenen 160.000 Deutschen aus Elsass-Lothringen als „Abwanderer“ oder „Migranten“ bezeichnet (S. 464f.), denn diese Termini verharmlosen die einzige ethnische „Säuberung“ in Westeuropa nach dem Ersten Weltkrieg.
Zur Weimarer Republik und zum NS-Staat gibt das Handbuch Einblicke in bekannte und weniger bekannte Themenfelder. Beim Aufsatz von Detlef Schmiechen-Ackermann über „Rassismus, politische Verfolgung und Migration […] aus dem nationalsozialistischen Deutschland“ fragt man sich allerdings, was Behindertenmorde, Homosexuellenverfolgung und andere „sozialbiologisch begründete Exklusionen“ (S. 627) mit dem Kernthema Migration zu tun haben.
Für die zweite Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts gibt es solide Beiträge etwa zur überseeischen Auswanderung oder zu deutsch-deutschen staatlichen Regulierungsversuchen von Migrationen zwischen 1945 und 1989. Wenn K. Erik Franzen – eigentlich ein Kenner der Materie – die Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung von mindestens 12 Millionen Deutschen nach 1945 unter dem Etikett „Migration als Kriegsfolge“ (S. 721) kategorisiert, klingt dies allzu euphemistisch. Sachgerechter und präziser wäre die Rede von einer „ethnischen ‚Säuberung‘ als Kriegsfolge“.
Themen wie Arbeitskräfte-Anwerbung oder Aussiedler-Immigration in der Bundesrepublik sowie Asyl- und Flüchtlingspolitik beider deutscher Staaten werden kenntnisreich geschildert, auch wenn Jannis Panagiotidis seine sonst gelungene Studie zuweilen durch überzogene Urteile über unliebsame Akteure etwas schmälert (so charakterisiert er den Präsidenten des Bundes der Vertriebenen der Jahre 1970 bis 1994, den CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Herbert Czaja, mit der kontaminierten LTI-Vokabel „fanatisch“, S. 928). Am Ende stehen Schilderungen des EU-Weges nach Schengen und eine Skizze über „künftige Herausforderungen der Migrationspolitik im Ost-West-Kontext“ (S. 1017), bei der die aktuelle Spaltung der Europäischen Union infolge der jüngsten Flüchtlings- und Migrationsereignisse wohl noch nicht zu antizipieren war.
Fazit: Wie jedes gute Handbuch – und ein solches liegt in diesem Falle vor – versammelt das von Jochen Oltmer edierte Werk unverzichtbare Informationen zum Thema. Was weniger befriedigt, ist das migrationshistorische Paradigma des Herausgebers, dessen Typologie additiv bleibt und nicht hinreichend gewichtet. Besonders der Umgang mit dem im 19. und 20. Jahrhundert immer relevanter gewordenen Phänomen der Zwangsmigration erscheint unangemessen – deren wiederholte terminologische Fehldiagnose als „Abwanderung“ oder „Migration“ ist nicht nur ärgerlich verharmlosend, sondern auch zu unspezifisch.
Zu erhoffen wäre auf Basis dieses Handbuchs eine weitere Debatte über unterschiedliche Typen von Staatlichkeit in ihren Auswirkungen auf Migrationsregimes und Migrationsformen. Der (leider unterbliebene) Versuch einer Zusammenfassung der übergreifenden Erkenntnisse dieses Bandes hätte hierzu beitragen können. Doch auch Denkanstöße von dritter Seite zum Zusammenhang zwischen Sozialem Staat und Totalem Staat oder zu „Krise oder Transformation“ von Staatlichkeit im Europa der Gegenwart könnten aufgegriffen werden.6 Nicht zuletzt würden Anregungen der Zwangsmigrationsforschung, etwa über den Zusammenhang zwischen inklusiver Wohlfahrtsstaatlichkeit und ethnisch „säubernder“ Staatlichkeit, diese Diskussion womöglich befruchten.7
Anmerkungen:
1 Vgl. Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, insb. S. 31–97; Benno Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Göttingen 2010.
2 Vgl. die Typologie von Integration, Assimilation, Segregation und Marginalisierung bei Haci-Halil Uslucan, Dabei und doch nicht mittendrin. Die Integration türkischstämmiger Zuwanderer, Berlin 2011, S. 33.
3 Michael Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, insb. S. 158–178.
4 Andreas Fahrmeir, Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven 2007, S. 121.
5 Eugene Kulischer nannte 1948 eine Gesamtzahl von 1,38 Millionen; vgl. Schwartz, Ethnische „Säuberungen“, S. 322.
6 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.
7 Norman Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 17f.